Wirtschaft
anders denken.

Das verdrängte Thema: Europa

23.09.2017
Walentin Alexandrowitsch Serow / gemeinfreiDer Raub der Europa

Wenn man sich den deutschen Wahlkampf der letzten Wochen anschaut, dann fällt vor allem eines auf – worüber kaum gesprochen wurde: über Europa. Ein solidarischer Ausweg aus der Krise müsste aber in Berlin beginnen. Deshalb blicken Linke in der ganzen EU mit Spannung auf die Wahlen.

Da verliert die EU mit Großbritannien ein großes Mitglied; da schwelt im Hintergrund eine tiefe Krise weiter, die Europa spaltet und rechtsradikalen Parteien zum Aufstieg verhilft; da werden große Reden über nötige EU-Reformen gehalten. Und all das spielt im deutschen Wahlkampf kaum eine Rolle.

Sicher: Es mangelt bei den Regierungsparteien nicht an wohlfeilen Predigten, wie »pro-europäisch« man doch selbst sei. Was aber heißt das, hier im Herzen der Bestie? Was wären denn die richtigen Konsequenzen für die Politik in Berlin, wo bisher deutsche Hegemoniestreben dominiert und die neoliberale EU-Krisenpolitik gelenkt wurde? Ein »europäischer Wahlkampf« wäre einer gegen Angela Merkel gewesen. Ein solcher Wahlkampf hätte auch die Chancen einer Mitte-Links-Koalition aus Linkspartei, Grünen und SPD erhöhen können – und damit die Chancen für einen Kurswechsel in Europa verstärkt.

Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern, ein Ende des ökonomisch gescheiterten und sozial verheerenden Austeritätskurses, mehr Demokratie auf EU-Ebene und ein solidarisches Willkommen für die Flüchtlinge, statt mehr Abschottung und noch mehr Tote im Mittelmeer – das wären Themen gewesen, die auch einem deutschen Wahlkampf gut zu Gesicht gestanden hätten.

Europa und die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte

Nun kann man sagen, teilweise standen Europathemen ja durchaus zur Diskussion – etwa mit der Forderung nach höhere Löhnen, erhoben von der Linkspartei nicht zuletzt auch mit Blick auf die hohen Leistungsbilanzüberschüsse. Der frühere SPD-Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck hat diese jetzt »absolut unhaltbar« genannt, und daran erinnert, dass inzwischen »auch konservative Institutionen wie die Deutsche Bundesbank oder der Internationale Währungsfonds fordern, in Deutschland die Löhne stärker zu erhöhen, um einen Ausgleich gegenüber den Partnern zu schaffen«.

Der Ökonom Till van Treeck hat in OXI einmal von einem »Konsens in der internationalen Makroökonomie« gesprochen: »Die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Staaten innerhalb und außerhalb der Eurozone sind ein Hauptgrund für die seit Jahren anhaltende Krise.« Und man erinnert sich: Im Frühjahr war Wahlkampf in Frankreich, und nach dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA war das Thema der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse ja auch auf der öffentlichen Agenda. Für die SPD ist ein langjähriger Europapolitiker angetreten, Martin Schulz, der das Thema unter anderem in einer Rede von 2013 angesprochen hatte: »Das muss in Angriff genommen werden.« Nun im Wahlkampf aber?

Italiens Linke und Podemos werben für die Linkspartei

Inzwischen haben sich auch europäische Linke zu den Wahlen hierzulande zu Wort gemeldet. Flügelübergreifend appellierten italienische Linke dieser Tage dafür, am Sonntag die Linkspartei zu wählen – aus europäischen Gründen. Und das hat wiederum etwas mit einem ökonomischen Verständnis der Zusammenhänge in der EU zu tun, die zwar einen Währungsraum hat, aber keine soziale oder Lohn-Union ist. Leider, heißt es in dem Aufruf aus Italien, habe »Deutschland in den letzten Jahren seinen politischen Einfluss zugunsten einer Austeritätspolitik ausgeübt. Diese hat zu einer maßlos großen Ungleichheit geführt und den Sozialstaat in den EU-Ländern zerstört«, so formulieren die Unterzeichner des Aufrufs ihre Sorgen um den europäischen Integrationsprozess.

Vorreiter einer »ultraliberalen Wirtschaftspolitik« sei dabei die Bundesregierung gewesen, die diese »der gesamten Eurozone aufgezwungen haben«. Dafür seien auch jene Parteien mitverantwortlich, die wie die »SPD in den letzten Jahren Merkels Regierung unterstützt haben und faktisch gezeigt haben, dass sie deren Wirtschaftsrezept und sogar deren politische Mentalität teilen«. Die Bundestagswahlen seien »extrem wichtig« für die Zukunft Europas. Auch die nächste Bundesrepublik werde »einen großen Einfluss auf die politischen Entscheidungen haben, die Europa betreffen«, so der Aufruf, der in der Zeitung Il Manifesto publiziert wurde. Nur die Linkspartei sei »in der Lage, eine andere Perspektive für das eigene Land und für ganz Europa zu eröffnen«.

Varoufakis kritisiert deutsche Selbstbezogenheit

Ähnlich hat sich nun auch der spanische Europaabgeordnete Miguel Urbán Crespo von Podemos geäußert. »Für ein sozial gerechtes und demokratisches Europa brauchen wir ein solidarisches Deutschland«, twitterte er einen Tag vor der Bundestagswahl. Und auch Yanis Varoufakis, Ex-Finanzminister von Griechenland und Mitgründer der linken Europabewegung DiEM25 meldete sich zu Wort: »Die deutsche Rolle in Europa sei »derart zentral«, dass die Politik hierzulande eigentlich »sich selbst gegenüber die Pflicht hat, öffentlich darüber nachzudenken und Vorschläge für die Zukunft der EU zu formulieren«.

Doch stattdessen, so der Ökonom, »verblüffte der nun zu Ende gehende Wahlkampf mit einer Selbstbezogenheit, die keinen ernsthaften Diskurs über Europa und die Eurozone zuließ«. Es sei weitgehend ausgeklammert worden, »was Berlin tun muss, um vor allem das wirtschaftliche Umfeld zu stabilisieren, in dem die Deutschen leben und von einer besseren Zukunft träumen wollen«. Auch Varoufakis plädierte dafür, dass der »Ordoliberalismus, dessen Zeit abgelaufen ist, verworfen und durch eine fortschrittliche, makroökonomisch vernünftige, gesamteuropäische Wirtschafts- und Sozialagenda ersetzt« werden müsse – und nennt als »die einzigen politischen Kräfte, die mit dieser Einschätzung erkennbar übereinstimmen, die Linkspartei, wie sie von Katja Kipping vertreten wird, und Elemente der Grünen«.

Die Bürger sind in Sachen Europa weiter als die Parteien

Unter dem Strich aber bleibt festzuhalten. Merkels Union hatte kein Interesse an einem Wahlkampf der europapolitischen Zuspitzung. In ihrem Laden hätte die Luft brennen können, wären Konflikte wie der über die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds am umstrittenen Kreditprogramm für Griechenland im Wahlkampf frisch ausgebrochen. Auch Fragen der Europäischen Integration, Punkte, die unter anderem aus den von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gehaltenen Reformreden hätten in den deutschen Parteienstreit münden können, wären für CDU und CSU eher zur inneren Zerreißprobe geworden.

Die SPD hat diese Lücke nicht gefüllt. Sie wollte es nicht, gekonnt hätte sie ja – mit dem Spitzenkandidaten und Europamann Schulz. Womöglich war genau das auch der thematische Rückenwind für den kurzen Aufstieg der Sozialdemokraten zu Jahresbeginn – sozusagen ein Macron-Effekt, und hier ist jetzt nicht die als neoliberal kritisierte Arbeitsmarktreform gemeint, sondern dessen auf emotionalen Zuspruch treffende Europa-Rhetorik.

Guérot: Es ist wie bei der Titanic

Das sieht auch die Publizistin Ulrike Guérot so, die im Gespräch mit der Süddeutschen glaubt, viele Bürger seien »was Europa angeht, weiter als die Parteien«. Denn, so das Argument, sie »haben kapiert, dass die Europäische Union in der jetzigen Form nicht funktioniert. Sie können verstehen, dass es eine Fiskal- und Sozialunion braucht, zum Beispiel mit europaweiter Arbeitslosenversicherung. Aber in Deutschland vertritt niemand diese Politik, außer ansatzweise die Grünen. Die anderen Parteien glauben, dass man mit Europa keine Wahl gewinnen kann.«

Letzteres ist eine Frage der Betrachtung, aber klar ist auch: Linkspartei und Grüne sind mit ihren Europa betreffenden Forderungen für einen deutlichen Kurswechsel kaum durchgedrungen. Guérot hat das in ein Bild gefasst: »Es ist wie bei der Titanic, da hat man das Ruder noch herumgerissen, aber der Bug ist trotzdem auf den Eisberg geknallt. Wir fangen in Deutschland sehr spät an, uns wieder um Europa zu kümmern, weil wir die Eurokrise hier nicht richtig bemerkt haben.« Ein wirklich solidarisches Europa bräuchte eine andere, eine linke Regierung in Deutschland. 2017 stehen die Chancen dafür, um es freundlich zu formulieren: nicht eben sehr hoch.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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