Wirtschaft
anders denken.

Das Vier-Millionen-Prekariat, Ruf nach Kurswechsel, Kritik am Messverfahren: ein OXI-Überblick

24.09.2018
OXIEine Frage des Aufstiegs - oder nicht?

Mehr als vier Millionen Menschen leben dauerhaft in prekären Umständen, zeigt eine von der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung geförderte Studie. »Die Zahlen sind beunruhigend«, heißt es in Berichten. Das unternehmensnahe IW Köln bemängelt dagegen das Messverfahren.

In der Erwerbsbevölkerung leben gut zwölf Prozent oder gut vier Millionen Menschen dauerhaft in prekären Umständen. Das heißt: Job ohne Perspektive, zu wenig Einkommen, mangelhafte soziale Absicherung, und das über mehrere Jahre. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie.

Spiegel online berichtet hier über die Ergebnisse: »Zum ersten Mal belegt eine Studie, wie groß das Prekariat in Deutschland ist.« Und weiter: »Die Zahlen sind beunruhigend.« Der ausführliche Bericht verweist darauf, dass das »Forscherteam um Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin und Markus Promberger von der Universität Nürnberg-Erlangen« nur Personen gezählt habe, »deren Arbeit und Lebensumstände tatsächlich beide eindeutig von prekären Bedingungen geprägt sind – und für die dieses prekäre Leben zum Dauerzustand geworden ist, dem sie nicht entkommen. Als Beispiele nennen sie die Verkäuferin im Billigschuhladen, den Nachtpförtner oder die alleinerziehende Krankenschwester.«

Bei der Böckler-Stiftung heißt es zur Methode: »Die Forscherinnen und Forscher haben eine Reihe sozialer Indikatoren zusammengestellt, die als Indizien für ein prekäres Leben dienen können. Diese beziehen sich zum einen auf das Erwerbsleben, darin enthalten sind etwa Niedriglohn, ein unsicherer Job oder fehlender Kündigungsschutz. Zum anderen geht es um den Haushaltskontext: Armut, beengte Wohnverhältnisse oder auch Überschuldung. Von einer ›prekären Beschäftigungsepisode‹ sprechen die Wissenschaftler, wenn wenigstens zwei der auf den Arbeitsmarkt bezogenen Negativkriterien erfüllt sind. Nach dem gleichen Muster bestimmen sie ›prekäre Haushaltsepisoden‹. Dies sei ein ›konservatives Messverfahren, das erst bei einem deutlicheren Problemumfang‹ anschlage.«

Das sieht das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft anders. »Wann genau sind Tätigkeiten und Lebenssituationen prekär?«, fragt da der Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Holger Schäfer – und nennt das herangehen der gewerkschaftsnahen Studie »tückisch«. Zwar sei eine Differenzierung »sinnvoll«, die sowohl prekäre Arbeit als auch prekäre Lebensumstände berücksichtig. Doch würde die Methode der Böckler-Studie in anderen Fällen »per Definition« Menschen in prekäre Verhältnissen einordnen, auf die dies nicht notwendigerweise zutreffen müsse. Die Definition sei »sehr weit« gefasst, so das IW Köln. »Das kann problematisch sein, weil aus dem Anteil des Prekariats direkt politische Forderungen abgeleitet werden.«

Die Linksfraktion hat auf die Böckler-Studie unterdessen mit dem Ruf nach einer »radikalen Kurskorrektur« auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik reagiert. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Sabine Zimmermann nannte die Abschaffung von Mini- und Midijobs, sachgrundlosen Befristungen, Leiharbeit und Werkverträgen als Ziel, zudem verlange man »mehr Tarifbindung und einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde«, gedeckelte Mieten, sozialen Wohnraum in öffentlicher Hand sowie eine Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens und »eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.050 Euro im Monat«. Es sei »durch nichts zu rechtfertigen, dass in diesem reichen Land vier Millionen hart arbeitenden Menschen finanzielle Sicherheit und langfristige Lebensperspektiven vorenthalten werden«, so Zimmermann zur Begründung.

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