Wirtschaft
anders denken.

Dauerboom in Europa? Oder: Wann kommt die nächste Krise?

18.11.2017
KonjunkturPix1861 / Pixabay

Die Wirtschaft in Europa ist im vergangenen Jahr so stark gewachsen wie seit der Krise von 2009 nicht mehr. Grund zur Euphorie besteht dennoch keineswegs. Auch der laufende Konjunkturzyklus in der EU wird sein Ende finden.

Der Euro-Raum kann im laufenden Jahr mit einem realen Zuwachs des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 2,2 Prozent das stärkste Wachstum seit zehn Jahren verzeichnen. Auch in der ganzen EU (EU-28) dürfte das BIP-Wachstum im laufenden Jahr mit 2,3 Prozent robuster ausfallen als im Frühjahr erwartet (1,9 Prozent). Für 2018 und 2019 geht die EU-Kommission für beide Wirtschaftsräume von einer leichten Abschwächung des Wachstums auf je 2,1 Prozent bzw. 1,9 Prozent aus.

Für den Euro-Raum und für die ganze EU ist die Berichtsperiode das nunmehr 18. Quartal mit einem positiven Wachstum in Folge. Seit Mitte 2013 geht es mit der Wirtschaft in der Eurozone mehr oder weniger stark aufwärts. Ein baldiges Ende dieses langen Aufschwungs zeichnet sich nicht ab, denn ein wesentlicher Treiber des Booms läuft weiter: der Nullzins der Europäischen Zentralbank. Wer angesichts des Aufschwungs die Politik der EZB uneingeschränkt gutheißen will, muss freilich die negativen Auswirkungen der Abschaffung des Zinses für das Vorsorgesparen oder die Hauspreise (Mieten) ausblenden und darauf hoffen, dass eine Staatsschuldenkrise ohne Nebenwirkungen durch noch mehr Schulden samt Staatsfinanzierung durch die EZB gelöst werden kann.

Gleichwohl: Der robuste Aufschwung setzt die Europäische Zentralbank (EZB) zunehmend unter Druck, die Geldschleusen zur Ankurbelung der Konjunktur ein Stück weit zu schließen. Bei der jüngsten Zinssitzung hatten die Notenbanker beschlossen, ab Januar ihre monatlichen Wertpapierkäufe zu halbieren.

Risiken im Finanzsystem weiter angestiegen

Der Sachverständigenrat unterstreicht die Risiken durch die Politik der Europäischen Zentralbank. »Infolge der Niedrigzinspolitik sind die Risiken im Finanzsystem weiter angestiegen«, warnt das Expertengremium in seinem Jahresgutachten 2017/18 für die Bundesregierung. »Einerseits besteht die Gefahr überhöhter Vermögenspreise, vor allem im Bereich der Wohnimmobilien und Anleihen. Andererseits haben sich die Zinsänderungsrisiken bei Banken deutlich erhöht, da die Banken Kredite mit längeren Zinsbindungsfristen vergeben und sich gleichzeitig kurzfristiger refinanzieren.« Im Fall rasch steigender Zinsen befürchten die Wirtschaftsweisen Verwerfungen im Finanzsystem. Wie stark dies deutsche und europäische  Wirtschaft treffen kann, hat die Finanzkrise 2008/09 gezeigt, die zur stärksten Rezession der Nachkriegszeit führte.

Positive Konsequenz dieses Wachstums: Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote des Euro-Raums ist von 9 Prozent im August auf 8,9 Prozent im September zurückgegangen. Im September 2016 hatte sie noch 9,9 Prozent betragen. Damit sank der Wert erstmals seit Januar 2009 wieder unter 9 Prozent. Allerdings liegt das Niveau noch immer klar über dem um die Jahreswende 2007/08 erreichten Tiefstand von gut 7 Prozent.

In der EU-28 blieb die Arbeitslosenquote im September mit 7,5 Prozent gegenüber dem Vormonat unverändert, während sie ein Jahr zuvor 8,4 Prozent betragen hatte. Die Zahl der Arbeitslosen schätzt Eurostat im Berichtsmonat auf 18,4 Mio., davon 14,5 Mio. im Euro-Raum.

Auch nach Einschätzung des IWF hat der Euro-Währungsraum seine Krise weitgehend überwunden. Die Zustimmung zur Währungsunion sei in den Mitgliedsländern auf Rekordniveau, sagte IWF-Europadirektor Poul Thomsen. »Und das, obwohl noch vor wenigen Jahren pure Existenzangst herrschte.«

Europa als Zugmaschine der Weltwirtschaft

Europa insgesamt wird nach Einschätzung des IWF immer mehr zur Zugmaschine der Weltwirtschaft. Der Ausblick des IWF bezieht sich auf den gesamten Kontinent, nicht nur auf die Länder der EU. Der IWF sagt den mehr als 40 Ländern der Region Europa – von Deutschland über Großbritannien bis hin zu der Türkei und Russland – in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,4 Prozent voraus. 2018 soll es mit 2,1 Prozent ähnlich hoch ausfallen.

Das Wachstum der europäischen Wirtschaften muss vor dem Hintergrund des außergewöhnlich langen Konjunkturzyklus der Globalökonomie gesehen werden. Die wichtigsten Faktoren für die Beschleunigung des Aufschwunges der Globalökonomie:

▪ In den Vereinigten Staaten blieben die häufig angekündigten umfassenden protektionistischen Maßnahmen aus.

▪ Die Austrittsverhandlungen des Vereinigten Königreichs haben bislang keinen stärkeren Wirtschaftseinbruch ausgelöst.

▪ Der chinesischen Regierung gelang es, die Immobilienmärkte und den Finanzsektor zu stabilisieren, die Kapitalflucht vorläufig einzudämmen und das hohe Wachstum fortzusetzen.

▪ Schließlich haben sich pro-europäische Parteien bei den nationalen Wahlen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion durchgesetzt.

Zyklischer Charakter der Wirtschaftsentwicklung

Gleichwohl: Der Konjunkturzyklus in Amerika könnte seinen Höhepunkt erreicht haben. Die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten, die Ankündigung eines großen Infrastrukturprogramms und die Aussicht auf Steuererleichterungen haben den aktuellen Konjunktur- oder Wirtschaftszyklus offenkundig verlängert – außer Kraft gesetzt werden kann der zyklische Charakter der Wirtschaftsentwicklung jedoch nicht.

Seit Beginn der Industrialisierung konstatieren wir, dass die Wirtschaft im Zeitablauf zwar grundsätzlich wächst, dieses Wachstum aber nicht kontinuierlich und gleichmäßig erfolgt. Jahre des Aufschwungs werden abgelöst durch Zeiträume wirtschaftlicher Schwäche. Für den Wirtschaftszyklus in der kapitalistischen Ökonomie gilt: Wachsen die Neuinvestitionen schneller, so beschleunigt sich auch die Kapitalakkumulation, die nun einmal in jeder Marktwirtschaft das Konjunkturgeschehen bestimmen.

Umgekehrt muss eine sinkende Investitionsquote (die zeigt, dass die Neuinvestitionen langsamer wachsen als die Gesamtausgaben) nicht gleich bedeuten, dass ein Land sofort in die Rezession abrutscht. Neuinvestitionen erweitern den Kapitalstock (Maschinen, Anlagen, Geräte, Patente usw.) einer nationalen Ökonomie. Jeder Aufschwung ist dadurch charakterisiert, dass der Anteil, den ein Land (vor allem die Unternehmen) für Neuinvestitionen ausgibt, eine gewisse Zeit lang stetig wächst. Das heißt, die Neuinvestitionen legen stärker zu als die Gesamtausgaben und damit das Gesamteinkommen. Der Anteil des Konsums fällt dagegen sehr oft und hinkt er  dem Investitionsanteil hinterher.

Schwächetrend in den USA bahnt sich an

Steht die US-Ökonomie vor dem Höhepunkt des laufenden Wirtschaftszyklus? Die Symptome: Stagnierende Unternehmensgewinne, volatile Wertpapierbörsen, kollabierendes Kreditwachstum bei den Banken, sinkende Anleiherenditen und eine steigende Verschuldung der Unternehmen sind Signale dafür, dass sich ein Schwächetrend in den USA anbahnt. Gleichwohl hat die 2015 einsetzende Abschwächung in den Investitionen nur eine Wachstumsdelle ausgelöst; doch das im Herbst 2016 einsetzende höhere Wachstumstempo mag als Rückkehr zur Normalität nicht zu überzeugen.

Der im Jahr 2010 begonnene Aufschwung fällt – sowohl in den USA wie in Deutschland – durch seine erreichte Länge auf. Die konjunkturelle Schwächephase zur Jahreswende 2012/13 wertet der Sachverständigenrat – in Anlehnung an den Zyklus der USA und damit der Globalökonomie – nicht als Rezession, sondern nur als eine vorübergehende Unterbrechung des Aufschwungs.

Seit der Finanzkrise 2008 haben die Zentralbanken Billionen von US-Dollar in die Wirtschaften der entwickelten Volkswirtschaften gepumpt. Seit fast zehn Jahren betreiben Notenbanken rund um den Globus eine expansive Geldpolitik (QE). Sie kaufen Wertschriften am Markt und erreichen damit, dass dort die Kurse steigen und die Zinsen über alle Laufzeiten hinweg tief gehalten werden. Sie erzielen diesen Effekt über das Volumen der Kaufprogramme. Das Vorgehen wird deshalb als quantitative Lockerung bezeichnet, auf Englisch »Quantitative Easing« oder kurz: QE.

Fähigkeit eingebüßt , auf den nächsten Abschwung zu reagieren

Im Herbst 2017 benötigt die Weltwirtschaft eigentlich keine Beatmungsmaschine mehr. Obwohl die Ökonomien der kapitalistischen Hauptländer zuletzt gewachsen sind, haben sie die Fähigkeit eingebüßt , auf den nächsten Abschwung zu reagieren, der unweigerlich kommen wird. Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds stellen in ihrem Weltwirtschaftsausblick fest: Der globale Wirtschaftsaufschwung setze sich fort und habe in der ersten Jahreshälfte an Fahrt gewonnen. Die Beschleunigung erfasse vor allem Europa, China, Japan, Nordamerika und die asiatischen Schwellenländer. Nach einer langen und instabilen Phase im Nachgang der Finanzkrise habe die Weltwirtschaft offenkundig wieder ein feste Fundament erreicht.

Fakt ist: Das globale Wachstum hat sich seit Anfang 2016 beschleunigt und im ersten Halbjahr 2017 erstaunliche 3,4 Prozent erreicht. Damit wurden die langfristigen Erwartungen um fast einen kompletten Prozentpunkt übertroffen. An den Arbeitsmärkten geht es aufwärts, der private Konsum ist robust und die Unternehmensinvestitionen steigen. Viele Ökonomen kommen zu dem Schluss: Wir befinden uns jetzt in einer Phase der Erholung, das Wachstum scheint sich zudem von den zyklischen Konjunkturbewegungen abgekoppelt zu haben.

Acht Jahre mit großer Unsicherheit

Die Weltwirtschaft hat fast acht Jahre der Erholung benötigt bis die Kapitalakkumulation wieder in das gewohnte Fahrwasser zurückkehrte. Acht Jahre mit großer Unsicherheit und der fortwährenden Befürchtung, dass das Wachstum in die falsche Richtung kippen könnte. Und acht Jahre, in denen die Weltwirtschaft am Tropf hing und von massiven geldpolitischen Stimulus-Paketen unterstützt wurde, die nach der Finanzkrise und der europäischen Schuldenkrise von den großen Zentralbanken geschnürt wurden. Die Weltwirtschaft soll 2017 real um 3,6 Prozent und 2018 um 3,7 Prozent zulegen. Gegenüber den mageren Jahren 2015 und 2016 mit nur leicht über 3 Prozent Wachstum ist das eine erhebliche Beschleunigung.

Die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise forderte zunächst das politische Establishment der Nationalstaaten heraus, denn die sehr umfangreichen Rettungspakete für die Banken und Stabilisierung der Ökonomien hatten enorme Haushaltsdefizite und steigende Staatsschulden zur Folge. Der dramatische Anstieg der staatlichen Verschuldung ab dem Jahr  2009 war keine Ursache, sondern eine Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise nach dem Crash im US-amerikanischen Finanzdienstleistungssektor und des Immobilienmarktes (Subprime-Produkte). Zum kleineren Teil war der Anstieg der Staatsverschuldung verursacht durch keynesianische, also defizitfinanzierte Konjunkturprogramme. Den weitaus größeren Anteil am Anstieg der staatlichen Schuldenstandsquoten hatten die staatlichen Maßnahmen zur Bankenrettung.

Nachdem die Gefahr des Absturzes überstanden war, gab es nur geringen fiskalischen Spielraum für Konjunkturpakete, Steuersenkungen oder Infrastrukturinvestitionen. Also übernahmen die Zentralbanken die Aufgabe, die Beschleunigung der Wirtschaft zu unterstützen. Sie senkten die Leitzinsen, um billiges Geld bereitzustellen und Verbraucher und Unternehmen dazu zu ermutigen, mehr Kredite aufzunehmen und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Obwohl das ein klassisches geldpolitisches Manöver war, blieb der Effekt nur minimal. Deshalb betraten einige der weltgrößten Notenbanken fiskalisches Neuland und starteten das größte geldpolitische Experiment in der Geschichte: Neben der extremen Niedrigzinspolitik griffen die Notenbanken zum Mittel der massiven Ankäufe von Wertpapieren. Mit der Quantitative Lockerung sollten Wachstum angeheizt und deflationäre Abwärtsspiralen der Preise bekämpft werden.

Ein gefährlicher »Vermögenspreiszyklus«

Allerdings hatte die angewandte Geldpolitik des QE neben dem Stabilitätseffekt auch negative Folgen. Die führenden Zentralbanken haben mit ihren Interventionen den traditionellen Konjunktur- und Finanzzyklus in den zurückliegenden Jahren  in einen gefährlichen »Vermögenspreiszyklus« verwandelt. Die Weltwirtschaft müsste sich angesichts der unglaublich langen Niedrigzinsphase heute mit Blick auf boomende Bond-, Aktien- und Immobilienmärkte in einem ebenso starken Aufschwung befinden – aber das ist nicht der Fall. Selbst Zinsen von unter Null genügen nicht, um eine Welt mit schrumpfender oder stagnierender Erwerbsbevölkerung und ohne Produktivitätsfortschritte wieder auf Wachstumskurs zu bekommen.

Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich  wuchs der Umfang der von den Notenbanken gehaltenen Vermögensbestände in den vergangenen neun Jahren in den wichtigsten hochentwickelten Volkswirtschaften (den USA, der Eurozone und Japan) zusammen um 8,3 Bio. US-Dollar – von 4,6 Billionen US-Dollar 2008 auf 12,9 Billionen US-Dollar Anfang 2017.

Doch diese massive Bilanzexpansion hat nicht viel gebracht. Während desselben Neun-Jahres-Zeitraums stieg das nominale BIP in diesen Ländern um gerade mal 2,1 Billionen US-Dollar. Dies impliziert eine Injektion von 6,2 Billionen US-Dollar überschüssiger Liquidität – die Differenz zwischen der Zunahme des Vermögens der Notenbanken und des nominalen BIP –, die nicht von der Realwirtschaft aufgesogen wurde, sondern stattdessen auf den globalen Finanzmärkten herumschwappt und zu einer Verzerrung der Vermögenspreise über das gesamte Risikospektrum hinweg führt.

Europäische Konjunktur ist kein Dauerphänomen

Die konjunkturelle Erholung Europas hat sich gefestigt. Das Wachstumsgefälle innerhalb der EU bleibt dabei nach wie vor groß. Auch wenn die Wirtschaft in der EU im vergangenen Jahr so stark gewachsen ist wie seit der Krise von 2009 nicht mehr, besteht somit kein Grund zur Euphorie. Abheben dürfte die Wirtschaft auch 2018 nicht. Die europäische Konjunktur ist nach wie vor kein Dauerphänomen. In Anbetracht der verhaltenen globalen Entwicklung und zahlreicher Unsicherheits- und Risikofaktoren – wie die bevorstehende Abspaltung Großbritanniens, die erheblichen Schuldenlasten und die verdeckte Bankenkrise – wird der laufende Konjunkturzyklus auch sein Ende finden. Insgesamt haben die Eingriffe der Zentralbanken in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, die Weltwirtschaft  zu stabilisieren. Allerdings geschah das nicht gratis. Der Preis zeigt sich in Form hoher Risiken. Diese machen das Finanzsystem nun in Verbindung mit zunehmenden Verbindlichkeiten anfällig für externe Schocks.

Der Beitrag erschien zuerst auf der Website der Zeitschrift »Sozialismus«.

Geschrieben von:

Joachim Bischoff

Mitherausgeber Sozialismus

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