Wirtschaft
anders denken.

Der 4. November 1989 und die Debatten über einen »dritten Weg«

04.11.2017
Ralf Roletschek / GFDL 1.2Demo am 4. Nov. 1989; Beginn des Marsches am westlichen Ende des S-Bahnhofs Alexanderplatz

Am 4. November 1989 demonstrierten Hunderttausende in Berlin für Reformen in der DDR. Alternative ökonomische Vorstellungen waren in der Wende durchaus populär. Demokratischer Markt-Sozialismus? Sozial-ökologische Alternative zur Ellenbogengesellschaft? Wie soll das, wie könnte das aussehen? Heute sind die Debatten über einen dritten Weg beinahe vergessen.

Vor 28 Jahren gingen in Ostberlin Hunderttausende auf die Straße, die berühmte Alexanderplatz-Demonstration markierte einen der Höhepunkte des Wendeherbstes – und war zugleich so etwas wie ein vorgezogener Schlusspunkt. Alle Debatten über einen »dritten Weg« oder einen demokratischen Sozialismus, über eine sozial-ökologische Erneuerung der Wirtschaft und dergleichen gerieten alsbald unter die Räder eines ganz anderen Zuges – und der fuhr immer schneller Richtung westdeutsche Verhältnisse.

In der Rückschau ist für diese anderen Momente des Aufbruchs von 1989 meist nicht viel Platz. Vom Ende der Geschichte her betrachtet passen die Rufe nach einem reformierten Sozialismusmodell nicht so besonders gut zur Erzählung von der von Anfang an bürgerlich-nationalen Revolution, die ökonomisch in D-Mark und Marktwirtschaft ihren Fluchtpunkt finden musste.  Der Historiker Martin Sabrow nannte das einen »narrativen Rahmen«, der »zeitgenössische Zielvorstellungen einer eigenständigen sozialistischen DDR zum realitätsfernen Hirngespinst von Sonderlingen« schrumpfen lässt, »die während des Umbruchs den Kontakt zur Bevölkerung verloren hätten«.

Wenige Tage nach der großen Demo vom Alexanderplatz fiel die Mauer, bald kam Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan, in dem Wirtschaftshilfe aus dem Westen von der Umsetzung »neuer wirtschaftlichen Grundlagen« im Osten abhängig gemacht wurde. Nicht viel später kam der Wahlsieg der »Allianz für Deutschland«, bis zur Wirtschafts- und Währungsunion war es da nur noch ein kleiner Schritt.

Kann man in nicht einmal einem Jahr nachholen, was 40 Jahre lang versäumt oder unterdrückt worden war? Kaum. Es ist deshalb dennoch falsch, heute die Reformideen, nicht zuletzt die ökonomischen, als naiv, als nicht mehr auf der Höhe der Zeit, kurzum: als »illusorische Vorstellung von der Realisierung eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus« abzutun. Nicht nur, weil auch das ein Teil der Geschichte von 1989 war. Sondern weil es auch um Alternativen ging, die diesen Namen heute immer noch beanspruchen könnten. In einer Zeit also, in der die Gründe für kapitalistisches Auftrumpfen eher weniger denn mehr werden. Als ob es nicht heute auch viele Gründe für eine Wende gäbe.

Heiner Müller und die Gewerkschaftsfrage

Zurück in den November 1989 in der DDR. Wer heute noch einmal die Reden liest, kann die starke aktuelle, verfassungspolitische und bürgerrechtliche Schlagseite nicht übersehen – sie ist auch sehr verständlich. Immerhin ging es aus der damaligen Perspektive zuerst um die Kritik an der Macht, um den autoritären Anspruch der SED, um die Stasi und um Unrecht, um Privilegien der Bonzen und die eher allgemein gehaltene Frage, ob es einen anderen Sozialismus geben könnte. Einen demokratischen. »Wir lassen uns nicht mehr bevormunden«, so formulierte es Friedrich Schorlemmer.

Ökonomische Aspekte spielten zumindest auf der Alex-Demo kaum eine Rolle. Der Dramatiker Heiner Müller hielt die Rede, die am ehesten etwas mit der Wirtschaft zu tun hatte: »Was hat der FDGB in 40 Jahren für uns getan?«, fragte er in Richtung des Gewerkschaftsbundes. »Hat er die Frage der Arbeitszeitverkürzung als ständige Forderung an die Betriebsleitungen gerichtet? Warum hat er nicht die 40-Stunden-Woche mit uns erkämpft? Hat er dafür gesorgt, daß unsere Löhne der schleichenden Inflation angepaßt werden? Warum sind nicht ständige Tarifverhandlungen über Lohnerhöhungen geführt worden? Wo stehen die Funktionäre des FDGB, wenn in unserem Betrieb neue Normen eingeführt werden? Auf unserer Seite?«

Müller wusste aber auch, dass allein im Rückblick nicht die ganze Wahrheit liegt: »Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen. Wenn der Lebensstandard für die meisten von uns nicht erheblich sinken soll, brauchen wir eigene Interessenvertretungen. Gründet unabhängige Gewerkschaften.« Es hat diese Ansätze einer unabhängigen Vertretung in den Betrieben und Behörden in der Wendezeit gegeben. Auch diese neuen, alternativen Fäden rissen aber meist alsbald wieder.

Mit welchen Ideen die Wende begann

Ähnlich erging es den wirtschaftspolitischen Reformdebatten. Der Aufbruch der Opposition in der DDR war zunächst ein sozial-ökologischer, einer, der von verschiedenen Ideen einer Alternative zu Kommandowirtschaft und freier Marktwirtschaft inspiriert war.

Am 10. September 1989 wurde der Gründungsaufruf des Neuen Forums veröffentlicht – »auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.« Und so fort.

Am 12. September gründete sich die Bewegung Demokratie Jetzt: »Der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muss.« Danach meldete sich der Demokratische Aufbruch zu Wort: »Die wirklichen und gelungenen sozialistischen Lösungen in der DDR« müssten »diskutiert, bewahrt und weiterentwickelt werden. Eine kleinliche und rechthaberische Kritik soll zugunsten der aktiven politischen Gestaltung unterbleiben.« »Ziel ist eine demokratische, soziale und ökologische Gesellschaft in der Fortführung der sozialistischen Tradition.«

Reformansätze innerhalb des Systems

Zugleich hatte es ja auch in der DDR Reformansätze gegeben, nicht zufällig knüpfte manches an die Gedanken des »Neuen Ökonomischen Systems« aus den den 1960er Jahren an. An der Humboldt-Universität lief das Projekt »Moderner Sozialismus«, in dem es ebenfalls um wirtschaftspolitisches Umsteuern ging. Ein Teil der Überlegungen fanden als Buch Anfang 1990 den Weg in die Öffentlichkeit: »Das Umbaupapier. Argumente gegen die Wiedervereinigung«. Anderes kursierte schon vorher und wurde begierig aufgenommen in Zeiten, in denen es nicht als Fehler galt, erst einmal Fragen zu haben statt schon Antworten zu wissen.

Im Dietz-Verlag war schon 1989 ein Heft mit Beiträgen jener Forscher erschienen, die auch am Projekt »Moderner Sozialismus« beteiligt waren: »Studie zur Gesellschaftsstrategie« hieß das und war eine zweite Fassung einer Arbeit, die unter dem Titel »Überlegungen zu Problemen und Perspektiven des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels des Sozialismus und der Weiterentwicklung gesellschaftsstrategischer Konzeptionen in der DDR und anderen sozialistischen Staaten des RGW« vorlag. Es findet sich darin auch ein damals aktueller Text, der bereits auf die »neue Lage« durch die Grenzöffnung reagierte.

Rainer Land, einer der federführenden Autoren von damals, hat im Rückblick die wirtschaftspolitische Konzeption einmal so zusammengefasst: »Die Betriebe sollten selbstständige Unternehmen werden, die zentrale staatliche Planung zunächst stark eingeschränkt und später abgeschafft werden, der Staat sollte wie im Westen nur durch Rahmenbedingungen, durch indikative statt direktive Planung und Investitionsförderung, Einfluss auf die Wirtschaft nehmen. Zugleich aber sollten die Mitbestimmung im Betrieb und der Einfluss der Öffentlichkeit auf die Unternehmen sehr viel stärker ausgestaltet und rechtlich normiert werden, nicht nur durch größere Rechte der Betriebsräte, sondern durch eine Öffentlichkeitsbank in den Aufsichtsräten der in Aktiengesellschaften umgewandelten ehemals staatlichen Unternehmen, die ökologische Belange, Verbraucherinteressen und andere für das Gemeinwohl relevante Belange vertreten sollte. Ähnliches wurde für andere Wirtschaftsbehörden oder Organisationen diskutiert. Inhaltlich wurde der Übergang zu einer anderen wirtschaftlichen Entwicklungsrichtung in den Mittelpunkt gestellt, die auf die Lösung der globalen Probleme gerichtet werden sollte und insbesondere eine ökologische und soziale Orientierung vorsah. Kapitalverwertung und wirtschaftliche Rentabilität wurden als Mittel zum Zweck, als notwendige Mittel der Wirtschaftsregulation verstanden, nicht als Selbstzweck. Vielmehr wurde versucht, basisdemokratische und lebensweltlich verankerte Strukturen zu konzipieren, die den wirtschaftlichen Verwertungsprozess in Richtungen lenken, die mit den Interessen der freien Entwicklung der Individuen übereinstimmen.« Einen völlig anderen Ausgangspunkt hätten auch heutige Debatten über ökonomische Alternativen nicht.

Kardinalfragen, Modrow-Regierung, Runder Tisch

Einen Tag vor der großen Demonstration auf dem Alex war im damals gerade den Mantel als »Zentralorgan« ablegenden »Neuen Deutschland« ein fast ganzseitiger Text erschienen: »Wirtschaftsreform – Element der Erneuerung des Sozialismus« stand darüber, man wollte damit die »Diskussion zu einer Kardinalfrage unserer Politik« voranbringen. Die Autoren: der vormalige Vizechef der Staatlichen Plankommission, Wolfram Krause, der 1978 wegen kritischer Äußerungen zur DDR-Ökonomie in die Bezirksleitung der Berliner SED abgeschoben worden war, und Wolfgang Heinrichs, dem Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften. Wolfgang Seibel schrieb dazu einmal: »Es konnte nicht erstaunen, dass diejenigen Wirtschaftsexperten in der SED, die man in der Honecker-Ära kaltgestellt hatte, nun an Vorstellungen anzuknüpfen suchten, die mit dem Machtantritt Honeckers und dem wirtschaftlichen Kurswechsel auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 abgewürgt worden waren.«

Man erkennt Elemente davon auch in der Regierungserklärung von Modrow vom 17. November noch wieder: »Nicht Planung ohne Markt, nicht Marktwirtschaft statt Planwirtschaft«, hieß es darin. »Das Leben verweist uns auf ein sozialistisches Wirtschaftssystem, in dem Planung und Markt so verbunden sind, daß in allen Gliedern unserer Volkswirtschaft ohne zentralisierte Planbürokratie effektiv und für die Bedürfnisse der Bürger der Volkswirtschaft und einer ertragreichen Außenwirtschaft produziert werden kann.«

Krause wurde dann für die Regierung von Hans Modrow, der die Ökonomin Christa Luft als Wirtschaftsministerin angehörte, zu einer zentralen Figur ökonomischer Kurssuche – er wurde Leiter einer »Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform beim Ministerrat der DDR«. Die dort formulierten Ideen stießen am Runden Tisch mit Überlegungen aus dem »Demokratie Jetzt«-Umfeld zusammen – Wolfgang Ullmann und andere hatten in der ersten Novemberhälfte ein Papiers »Zukunft durch Selbstorganisation« erarbeitet, in dem für Privateigentum an Produktionsmitteln mit sozialer Bindung und eine grundsätzlich marktwirtschaftliche Ordnung plädiert wurde, allerdings eingebettet in ein strategisches Ziel, wobei es darum ging, »von dem vorhandenen Volkseigentum soviel wie möglich direkt den Bürgern der DDR zukommen zu lassen«.

»Marktwirtschaft«, rote Westautos und ein Tiger

Hier liegt ein Nukleus der späteren Treuhandanstalt, allerdings noch mit ganz anderen gesellschaftspolitischen Prämissen. Angesichts der Macht des Faktischen rückte diese Frage aber bald ganz ins Zentrum der Diskussionen – eine eigenständige DDR-Erneuerung schien immer aussichtsloser, umso drängender wurden Fragen des Übergangs in ein ganz anderes System. »Das Schicksal der DDR-Wirtschaft war mit der Vereinbarung beider deutscher Regierungen über die Umstellungskurse besiegelt. Es erledigten sich damit auch alle wirtschaftlichen Reformvorstellungen, die auf einen ›Dritten Weg‹ auf der Basis reformierter Wirtschaftsstrukturen einer fortexistierenden DDR gesetzt hatten«, bilanzierte später Seibel. »Die Vorstellungen zu einer Wirtschaftsreform wären unter den Bedingungen staatlicher Stabilität der DDR und damit der Fortdauer der deutschen Teilung ernstzunehmende Strategien der schrittweisen Umgestaltung der staatlichen Planwirtschaft zu einer staatlich verantworteten Marktwirtschaft gewesen.«

Auf dem Alexanderplatz tauchte das Wort »Marktwirtschaft« übrigens auf einem der Plakate auf – man könnte es heute im Rückblick als Kritik dieser Entwicklungsrichtung lesen: unter dem Wort zwei Fotos von roten Westautos und ein Tiger. Vielleicht war es aber auch ganz anders gemeint. Ein anderes Transparent warb für unabhängige Gewerkschaften, ein nächstes rief zur »Enteignung der Korrupten« auf. Verteilungspolitisch erscholl der Ruf nach Privilegien für Alle, andere forderten eine »Wohnreform statt Schlamperei«.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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