Wirtschaft
anders denken.

Streik im deutschen Arbeiterstaat

26.06.2022
Eine DDR-Briefmarke mit Spruch des FDGB: "Hohe Leistungen zum Wohle des Volkes und für den Frieden»Arbeitsniederlegung« nicht vorgesehen: Briefmarke zum FDGB-Kongress 1987

Die Geschichte des Streiks in der DDR beschreibt exemplarisch den Niedergang einer autonomen Arbeiterbewegung. Aus OXI 6/22.

Ausgerechnet in der SBZ/DDR, auf deren Gebiet es nach 1945 mit dem mitteldeutschen Industriegebiet, den Großbetrieben im Magdeburger und Berliner Raum eine traditionell besonders kämpferische Arbeiterschaft gab, sollte das Markenzeichen einer jeden Arbeiterbewegung, der Streik, bald keine Bedeutung mehr haben.

Als am 17. Juni 1953 die Bauarbeiter der Stalinallee den Auftakt für eine Streikwelle in der ganzen Republik gaben, war diese Tradition noch erstaunlich lebendig. Mit Selbstverständlichkeit griffen die Arbeiter von der Baustelle Friedrichshain und Arbeiter:innen in der ganzen Republik auf die ihnen bekannte Form des Arbeitskampfes zurück. In spontan einberufenen Versammlungen formulierten sie ihre Forderungen, wählten Streikführer und solidarisierten sich mit den bereits im Streik stehenden Kolleg:innen. Losungen wie »Akkord ist Mord!« und »Wir wollen keine Sklaven sein!« stammten ebenfalls aus dem Arsenal nicht nur der deutschen Arbeiterbewegung. Auf Fotos von demonstrierenden Arbeitern aus dem Stahlwerk Hennigsdorf ist die kulturelle Kontinuität dieses Bewegungsmilieus deutlich zu erkennen. Und obwohl die Rolle des FDGB als »Transmissionsriemen der Partei« und Teil der staatlichen Wirtschaftsführung bereits im Statut 1949 festgelegt worden war, sahen sich vielerorts betriebliche Funktionäre den Erwartungen ausgesetzt, sie müssten sich als Vertreter ihrer Kolleg:innen an die Spitze der Streikbewegung stellen. So auch Max Fettling, der BGL-Vorsitzende von der Baustelle in der Stalinallee. Er versuchte, »seine Arbeiter« vom Streik abzuhalten, ließ sich dann aber dazu überreden, ihren Forderungskatalog zum Sitz des Ministerrates zu bringen. Sein Selbstverständnis als gewählter Funktionär der Gewerkschaft hatte ihn nicht anders handeln lassen können. Im Vernehmungsprotokoll der Staatssicherheit können wir nachlesen, wie er sich verzweifelt gegen die Anklage verteidigt und immer wieder betont, dass ein Streik doch kein Verbrechen sei. Für seine Beteiligung und »Rädelsführerschaft« wurde er am 19. Juni 1953 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 und sofort eingeleitete Sanktionen der Staatsmacht, die mit Verhaftungen der »Rädelsführer« und einer großangelegten Disziplinierungskampagne von Belegschaften reagierte, wurden zur historischen Zäsur für das Konfliktverhalten von Arbeiter:innen in der DDR.

Die »Arbeitsniederlegung«, wie der Streik offiziell genannt wurde, verschwand nach der Niederlage 1953 nicht sofort aus dem betrieblichen Alltag, die Streikenden veränderten jedoch umgehend ihre Praxis. Von vereinzelten Solidaritätsstreiks für nach dem Aufstand inhaftierte Kolleg:innen abgesehen, wurde der Streik in der DDR nicht mehr für politische Forderungen genutzt; vor den Werktoren demonstrierten Streikende letztmalig 1954. Hinter den Betriebstoren jedoch fanden in den fünfziger Jahren noch zahlreiche »Arbeitsniederlegungen« mit bis zu 250 Arbeiter:innen aus verschiedenen Abteilungen statt, etwa im Finsterwalder Maschinenbau. Sie richteten sich vor allem gegen die Einführung des Leistungslohns und der Betriebskollektivverträge. Um dem Vorwurf der »Boykotthetze« zu entgehen, deklarierten die Beteiligten sämtliche Streiks als »spontan«, die Suche nach den »Rädelsführern« blieb in der Regel erfolglos. Einen überbetrieblichen Zusammenschluss sollte es nach 1953 nicht mehr geben.

Auch in den 1960er Jahren streikten Arbeiter:innen in DDR-Betrieben, namentlich einzelne Brigaden. Ihre Anzahl nimmt allerdings bald nach dem Mauerbau rapide ab und pendelt sich bis Mitte der siebziger Jahre auf durchschnittlich 28 »Arbeitsniederlegungen« im Jahr ein. In den Meldungen an den Bundesvorstand (BV) des FDGB über »Besondere Vorkommnisse«, zu denen »Arbeitskonflikte« und »Arbeitsniederlegungen« gerechnet wurden, wird die Streikdauer mit jeweils einigen Stunden angegeben. Die entscheidende Veränderung aber bestand darin, dass aufgrund fehlender Öffentlichkeit, bald auch innerhalb der Betriebe, von solchen »Vorkommnissen« kaum etwas nach außen drang. Für die Staatssicherheit der DDR hatte die Geheimhaltung »operativ bedeutsamer« Vorgänge wie einer »Arbeitsniederlegung« ohnehin allerhöchste Priorität. Auf diese Weise existierte der Streik für die DDR-Bürger schon vor seinem endgültigen Aus quasi nicht mehr.

Für die achtziger Jahre registrierte der Bundesvorstand des FDGB insgesamt 38 »Arbeitsniederlegungen«, an denen meist nur noch drei bis vier Arbeiter:innen beteiligt gewesen waren. Den Charakter eines Streiks hatten diese Proteste allerdings verloren. Sie klagten eine warme Mahlzeit ein, eine längst fällige Dachreparatur, oder verließen den Arbeitsplatz frühzeitig, weil ihnen der Lohn nicht termingerecht ausgezahlt worden war. In der DDR wurde nicht um höhere Löhne gestreikt, nicht um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, sondern darum, den alten Standard wiederherzustellen.

Bis 1968 war in der Verfassung der DDR das »Recht der Gewerkschaften auf Streik« enthalten, welches, nach Aktenlage, nie angewandt wurde. In die neue, »sozialistische« Verfassung wurde das gewerkschaftliche Streikrecht nicht mehr aufgenommen und im Arbeitsgesetzbuch kam es gar nicht erst vor. Der Streik war den Beschäftigten in den DDR-Betrieben also nicht juristisch verboten, er war politisch geächtet. Insofern war stets ein gewisses Risiko damit verbunden, mit einer kollektiven Aktion etwas durchsetzen zu wollen, selbst dann, wenn es sich um eine »berechtigte Forderung« handelte, wozu das MfS in der Regel fehlerhafte Lohn- oder Prämienzahlungen rechnete.

Für den Niedergang einer autonom und kollektiv agierenden Arbeiterklasse, bezogen nicht nur auf Streik, sondern auf sämtliche Protestformen, gab es verschiedene Ursachen. Entscheidend war zweifelsohne das Verhältnis zwischen »Aufwand und Nutzen«, die geringe, stets mit dem Risiko der Restriktion verbundene Erfolgschance. Wie aber setzten Arbeiter:innen in der DDR ihre Interessen durch? Schon immer hatte es die Möglichkeit gegeben, sich mit einer Beschwerde an die Partei oder staatliche Leitung zu wenden, beim Meister oder bei der BGL eine günstigere Kondition auszuhandeln. Diese Form der individuellen und privatisierten Interessendurchsetzung nahm mit dem »Eingabengesetz« von 1975 einen geradezu extensiven Charakter an. Den Ministerrat der DDR und den Bundesvorstand des FDGB erreichten Hunderttausende von Eingaben mit betrieblichen Themen, in denen Einzelpersonen ihr Anliegen in der Art einer privaten Petition vortrugen. Lohn-, Gehalts- und arbeitsrechtliche Fragen wurden so zu klären versucht; eine schnellere Zuweisung einer AWG-Wohnung oder Beschwerden über einen nicht erhaltenen Ferienplatz des FDGB waren Inhalt vieler Eingaben. Jeder und jede versuchte, sich durchzuwursteln, die Arbeiterbewegung hatte ihren kollektiven und öffentlichen autonomen Charakter in der »Diktatur des Proletariats« verloren.

In allen Jahren gab es immer auch einige Eingaben, die von einer Gewerkschaftsgruppe oder einem Kollegenkreis gemeinsam verfasst wurden, was wegen dieses kollektiven Agierens sofort die Staatssicherheit auf den Plan rief. Solche »Kollektiveingaben« nahmen 1988/89 sprunghaft zu, sie sind bereits Ausdruck eines veränderten Verhaltens der Beschäftigten. Sie formulierten ihre Anliegen jetzt viel grundsätzlicher, prangerten an, dass »man nicht ordentlich arbeiten« könne und kritisierten fehlende Mitbestimmungsrechte. Aus der Bittstellung wurden Forderungen nach »Glasnost« und »Perestroika« auch im Betrieb. Es dauerte nicht lange, da streikten Ende 1989 die ersten Belegschaften in der DDR für weitgehendere Veränderungen in den Betrieben und gegen Maßnahmen der Modrow-Regierung. Als mit der von der Treuhand betriebenen Privatisierung der DDR-Wirtschaft Massenentlassungen und Betriebsstilllegungen folgten, nahm das Streik- und Protestgeschehen in Ostdeutschland einen nie gekannten Aufschwung. Zwischen 1990 und 1994 fanden bis zu 200 gewerkschaftlich organisierte und »wilde« Streiks, Betriebs- und Straßenbesetzungen, Hungerstreiks und Protestdemonstrationen jährlich statt. Und wie 1953 waren Arbeiter:innen in ganz Ostdeutschland daran beteiligt, wurden die Streiks von anderen Protestformen begleitet und richteten sich ihre Forderungen an die Regierung, ihre Politik zugunsten der Arbeiter:innen zu ändern. Die Streik- und Protestwelle der frühen 1990er Jahre hat die massive Deindustrialisierung Ostdeutschlands nicht aufhalten können, sie wird wie schon der Arbeiteraufstand von 1953 als Niederlage erinnert. Es schließt sich die spannende Frage an, ob und wie die Tradition des Streiks in einer neoliberal veränderten Betriebslandschaft in Ostdeutschland und angesichts einer neuen Generation, die diese Erfahrungen selber nicht machen musste, wiederbelebt werden kann.

Renate Hürtgen ist Philosophin, Historikerin und Bürgerrechtlerin der DDR-Opposition, die sich 1989/90 in der »Initiative Unabhängige Gewerkschaften« engagierte. Sie arbeitete nach Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR in verschiedenen Wissenschaftsprojekten u. a. über die Transformation von Gewerkschaften in den neuen Bundesländern.

Geschrieben von:

Renate Hürtgen

DDR-Bürgerrechtlerin

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