Wirtschaft
anders denken.

Auf der Suche nach der Form

02.12.2021
Verschiedene Formen in schwarz, rot und gelb auf beigem HintergrundBild: HitaJast auf Pixabay

Beim Blick auf die DDR wird oft vergessen, dass die Volkswirtschaft aus mehr bestand als dem staatlichen Sektor. Aus OXI 11/21.

Für den überwiegenden Teil der Menschen in diesem Lande dürfte es als feststehende Wahrheit gelten, dass die Volkswirtschaft der DDR über die VEB organisiert war, die irgendwie durch die Plankommission und die SED geleitet wurden. Als zweites Element werden dann vielleicht die Genossenschaften genannt, die vor allem in der Landwirtschaft und im Handwerk verortet werden. Auch die umfangreiche Literatur zur Wirtschaftsgeschichte der DDR und Geschichte der Planung und Leitung konzentriert sich auf diese Seite der Organisationsweise der DDR-Wirtschaft. In den Jahren 1989/1990 wurden zwar der Umfang der wirtschaftlichen Aktivitäten der Parteien und Massenorganisationen sowie die außenwirtschaftlichen Aktivitäten der Koko und Schalck-Golodkowskis breiter bekannt und skandalisiert, aber auch hier wurde vor allem eine politische, weniger eine ökonomische Analyse unternommen.

Wenn man mit der Fixierung auf die volkseigene Wirtschaft die grundlegenden strukturbildenden Elemente des damaligen Wirtschaftslebens beschreiben will, ist das sicher richtig. Aber das Ganze ist damit nicht erfasst, und um dessen Funktionsweise zu verstehen, muss man tiefer gehen. Das beginnt schon bei den VEB, die auf der einen Seite ihre Kooperation über die Kombinate, die VVB (Vereinigungen Volkseigener Betriebe) oder andere kooperative Institutionen mit eigener Rechtspersönlichkeit abwickelten, auf der anderen Seite selbst aus Betriebsteilen und Fertigungsstätten zusammengesetzt waren – die auch ein ökonomisches und soziales Eigenleben führten. Wirtschaft ist kein bloßer Mechanismus, in dem Ströme von Gütern und Leistungen mechanisch ineinandergreifen. Wirtschaft ist ein Geflecht von Interessen. Die wirtschaftenden Einheiten oder Unternehmen sind dabei die Knotenpunkte. Die Spielräume von Planungsbehörden bei der Organisation der Wirtschaft sind damit von vornherein beschränkt; jeder Planungsprozess wird davon mitbestimmt, welche Typen von Wirtschaftseinheiten, Wirtschaftssubjekten vorgefunden werden und welche entsprechend den Interessenkonstellationen in der Gesellschaft und den materiellen Voraussetzungen nach kreiert werden können. Allein der Fakt der Fortexistenz und der Neuentstehung verschiedenartiger Typen von Wirtschaftseinheiten, einschließlich privater, über die 40 Jahre der Existenz der DDR sollte dazu anregen, die Unterschiede zwischen VEB, Kombinaten, Genossenschaften, Organisationseigenen Betrieben, privaten Handwerker*innen und Händler*innen, Freiberufler*innen und anderen Rechtsformen ernst zu nehmen und sie nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Einbindung in einen zentralistischen Wirtschaftsmechanismus abzutun. Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass der staatliche Sektor der quantitativ entscheidende Faktor in der Volkswirtschaft war. Für das Jahr 1988 werden folgende Daten ausgewiesen: im Handel (einschließlich Außenhandel) waren etwa 39.000 Selbstständige und mithelfende Familienangehörige tätig. Das waren zwar »nur« etwa 4,5 Prozent der Beschäftigten im Handel, aber die spielten in vielen Regionen eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung. Von den 41 Millionen von Taxis beförderten Personen wurden mehr als 14 Millionen in nicht volkseigenen Fahrzeugen befördert, dazu kamen 3 Millionen im nebenberuflichen Taxiverkehr (hier dürfte die Dunkelziffer erheblich sein). Im Handwerk wurden etwa 40 Prozent der Leistungen in Genossenschaften, 60 Prozent von Privaten erbracht.

Ähnliche Zahlen lassen sich für einige Bereiche der Landwirtschaft festhalten, auch wenn diese von den LPG, GPG (Gärtnerische Produktionsgenossenschaften) und deren kooperativen Einrichtungen dominiert wurden. Und hier käme noch eine Massenorganisation ins Spiel, der Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter (VKSK), über den Obst, Gemüse und andere Produkte aus den privaten Gärten in den volkswirtschaftlichen Kreislauf gezogen wurden. Im Allgemeinen waren die Läden der Konsum-Genossenschaften besser angesehen als die der staatlichen HO. Der Wohnraum wurde durch staatliche (kommunale) Unternehmen, Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG) und Private (Eigentümer wie Verwaltungen) bewirtschaftet. Ein großer Teil des Verlagswesens war in Organisationseigenen Betrieben (OEB) organisiert, die im Eigentum der Parteien, der Gewerkschaft oder der FDJ standen. Die Übersichten dazu sind in den Abschlussberichten der entsprechenden parlamentarischen Untersuchungskommission veröffentlicht. Der Verlag Neue Musik, das ist eine Besonderheit, gehörte dem Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler. Die Kirchen verfügten über erheblichen Grundbesitz und über eigene Betriebe. Schließlich gab es in der DDR, in Abhängigkeit von Zeit und politischer Konjunktur in unterschiedlichem Umfang, viele Selbstständige in Kunst und Kultur, als Anwält:innen, Steuerberater:innen, Architekt:innen usw. Viele Künstler:innen waren an Theatern oder anderen Kultur- oder Bildungseinrichtungen angestellt, verdienten sich aber freiberuflich nebenher nennenswerte Einkommen.

Für alle diese Wirtschaftssubjekte galten die Festlegungen der Planungsorgane nicht unter allen Umständen. Vor allem über das Steuerrecht, die Preisgestaltung sowie den Zugriff auf Kredite und materielle Ressourcen wurde versucht, diese Sphäre jenseits der VEB zu steuern. Vor allem im Einzelhandel, in der Gastronomie und im Handwerk waren die regionalen Planungsorgane und Verwaltungen für die Gestaltung der Spielräume und der Einbindung dieser Wirtschaftseinheiten in die Gestaltung der Infrastruktur und der Lebensverhältnisse von hervorragender Bedeutung. Je nachdem, welche Wirtschaftssubjekte beteiligt waren, richteten sich die Beziehungen zwischen ihnen entweder nach dem Planungs- bzw. Vertragsrecht oder nach dem Zivilrecht. Eine langfristige und systematische Politik gegenüber diesem Sektor ist allerdings nicht auszumachen – sieht man von einem permanenten Misstrauen ab.

Die rechtliche und organisatorische Basis der DDR-Wirtschaftslandschaft war also keineswegs so einseitig und eindeutig, wie oft gedacht wird. Die Grundstruktur wurde durch die sowjetische Besatzungsmacht mit ihrem Befehl Nr. 76 vom 23. April 1948 geschaffen. Dieser Befehl umfasste aber nur die Betriebe, die im Besitz der Landesverwaltungen oder im Zuge von Enteignungen »in das Eigentum des Volkes« übergegangen waren. Alle anderen Unternehmen bestanden weiter auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und des Handelsgesetzbuches (HGB). Ersteres verschwand mit dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches (ZGB, 1975). Die anzuwendenden Regelungen des ZGB waren allerdings für den Laien noch kryptischer als die des BGB. Das HGB war bis zum Ende der DDR gültig und deckte so die Existenz von KGs, GmbHs und AGs ab.

Versucht man in den Lehrbüchern der DDR-Zeit etwas über die Wirtschaftssubjekte und ihre Spezifika zu erfahren, wird man enttäuscht sein. Trotz der auch von offizieller Seite immer wieder betonten Bedeutung der Privaten für die Versorgung der Bevölkerung finden sich praktisch keine politökonomischen Betrachtungen zu der Bewegungsweise von Wirtschaftssubjekten jenseits der VEB, Kombinate und LPG. Dass es OEB überhaupt gab, war eher aus dem Impressum von Büchern zu erfahren als aus offiziellen Quellen. Das erste Lehrbuch zum Wirtschaftsrecht in der DDR erschien erst 1985 – und der Teil, der die »Wirtschaftseinheiten« zum Gegenstand hat, erweckt den Eindruck, dass die Autor:innen mit der in der Realität existierenden und rechtlich abgedeckten Vielfalt schwer ringen mussten. Die Lehrmaterialien zur Politischen Ökonomie des Sozialismus behandeln diese Vielfalt eher beiläufig. Interessant bleiben allerdings die Überlegungen in dem 1969 erschienenen Buch »Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR« zur »Einbeziehung des Handwerks und der Gewerbetreibenden in den sozialistischen Aufbau«. Gegenüber dem Entwurf des Buches, in dem der entsprechende Abschnitt den Titel »Die Einbeziehung der städtischen Mittelschichten in den sozialistischen Aufbau« trägt, ist das Kapitel erheblich erweitert und lässt einige Probleme aufscheinen, die sich in den folgenden Jahren immer weiter aufbauten. Bestimmend ist zwar das politische Moment, also die Bündnispolitik, es werden aber auch (vorsichtig) Fragen der Rolle des Unternehmerischen, die Nähe zu den Kunden, die Rolle der Leiter:innen, das Verhältnis von Planmäßigkeit und unternehmerischer Initiative und die spezifischen, ggf. widersprüchlichen Interessen unterschiedlicher Unternehmenstypen in einem sozialistischen Reproduktionsprozess diskutiert. Dabei wird immer wieder die Bedeutung der Betriebe mit staatlicher Beteiligung betont – die vielleicht interessanteste Innovation der DDR-Wirtschaftspolitik. Um die Einbindung von Privatunternehmen in die Planwirtschaft zu verstärken, ohne sie zu verstaatlichen, wurden diese, so sie es wünschten, ab 1956 in Kommanditgesellschaften (KG) umgegründet. Der Staat in Person eines VEB oder einer VVB trat als Kommanditist in das Unternehmen ein. Der Privatunternehmer, nun Komplementär, blieb Unternehmer und bezog auch aus seinen Einlagen Einkommen. Dem Wesen einer KG entsprechend sollte er weiter das Unternehmen prägen, während die neuen Teilhaber die Integration in die Planwirtschaft zu befördern hatten. So sollten die Erfahrungen und die Initiative der Privaten für die Planwirtschaft nutzbar gemacht werden. Dies funktionierte auch gut. So bildete sich in den 1960ern ein einigermaßen funktionierendes Gleichgewicht zwischen staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Akteur:innen heraus. Entsprechend der Spezifik der Bereiche waren sie in die Planung einbezogen und hatten jeweils unterschiedliche Spielräume. Allerdings stand das alles unter dem ideologischen Vorbehalt, dass alle nichtstaatlichen Eigentumsformen nur Übergangsformen zum staatlichen Eigentum seien, wobei staatliches mit gesellschaftlichem Eigentum gleichgesetzt wurde. Die Potenziale dieser Vielfalt als Momente des Vergesellschaftungsprozesses (im politökonomischen Sinne) wurden nicht akzeptiert oder unterschätzt.

Im Jahr 1972 wurden urplötzlich aus den KG VEB, oft mit den ehemaligen Eigentümer:innen als Direktor:innen. Die Begründung erschöpfte sich weitgehend in dem ideologischen Moment. Dass andere Momente, wie etwa hohe Einkommen der Komplementäre oder Probleme bei Streitigkeiten unter Erben in der Unternehmensnachfolge, tatsächlich diesen Schritt in politischer und ökonomischer Hinsicht rechtfertigten, scheint unwahrscheinlich. Zeitzeug:innen meinen, dass diese Form der Verstaatlichung vor allem dem Konsumgüterangebot nicht guttat.

Was bleibt? Vielleicht die Erkenntnis, dass eine Volkswirtschaft der Zukunft offensichtlich verschiedenartige Wirtschaftseinheiten, auch über die in den linken Diskussionen oft favorisierten Genossenschaften hinaus, braucht. Auch in einer nachkapitalistischen Wirtschaft werden die Formen, in denen die wirtschaftlichen Tätigkeiten organisiert werden, flexibel und vielseitig sein müssen – und dabei natürlich auch immer neue Widersprüche hervorbringen.

Im Band 9/I des HKWM werden weitere Aspekte dieser Problematik, übrigens unter dem Stichwort Mischwirtschaft (Autoren Jörg Roesler, Bernd Röttger und Thomas Heberer), diskutiert.

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