Wirtschaft
anders denken.

Degrowth und die Gefahr Ideologischer Beeinflussung

25.07.2023
Mauer vor einer städtischen Skyline mit der Aufschrift "The only sustainable growth is degrowth"Foto: Kamiel Choi auf PixabayDie Forderung nach einer Abkehr vom Wachstum findet wachsenden Zuspruch. Zurecht?

Emissionen und BIP-Wachstum folgen historisch demselben Pfad. Dass eine Abkehr vom BIP-Wachstum aber auch den CO2-Ausstoß senkt, ist zumindest zweifelhaft.

Degrowth ist ein ökonomisches Paradigma, das ursprünglich primär von ökologischen Ökonom:innen entwickelt wurde. Die Kernidee hinter Degrowth ist eine Kritik an Bruttoinlandsprodukt (BIP)-Wachstumsmodellen.

Diese, so Degrowther:innen, sind für negative soziale Entwicklungen und Umweltschäden verantwortlich. Um diese Folgen zu lindern, müssen viele ökonomische Sektoren, insbesondere CO2-lastige, geschrumpft werden, wohingegen andere aufgebaut und gestärkt werden müssen, insbesondere gemeinwohldienliche sozialpolitische Institutionen.

Auf den ersten Blick scheinen Degrowth-Ökonom:innen recht zu haben: BIP-Wachstum und hohe BIP-per-capita Werte machen per se nicht glücklich. Der mit dem BIP korrelierte Wohlstand ist ungerecht verteilt. Und BIP-Wachstum scheint zu unnachhaltigem CO2-Ausstoß zu führen. So scheint es, als sollte man BIP-Wachstum umkehren, also auf degrowth setzen.

Jedoch folgt dieser Schluss nicht. Denn die Kritik der Degrowther:innen verwechselt ökonomische Indikatoren und ihre fehlerhafte Einbettung in orthodoxe Erklärungsmodelle mit realen kausalen Mechanismen. Nicht nur das, Degrowther:innen gehen ideologisch-orthodoxen Ökonom:innen auf den Leim, da sie akzeptieren, dass BIP-Wachstumsmodelle korrekte Aussagen über wirtschaftliche Sachverhalte machen.

Degrowther:innen kommen lediglich zu dem Schluss, dass die Konsequenzen von BIP-Wachstumsmodellen normativ nicht wünschenswert sind und man daher Wachstum umkehren müsse. Damit übersehen sie, dass BIP-Wachstumsmodelle bereits auf methodologischer und konzeptioneller Basis verfehlt sind. Diese Antihaltung zu Wachstumsmodellen übernimmt die begrifflichen und methodologischen Fehler, die Wachstumsmodellen inhärent sind, wenn auch nur im begrifflichen Negativ.

Im Folgenden diskutiere ich die eigentlichen Probleme mit BIP-Wachstumsmodellen. Ich zeige die Fallstricke auf, in denen sich Degrowther:innen unweigerlich verfangen, da sie erhebliche methodologische und ideologische Annahmen von orthodoxen Modellen unkritisch übernommen haben, also ideologischer Beeinflussung zum Opfer fallen.

In diesem Sinne ist der folgende Text nicht primär als Kritik an Degrowth-Modellen zu verstehen, sondern als Veranschaulichung des Problems ideologischer Beeinflussung für kritisch-linke Ökonom:innen. Also jenes Problems, gemäß welchem kritisch-linke oder auch heterodoxe Ökonom:innen ungewollt und unwissentlich ideologiefremde ideologische Annahmen auf begrifflicher und methodologischer Ebene in ihr eigenes Arbeiten einbetten.

Die eigentlichen Probleme mit BIP-Wachstumsmodellen

Die eigentlichen Probleme mit BIP-Wachstumsmodellen sind folgende. Das BIP ist lediglich ein Index. Kein kausaler Mechanismus. Daher kann BIP-Wachstum per se auch nichts verursachen. Gleichfalls ist Wachstum ein technischer, relationaler Begriff, wie z.B. der Begriff »Effizienz«. Zu glauben, dass BIP-Wachstum wichtige kausale Zusammenhänge über wirtschaftliche Aktivität einfängt, akzeptiert im Kern orthodoxe Ökonomie, ohne diese zu hinterfragen.

Tatsächlich ist Wachstum weder gut noch schlecht. Krebswachstum ist schlecht, Wachstum des Durchschnittsalters gut. Diese begriffliche Neutralität von »Wachstum« transferiert zum BIP. Daher waren BIP-Wachstumsmodelle bereits auf der explanatorisch begrifflichen Ebene verfehlt.

Verschleierte Kausalität

BIP-Wachstum hat nie den im vergleich zu anderen relativen Wohlstand westlicher Länder erklärt. BIP-Wachstum hat nie materiellen Wohlstand der Bevölkerung erklärt. Und in diesem Sinne hat BIP-Wachstum nie die wirtschaftliche Entwicklung irgendeines Landes erklärt.

Was wirtschaftliche Sachverhalte, Prozesse und Ereignisse erklärt, sind Dinge wie Industriepolitik, Planung, Hidden Development States, Institutionen, die von wissenschaftlichen zu rechtlichen reichen, und vieles mehr.

Da BIP-Wachstum nie etwas erklärt hat, kann BIP-Wachstum auch nicht erklären, warum spezielle ökonomische Systeme jenen CO2– oder Umweltimpact haben, den sie haben. Warum sie unglücklich machen, usw. Wir können das mit einem Gedankenexperiment veranschaulichen, bei dem es nicht um die Wahrheit der Aussagen geht, sondern die analoge Darstellung von Kausalität.

Nehmen wir an, wir hätten für die letzten 40 Jahre bereits über günstige Kernfusionsenergie verfügt. Nehmen wir weiter an, wir hätten dadurch ein BIP-Wachstum von 10% pro Jahr gesehen. In diesem Fall wäre Kernfusion sowohl für einen Rückgang an CO2-Ausstoß verantwortlich als auch in den 10% BIP-Wachstum reflektiert, u.a. in Form geringer Energie- und daher Produktionskosten. Ferner: In diesem Fall wäre das BIP-Wirtschaftswachstum mit einer Reduktion des CO2-Ausstoßes korreliert gewesen, ohne dass es für diesen ursächlich gewesen wäre.

Im Umkehrschluss ist nicht das eigentliche Weltwirtschaftswachstum Ursache für CO2-Ausstoß, sondern die Nutzung von Technologie, die Energiepolitik von Staaten und Unternehmen sowie die Machtdynamik zwischen ihnen.

Das heißt, verantwortlich für den CO2-Ausstoß westlicher Länder sind neoliberale Staaten, die fossile Brennstoff-Energiekonzerne nicht reguliert haben, die ökonomische Produktion nicht rational organisiert haben (z.B. durch Industriepolitik), sondern diese der Kapitalistenklasse überlassen haben.

Von unkritischen Analysen zu potenziell katastrophalen Politikempfehlungen

Ein anderes, halbwegs fiktionales Beispiel, hilft das Ganze weiter zu veranschaulichen:

Sagen wir, Lebensmittelgroßkonzernen wohlgesonnene Ernährungsepidemiolog:innen hätten ein Modell entwickelt, die eigentlichen Ursachen ernährungsbedingter Gesundheitsschäden zu verschleiern. Aufgrund gesellschaftlicher Einflussnahme durch akademische Preise, Lehrstuhl- und Forschungsfinanzierung, Think-Tanks, Lobbying und vieles mehr, wäre ihr Modell daraufhin Standardmodell an Universitäten geworden—so wie neoliberale Neoklassik es ja in der Tat geworden ist, durch ähnliche Formen der Beeinflussung.

Das fiktionale Ernährungsmodell sagt, dass mit dem Anstieg von Wohlstand die Morbiditätsrate in der Bevölkerung steigt. Die Beobachtung genügt unseren Epidemiolog:innen aber nicht, sondern sie behaupten zusätzlich, dass steigender Wohlstand eine erhöhte Morbiditätsrate verursacht.

Indem sie so etwas Wünschenswertes an etwas Negatives koppeln, hoffen sie dass die Bevölkerung stärker gewillt ist, Gesundheitsschäden als Konsequenz wünschenswerten Wohlstandes in Kauf zu nehmen. Um das Ganze nicht zu durchsichtig zu machen, wird zusätzlich ein wenig Wahrheit in die Behauptungen eingebaut: So behaupten unsere Epidemiolog:innen, dass ein Anstieg an Wohlstand mit einem Anstieg von sitzend ausgeübten beruflichen Tätigkeiten korreliert und mit erhöhten Ausgaben für Nahrungsmittel, was wiederum mit einem globalen Kalorienanstieg einhergeht – beides Umstände, die im Normalfall die Tendenz haben, Morbidität zu erhöhen.

Was man aber verdecken will, ist, wie Lebensmittelgroßkonzerne, also Big AG z.B. Zucker und Salz, die bereits in moderaten Mengen tatsächlich Krankheiten verursachen, nutzt, um Konsument:innen abhängig zu machen, den kalorischen Wert von Produkten zu strecken und mit ungesunden, aber dafür sehr günstigen Lebensmitteln satte Profite zu erwirtschaften.

Teil der Kritik an diesem fiktionalen Modell sollte sein, die eigentlichen Ursachen aufzudecken (z.B. Zucker, Salz, Unternehmensvorgehen) und im Idealfall die Täuschungsmanöver der EpidemiologInnen öffentlich aufzuklären, um BigAG und die Epidemiolog:innen verantwortlich zu halten.

Wäre das Vorgehen potenzieller Kritiker:innen des Täuschungsmodells allerdings analog zur Degrowth-Bewegung aufgebaut, sähe es folgendermaßen aus: Man würde unkritisch akzeptieren, dass Big Ag-freundliche Modelle faktisch korrekt sind, würde aber normativ darauf hinweisen, dass gesundes Leben doch wichtiger ist als Wohlstand und die Ernährung, die damit vermeintlich einhergehen.

Dann würde man behaupten, dass man Wohlstand in der Gesellschaft reduzieren müsse, so dass Menschen sich wieder gesund ernähren könnten. Das heißt, man würde der eigentlichen Täuschung erliegen und eine potenziell problematische Konsequenz daraus ziehen.

Genau diesem Fehler verfallen Degrowth Ökonom:innen. Sie mögen das so formulieren, als ob eine starke Korrelation zwischen CO2-Ausstoß und Wachstum besteht. Aber das ändert natürlich nichts an dem Kernproblem der Verwechslung eines (verfehlten) Indikators mit realen Ursachen, wie der neoliberalen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Und es ändert nichts an dem Umstand, dass die Degrowth Bewegung an Korrelationen hängt, wo sie als Bewegung mit wissenschaftlichem Anspruch nach Ursachen schauen müsste.

Kritik an der Form muss nicht Kritik an der Sache sein

Nun ist es richtig, dass sich viele Degrowth-Befürworter:innen auch differenzierter ausdrücken. Manche machen durchaus klar, dass es ihnen nicht per se um Wachstum geht, sondern dass ihr ökonomisches Programm, z.B. in der Form der Reduzierung der Produktion von gewissen Gütern (z.B. Kraftfahrzeugen) in aller Wahrscheinlichkeit zu degrowth führen wird.

Dennoch hat das Problem bestand, dass viele Degrowth Anhänger:innen bei anderer Gelegenheit den Begriff absolut verwenden und konstant BIP und Wachstum mit Faktoren wie Wohlbefinden und Umweltimpact korrelieren, ohne nach richtiger Ursächlichkeit zu schauen. Das ist gerade von linker Seite her frustrierend, zumal einige Degrowther:innen sich als links oder sogar marxistisch identifizieren. Anstatt Wachstum zu kritisieren und Schrumpfen einzufordern, sollten reale Produktions- und Wirtschaftsformen – wie die neoliberal kapitalistische – kritisiert werden.

Daher bleibt das Kernproblem für die Degrowth-Bewegung der Begriff »Degrowth«. Er lädt konstant zu Fehlschlüssen und Miss-Identifikationen von Kausalverhältnissen ein. Und er wird konstant absolut verwendet. Daher sollten Degrowther:innen ihre Politikvorschläge und Erklärungsmodelle unabhängig von Wachstum und BIP formulieren, sodass wir sie frei von fehlgeleiteten Begriffen bewerten können.

Die Gefahr ideologischer Beeinflussung

Die hier dargestellte Form ideologischer Beeinflussung trifft sicherlich nicht nur auf Degrowth- sondern auch auf green growth Modelle zu. Ebenso wie auf alle anderen Ansätze, die Erklärungsmodelle von Ökonom:innen übernommen haben, ohne sie einer grundlegenden Kritik auf begrifflicher und methodologischer Ebene unterzogen zu haben. Wer z.B. akzeptiert, dass es bei ökonomischem Denken um die Verteilung von knappen Ressourcen in »Märkten« geht, übersieht, dass es sich hier bereits um liberale Annahmen handelt. Man kann ökonomisches Denken genauso gut auf der Basis industriepolitischer Maximierung von Produktion eines Güterüberschusses für das Gute Leben konzipieren, was linke Ökonom:innen auch tun sollten.

Neben Degrowth finden sich viele Beispiele für ideologische Beeinflussung unter kritisch-heterodoxen Ansätzen. Vertreter:innen von mixed economies wollen Marktmodelle partiell übernehmen. Damit laufen sie Gefahr, auch einen Großteil der ideologischen Annahmen, die klassische und neoklassische ÖkonomInnen in vermeintlich harmlosen, sogenannten »Idealisierungen« versteckt haben, zu übernehmen. Viele market socialists akzeptieren die Idee, dass Märkte Planungsmodellen überlegen sind. Sie haben unhinterfragt das liberale Narrativ vom Zusammenbruch der Sowjetunion akzeptiert und die Konsequenzen von shock therapy nie zur Kenntnis genommen. Sie akzeptieren die Dichotomie zwischen Planen und Markt und ignorieren andere Faktoren wirtschaftlichen Erfolges wie Industriepolitik und statecraft.

Das heißt, Degrowther:innen und andere kritische Ökonom:innen müssen mit großer Vorsicht ideologische Annahmen und begriffliche Fehler an jenen Theorien identifizieren, die sie kritisieren. Dies ist notwendig, um sicherzugehen, dass sie diese nicht in ihr eigenes Werk mit aufnehmen und damit ihr eigenes Theoretisieren unterminieren.

Alexander Jeuk ist independent researcher, Autor und Journalist. Er schreibt und forscht zu Philosophie, Ökonomie, Politik und der institutionellen Struktur von Wissenschaft. Er hat einen Blog bei der taz  und einen eigenen substack.

Geschrieben von:

Alexander Jeuk

Unabhängiger Forscher, Autor und Journalist

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