Wirtschaft
anders denken.

Deine Gerechtigkeit, meine Gerechtigkeit

08.09.2017
Gemeinfrei

Uns geht es doch eigentlich gut, findet das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln – und mäkelt herum, dass »trotz der positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung« in Teilen der Bevölkerung sich »das Bild einer gespaltenen, unzufriedenen und von Abstiegsängsten bedrohten Gesellschaft« halte. Und, liegen diese Leute falsch? Mitnichten.

Wie steht es um die Gerechtigkeit? Uns geht es doch eigentlich gut, findet das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln – und mäkelt herum, dass »trotz der positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung« in Teilen der Bevölkerung sich »das Bild einer gespaltenen, unzufriedenen und von Abstiegsängsten bedrohten Gesellschaft« halte. Und, liegen diese Leute falsch? Mitnichten.

Falsch liegt das IW Köln, weil es einfach nicht zwischen der Wahrnehmung der eigenen ökonomischen Position und einer die soziale Lage der Gesellschaft im Ganzen betreffenden individuellen Einschätzung unterscheiden kann. Um es einfach zu formulieren: Man muss nicht arm sein, um sich über die Tatsache zu beklagen, dass zu viele Leute arm und die Einkommen ungleich verteilt sind, dass vielen Kindern die Chancen verbaut und Älteren ein Lebensabend unter Entbehrungen aufgenötigt werden. Gerechtigkeit ist auch eine Frage des Blickwinkels.

Was die IW-Forscherin Judith Niehues am Freitag in einem Newsletter des Instituts als »gegenteilige Befunde« für die ihrer Ansicht nach Fehleinschätzung der »gespaltenen, unzufriedenen und von Abstiegsängsten bedrohten Gesellschaft« hält, sind aber keine – denn dass immer mehr Menschen »ihren Anteil am Lebensstandard als gerecht« empfinden oder sich »subjektiv in immer höhere Schichten« einordnen, ist kein taugliches Argument dagegen, dass dieselben Leute auch der Meinung sein könnten, es gehe hierzulande dennoch weiterhin ungerecht zu.

Richtig ist, dass unlängst eine Studie des Soziologen Holger Lengfeld veröffentlicht wurde, in der dieser vorrechnet, dass die Abstiegsangst in Deutschland auf einem historischen Tiefstand steht. Die Studie erklärt auch, was als Abstiegsangst gemessen wurde: die Sorge um den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes. Die geht zurück, was bei der rein zahlenmäßig guten Beschäftigungsentwicklung auch keine Überraschung ist. Selbst nicht mehr um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes zu fürchten, muss aber noch lange nicht die Bewertung der sozialen Lage insgesamt verändern.

Dass es viele Niedriglöhner gibt, dass die Zahl der nur befristeten Verträge bei Neueinstellungen steigt, dass es eine ungleiche Einkommensentwicklung gibt, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen mit geringen Einkommen real weniger zur Verfügung haben als Anfang der 1990er Jahre – all das gehört auch zum Bild, das sich Menschen von der sozialen Lage machen. Es ist eben die von anderen, die dann negativ in der Bilanz zu Buche schlägt. Man könnte das den Effekt solidarischer Empathie nennen.

Und ja, auch die Wahrnehmung der Gesellschaft als gerecht bzw. ungerecht verändert sich. In einer Umfrage im März gaben 50 Prozent der Befragten an, dass es in der Bundesrepublik alles in allem „eher gerecht“ zugeht, und 44 Prozent meinten, es gehe „eher ungerecht“ zu – das sind andere Zahlen als noch zu Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise. Aber liegen deshalb die 44 Prozent falsch?

Niehus hat zusammen mit Kollegen des IW Köln und von EcoAustria den Zusammenhang zwischen Berichterstattung über Ungleichheit und die Zufriedenheit von Befragten mit eigener wirtschaftlicher Lage und der Bewertung der Umsetzung von sozialer Gerechtigkeit hierzulande untersucht – einen Zusammenhang, den es natürlich gibt, was keine Überraschung darstellt.

Wer drei Nachrichten liest, in denen es um Ungleichheit, Armutsbedrohung und so fort geht, der hat das unmittelbar danach auch bei der Bewertung gesellschaftlicher Lagen noch im Kopf. Dass auch die Wahrscheinlichkeit steigt, selbst sozial abzurutschen, ist auch nur allzu verständlich – die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass unter der Fahne der »Eigenverantwortung« auch soziale Sicherungsnetze gekappt wurden oder die Auffangzone inzwischen materiell deutlich niedriger hängt.

Kurzum: Wer einen Widerspruch zwischen besserer materieller Selbsteinschätzung und weiterhin kritischer Bewertung der real existierenden Ungleichheit konstruiert, muss dafür schon ein Motiv haben. Oder meint das IW Köln, dass es hierzulande keine Problem mit auseinanderklaffender Einkommensentwicklung, Armutsbedrohung in einem reichen Land und Chancenungerechtigkeit gibt?

Der Streit ist übrigens nicht neu. Als vor einigen Jahren um die Ausrichtung und Arbeit des Sachverständigenrates debattiert wurde, machte der Schweizer Ökonom Gebhard Kirchgässer schon einmal darauf aufmerksam, dass man selbstverständlich mit seiner eigenen Lage zufrieden sein – und dennoch die Auffassung vertreten kann, dass die Einkommen zu ungleich verteilt sind. Daraus kann man keine verzerrte Wahrnehmung ableiten.« Genau das ist der Titel der aktuellen IW-Studie. Kirchgässer nannte die Einrichtung seinerzeit übrigens eine »Lobbyorganisation«.

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