»Dem Grunde nach unverfügbar«? Zehntausende Totalsanktionen im Hartz-System und das Grundgesetz
Karlsruhe spricht vom »Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums«, das »dem Grunde nach unverfügbar« sei und also eingelöst werden »muss«. Die umstrittenen Hartz-Sanktionen passen damit nicht zusammen. Nun gibt es neue Zahlen über das viel kritisierte Strafinstrument.
Es gibt neue Zahlen zum Hartz-Regime und sie geben erneut Anlass, über dessen Verfassungsmäßigkeit zu reden. 2017 wurde 34.000 Menschen der Bezug der Sozialleistung »vollständig gestrichen, weil sie gegen Auflagen der Jobcenter verstoßen hatten«. Das berichtet die »Rheinische Post« unter Berufung auf Zahlen der Bundesregierung, welche die Grünen verlangt hatten. Laut der Daten, zu denen die Bundesagentur zulieferte, »wurden gegen insgesamt 204.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte zwei und mehr Sanktionen ausgesprochen, 217.000 weitere Bezieher von Hartz IV bekamen eine Sanktion auferlegt«.
Der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Sven Lehmann, hat inzwischen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil gedrängt, die angekündigte »kritische Überprüfung der Sanktionspraxis bei Hartz IV« zu beschleunigen. »Bei unbequemen Fragen dazu ducke sich die Bundesregierung aber weg. Lehmann wirft der Koalition von Union und SPD vor, nicht ausreichend Verantwortung für eine gute Beratungs- und Betreuungsqualität in den Jobcentern zu übernehmen«, berichtet die Zeitung vorab und zitiert Lehmann mit den Worten: »Die Jobcenter sind nicht bedarfsdeckend finanziert und das Personal mit Bürokratie überlastet, so dass individuelle Förderung und passgenaue Vermittlung oft auf der Strecke bleiben.« Angesichts dieser Mängel seien Sanktionen nicht mehr zu rechtfertigen.
Die Frage ist, ob sie überhaupt zu rechtfertigen sind – vom Standpunkt eines solidarischen Gemeinwesens und aus Sicht des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2010 entschieden, »das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind«. Und weiter: »Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden.«
»Dem Grunde nach unverfügbar«: Das ist der springende Punkt. In Karlsruhe ist derzeit ein Verfahren zu der Frage anhängig, »ob die Sanktionsregelungen in § 31a in Verbindung mit §§ 31 und 31b des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch … mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG Sozialstaatlichkeit und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und mit Art. 12 GG vereinbar sind.«
In dem Verfahren, das vom Sozialgericht Gotha angestrengt wurde (Vorlagenbeschluss), hat Karlsruhe »wie üblich Stellungnahmen von sachkundigen Organisationen eingeholt. Neben Darstellungen der Bundesregierung, der Agentur für Arbeit und des Städte- und Landkreistags, die die bisherige Sanktionspraxis verteidigen, liegen dem Gericht 13 andere Gutachten vor, deren Verfasser schwere verfassungsrechtliche Bedenken äußern. Neben dem Deutschen Sozialgerichtstag und dem Deutschen Anwaltsverein gehören vor allem Sozialverbände zu den Verfassern kritischer Stellungnahmen, darunter auch der Sozialhilfeverein Tacheles«, so die Zeitung »Jungle World«.
Aus dem Gutachten des Sozialverbandes Deutschlands kann stellvertretend zitiert werden: »Weil eben das Existenzminimum aber bereits die unterste Grenze des unabweisbare notwendigen Bedarfs darstellt, stellt jede Unterschreitung dessen einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition dar, der wegen des Menschenwürdegehalts des betroffenen Grundrechts keiner Rechtfertigung zugänglich ist«, heißt es darin.
Das Problem besteht von zwei Seiten her: Erstens steckt im Existenzminimum schon eine nach unten nicht mehr zu unterschreitende Grenze. »Weil die Leistungen nach dem SGB II allerdings der Bedarfsdeckung und somit dem Erhalt einer Existenzgrundlage des Einzelnen dienen, stellen Sanktionen einen besonderen Einschnitt dar. Schließlich stellt jede Einschränkung der Leistung zugleich eine Einschränkung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dar.« Und weiter: »Eine Kürzung komme nur dann in Betracht, wenn das zum Leben unerlässliche zur Verfügung steht.« Nicht nur der SoVD vertritt aber »die Auffassung, dass Regelleistungen an den Berechtigten zu niedrig bemessen sind. Folgt man diesem Ansatz im vorliegenden Sachverhalt, wäre jede Einschränkung auch zugleich eine Verletzung dessen.«
Geht man trotzdem davon aus, dass das Grundrecht der Abwägung zugänglich sei, tritt das zweite Problem zutage: Die Anwendung von Sanktionen wäre »nur dann gerechtfertigt, wenn diese einen legitimen Zweck verfolgt und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit geeignet, erforderlich und angemessen ist«. Den Zweck könnte man noch aus dem auch gesetzlich niedergelegten Grundsatz des »Förderns und Forderns« ableiten. »Hilfsbedürftige, welche eine steuerfinanzierte Leistung in Anspruch nehmen, sollen ihrerseits das bestmögliche unternehmen um die Hilfsbedürftigkeit schnellstmöglich zu verringern und zu beenden«, so formuliert das das SoVD-Gutachten.
Und dann kommen drei Aber: »Es bestehen jedoch bereits Zweifel an der Geeignetheit des Mittels. Geeignet ist das Mittel, wenn es den bezweckten Erfolg fördert. Jedoch kann es dahingestellt bleiben, ob die Anwendung von Sanktionen tatsächlich zu einer Arbeitsmarktannäherung und Motivation des Einzelnen führt oder vielmehr sich kontraproduktiv auswirkt, weil dadurch Ohnmachtsgefühle und Existenzängste einhergingen.« Zweitens »erweist sich die Anwendung von Sanktionen nicht als erforderlich zur Erreichung des angestrebten Ziels. Erforderlich ist das Mittel, wenn keine gleich wirksamen oder milderen Mittel zur Verfügung stehen.« Diese ständen aber zur Verfügung, etwa bessere Betreuung und Beratung. Drittens: »Im Rahmen der Angemessenheit sind die sich widerstreitenden Interessen in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Nach der derzeitigen Anwendung der Norm sind die Interessen nicht schonend ausgeglichen, weil die Interessen des Hilfebedürftigen nicht ausreichend berücksichtigt werden.«
Folgt man diesem Gedankengang, sind Sanktionen insgesamt mit dem Grundgesetz nicht zu legitimieren, so genannte Vollsanktionen schon gar nicht. Dabei geht es um Zehntausende Betroffene. Anfang 2017 ergab eine Anfrage der Linksparteivorsitzende Katja Kipping, dass 2015 durchschnittlich 7.000 Leistungsberechtigte im Monat total sanktioniert gewesen seien, 2008 waren dies sogar noch im Durchschnitt 12.000 Vollsanktionierte im Monat. Die Regierung erklärte damals, ihr sei nicht bekannt, was mit den Betroffenen der Totalsanktionen nach Ende der Hartz-Strafe passiert – ob sie wieder in einen ungekürzten Leistungsbezug zurückkehren oder gar den Kontakt zum Jobcenter abbrechen.
2016 wurden von den Jobcentern fast eine Million Sanktionen gegen Bezieher von ALG II verhängt, diesen wurden damit zusammengenommen 175 Millionen Euro Sozialleistungen vorenthalten. In den vergangenen zehn Jahren belief sich die Summe der Gelder, die die Jobcenter auf diese Weise »einsparten«, auf sogar 1,9 Milliarden Euro.
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