Wirtschaft
anders denken.

Demografie statt Digitalisierung, Preise und Plurale Ökonomik: Zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik

04.09.2018
Jörg Blobelt ,Lizenz: CC BY-SA 4.0

Warum sich Demografie gravierender auswirken könnte als Digitalisierung? Wer für welche Forschungen ausgezeichnet wird? Und wie der Stand der Pluralen Ökonomik ist? Der OXI-Überblick zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, der wichtigsten Vereinigung von Ökonominnen und Ökonomen im deutschsprachigen Raum.

Die Website der Konferenz sieht nicht eben nach digitaler Begeisterung aus, aber nun denn: Seit dem Wochenende tagt die wohl wichtigste Vereinigung von Ökonominnen und Ökonomen im deutschsprachigen Raum in Freiburg – der Verein für Socialpolitik (VfS).

Schwerpunkt der Jahrestagung ist die »Digitale Wirtschaft«, im Programm ist von Fortschritten in der Computertechnologie die Rede, die »für einen tiefgreifenden Wandel in den Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen, für revolutionäre, datengetriebene Geschäftsmodelle und für fundamental neue Probleme und Chancen für die Wirtschaftspolitik und Regulierung« sorgen. Alsdann folgt einer der Sätze aus dem Standardrepertoire heutiger Politikerfloskeln: »Die Gestaltung der digitalen Wirtschaft durch Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist eine der drängendsten und wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit.« 

Die Tagung bietet drei Promis für den Schwerpunkt auf, Google-Chefökonom Hal Varian, Susan Athey von der Stanford University und David Parkes von der Harvard University. Die ersten Berichte aus Freiburg, dem »Heimatort des Ordoliberalismus«, drehen sich denn auch vor allem um die Frage, welche Auswirkungen die fortschreitende technologische Entwicklung hat.

Im »Handelsblatt« wirft Norbert Häring einen eher skeptischen Blick nach Baden: »Die Themen, die sich der Verband ausgesucht hat, sind bei den einen mit großen Hoffnungen auf ein besseres und bequemeres Leben verbunden, bei anderen mit Angst vor Jobverlust und Marginalisierung: Es geht um Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Automatisierung und Roboter.« Man dürfe damit rechnen, so Häring mit Blick auf das ökonomietheortische Freiburger Setting, »eine positive Sicht auf die technologischen Umwälzungen dominieren wird«. Einer der Ausrichter, Lars P. Feld vom Walter Eucken Institut, habe schließlich schon in einer Studie »den berühmten ordoliberalen Namensgeber seines Instituts mit der Verheißung« zitiert, »dass der technische Fortschritt Konkurrenz verstärkt, Marktmacht reduziert und damit den Konsumenten dient«.

In der »Süddeutschen« berichtet Victor Gojdka von der Tagung unter der Schlagzeile »Warum die Gesellschaft Roboter braucht«. Und warum? Wo doch Gojdka auf »viele Stimmen in der Gesellschaft« verweist, die aktuell eine »düstere Stimmung« in Sachen Automatisierung verbreiten? Worauf er »Ökonomen, Soziologen, Politiker, Philosophen« anführt – um dann ausgerechnet Richard-David Precht zu zitieren: »Wir werden in einer Zukunft leben, in der es viele Millionen Menschen ohne Jobs geben wird.« In Freiburg habe Hal Varian dagegen gehalten: »Heerscharen von Nutzlosen seien kaum zu erwarten.« 

Auch in Gojdkas Bericht werden dann eine Reihe von Studien aufgeführt, von Carl Freys und Michael Osbornes »atemberaubender Zahl«, laut der angeblich 47 Prozent aller Jobs in den USA in den nächsten zwei Jahrzehnten in Gefahr seien – bis zu Beispielen aus der Vielzahl nüchterner, differenzierter Analysen, die zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Auch Varian hält es für unwahrscheinlich, dass die Digitalisierung ganze Berufsbilder vollständig ersetzt. 

In der »Frankfurter Allgemeinen« gibt Philipp Plickert aus Varians Rede wieder, „viele Gedanken, die wir uns in den vergangenen Jahrzehnten über den Arbeitsmarkt gemacht haben, werden bald weniger wahr sein«. Und: »Ein Beruf ist erst dann automatisiert, wenn jede einzelne Aufgabe des Berufs automatisiert ist. Aber das geschieht sehr selten.«

Noch einmal zurück zu Gojdkas Bericht: Der US-Ökonom habe stattdessen ein anderes »schlagendes Argument« angeführt: die Demografie. »Während der Anteil der Älteren in der Gesellschaft immer größer wird, kommen nicht genug junge Menschen nach. Die Zahl der Arbeitnehmer wachse nur noch halb so schnell wie die Gesamtbevölkerung, meint der Ökonom. ›Aber die vielen Alten wollen ja auch etwas konsumieren‹, sagt Varian. Auch ohne die zurzeit gute Wirtschaftslage drohe in den nächsten Jahrzehnten daher ein Mangel an Arbeitskräften«. Man könne also »froh sein, wenn wir die Auswirkungen der Demografie durch künstliche Intelligenz kompensieren können«, wird in Gojdkas Bericht der Wirtschaftsweise Feld wiedergegeben.

Dass auf der Tagung bereits die Frage aufgeworfen wurde, ob bei solchen Argumentationen auch bedacht wurde, dass viele Entwicklungs- und Schwellenländer wahrlich kein Alterungsproblem haben, sondern viele junge Menschen dort leben, spielt auch im Bericht von Jürg Müller der »Neuen Zürcher Zeitung« eine Rolle: »Demografie ist genauso wichtig wie Technologie«. Varian habe in seiner Rede »etwas den Untergangspropheten entgegenhalten, die vor einer baldigen Massenarbeitslosigkeit wegen des technologischen Fortschritts warnen«. Das Arbeitsangebot werde in den nächsten Jahrzehnten zurückgehen – apropos Demografie. »Nicht nur Jobs verschwinden also wegen der Technologie, sondern auch Arbeitskräfte wegen der Demografie – je nach Studie überwiege der demografische Effekt massiv, was sogar eine kommende Arbeitsknappheit anzeigen würde.«

Die NZZ widmet sich zudem der Auszeichnung von Moritz Schularick mit dem Hermann-Heinrich-Gossen-Preis, der mit 10.000 Euro dotiert ist. Der Bonner Professor wurde für seine Forschung über langfristigen Entwicklungen auf den Finanzmärkten und die Möglichkeit, daraus Erkenntnisse für die Ursache und Intensität von Finanzkrisen abzuleiten, geehrt. In der FAZ heißt es dazu: »Viel beachtet wird auch seine Studie über die durchschnittlichen Real-Renditen von Aktien, Immobilien, Anleihen und Sparguthaben in sechzehn Ländern von 1870 bis 2015. Sein erstaunliches Ergebnis: Die langfristige Rendite auf Wohneigentum sei mit mehr als 7 Prozent der langfristigen Aktienrendite durchaus vergleichbar – bei geringerem Risiko allerdings. Besonders seit den 1970er Jahren haben die Immobilienpreise in den meisten Ländern kräftig angezogen. Anleihen kommen real langfristig nur auf 1,5 Prozent, Bankeinlagen bloß auf mickrige 0,3 Prozent Rendite nach Inflation. Auch zur Ungleichheitsforschung hat Schularick damit wichtige Beiträge geleistet.« 

Der mit 20.000 Euro dotierte Carl-Menger-Preis geht an die Londoner Professorin Silvana Tenreyro für ihre Forschung zur Theorie und Empirie optimaler Währungsräume.

Im Fazitblog widemt sich Gerald Braunberger der Frage »Nehmen Menschen Konjunkturprognosen ernst?« Sein Text beleuchtet die Ehrung zweier junger Ökonomen – Christopher Roth und Johannes Wohlfart  – für eine Arbeit, »in der sie sich empirisch mit einer sehr wichtigen Frage befassen: Inwieweit berücksichtigen Konsumenten Konjunkturprognosen für die Bildung eigener Erwartungen über ihre wirtschaftliche Zukunft?« Die vorliegende Arbeit erhielt den Reinhard-Selten-Preis, die Forschung ist wichtig für makroökonomische Modelle, in denen die Erwartungen der Menschen über die wirtschaftliche Zukunft eine wichtige Rolle spielen, aber die Frage offen bleibt, ob sich Konsumenten auch wie die modellhaft konstruierten rationalen Teilnehmer am Wirtschaftsleben verhalten.

In der »Badischen Zeitung« geht es unter anderem um die Selbstreflexion der Ökonomenzunft zehn Jahre nach der Finanzkrise – und die Chancen der Digitalisierung für Regulierung. Das Blatt berichtet über Bundesbank-Vorstand Joachim Wuermeling, der in Freiburg auf der VfS-Tagung über den »Einsatz neuer Technik« bei der Bankenaufsicht sprach. Man könne so etwa »in Echtzeit über Fehlentwicklungen wie eine übermäßige Vergabe riskanter Kredite Auskunft geben«. Allerdings, so Wuermeling, würde traditionellen Notenbankern »noch die Fantasie« fehlen »und das technische Verständnis«. Stefan Augustin von der Oesterreichischen Nationalbank äußerte sich ebenfalls optimistisch, was die Verbesserung der Bankenaufsicht durch Digitalisierung angeht.

In der »Wirtschaftswoche« hat Bert Losse bereits vor der Tagung mit dem Ökonomen Nils Goldschmidt »über die Lagerkämpfe in der deutschen VWL und die Chancen eines Wandels in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten« gesprochen – der auch die Netzwerke pluraler Ökonomik ein bisschen kritisiert: »Heterodoxe Ansätze in der Wissenschaftswissenschaft sind aber kein Substitut für die Mainstream-Ökonomie, sondern eine wichtige und notwendige Ergänzung. Ich plädiere dafür, dass die unterschiedlichen Lager der Ökonomenzunft ihre Konfrontation beenden und aus ihren inhaltlichen und methodischen Schützengräben herauskommen. Die pluralen Ökonomen haben sich in der Vergangenheit mit ihren teils provokant inszenierten Gegenveranstaltungen zu VfS-Tagungen keinen Gefallen getan.« Umgekehrt suggeriere »die Mainstream-Ökonomie gern, die heterodoxen Ökonomen seien fachlich nur zweite Wahl«.

Goldschmidt ist Professor für Kontextuale Ökonomik und Ökonomische Bildung in Siegen und hat den bundesweit ersten Masterstudiengang in Pluraler Ökonomik mitgegründet. »Wir brauchen daher ein breiteres Spektrum in der ökonomischen Ausbildung, und wir brauchen eine größere Offenheit für neue wissenschaftliche Methoden. Dafür muss die plurale Ökonomik muss beweisen, dass sie wissenschaftliche Exzellenz hat«, sagt er im Gespräch mit der »Wirtschaftswoche«. Inzwischen würden plurale Ökonomen an deutschen Hochschulen »nicht mehr per se als Esoteriker« gelten, es gebe aktuell sogar »Gespräche mehrerer Universitäten über ein gemeinsames Graduiertenprogramm für plurale Ökonomik«. Und: »Die plurale Ökonomik ist eine Wachstumsbranche. In zehn Jahren werden die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten anders aussehen als heute.«

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