Wirtschaft
anders denken.

Zu wenig Kinder, zu viele Katzen

12.11.2022
Menschen verschiedenen Alters stehen in der Schlange beim JobcenterIllustration: Lena Westphal

Wo Wirtschaftswachstum zum Naturgesetz erhoben wird, muss demografischer Wandel ein Problem sein. Aus OXI 11/22.

Haustiere hält der Papst für ein bedenkliches Zeichen. Denn für ihn signalisieren sie einen Egoismus in der Bevölkerung. »Wir sehen eine Form der Selbstsucht«, sagte Franziskus Anfang dieses Jahres. »Viele Menschen wollen keine Kinder kriegen – manche haben vielleicht eines, aber das war es dann schon, stattdessen haben sie Hunde und Katzen, die den Platz der Kinder einnehmen.« Die Ablehnung von Vater- und Mutterschaft »reduziert uns, nimmt uns unsere Menschlichkeit«, mahnte der Papst, und führe einen »demografischen Winter« herbei. Wenn Kinderlosigkeit eine Form der Selbstsucht ist, so ist in der päpstlichen Logik Kinderreichtum eine Form der Selbstlosigkeit, des Dienstes. Aber an wem? Ökonom:innen hätten eine Antwort: an der Wirtschaft. Denn Kinder sind eine Ressource des Wachstums. Und da sie derzeit ausbleiben, werden dem globalen Kapitalismus düstere Zeiten vorhergesagt.

Seit Langem wird davor gewarnt, dass sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Generationen verschiebt. Insbesondere in den etablierten Industrieländern werden weniger Kinder geboren, in der Tendenz kommen so immer mehr alte Menschen auf relativ weniger junge. Als Problem gilt diese »Alterung der Gesellschaft« zum einen für die Rentenkassen, bei denen sich analog zu den Generationen das Verhältnis von Einzahlern und Leistungsempfängerinnen verschiebt.

Daneben aber stellt die demografische Entwicklung die Ökonomien vor ein generelleres Problem, das Fachleute auf die schlichte Formel bringen: weniger Junge, weniger Arbeitende, weniger Wirtschaftsleistung beziehungsweise -wachstum. »Das Potenzial an Erwerbsfähigen ist ein wichtiger Faktor für das Wachstumspotenzial eines Landes«, erklärt die DZ-Bank. Als warnendes Beispiel gilt hier Japan, wo die Erwerbsbevölkerung bereits in den 1990er Jahren zu schrumpfen begann. Seitdem »hat sich als Konsequenz das Potenzialwachstum – also das Wirtschaftswachstum, das unter Auslastung der Produktionskapazitäten auf Dauer erreichbar ist – deutlich verlangsamt«, so die Commerzbank.

Dieses Schicksal droht auch Europa. Eine Analyse im Auftrag des EU-Parlaments von September 2019 erklärt den Mechanismus: »Alterung und die demografische Wende wirken negativ auf alle drei Treiber des langfristigen Wirtschaftswachstums: potenzielle Erwerbstätige, Kapitalakkumulation und Produktivität. Weniger Erwerbsfähige senken die Aussichten für das Wirtschaftswachstum. Geringeres Wachstum mindert die profitablen Investitionsmöglichkeiten und die Alterung führt zu geringerer Produktivität.«

Sichtbar wird hier eine Neubewertung der Lage: Denn früher galt die »Überbevölkerung«, also ein Überschuss an Menschen, als zentrales Problem. Die Wirtschaftsleistung und ihr Wachstum, so hieß es, reichten nicht für alle, womit ein Teil der globalen Armut erklärt wurde. Aus dieser Perspektive diente das Wirtschaftswachstum noch den Menschen, wenn auch ungenügend, da es von der Bevölkerungszunahme überfordert wurde. Heute dagegen wird die Bevölkerungsabnahme als Schaden für das Wachstum interpretiert, das mehr Menschen braucht. Das geschädigte Subjekt hat damit gewechselt: Anders als früher fehlt der Menschheit nicht Wirtschaftswachstum, sondern es fehlen Menschen für das Wirtschaftswachstum, dessen Notwendigkeit offensichtlich jenseits der Bedürfnisse der Menschen feststeht.

Mal gibt es zu viele Menschen für die globale Wirtschaft, dann wieder zu wenige – diese wechselnden Problemlagen verdanken sich den speziellen Anforderungen, denen die Arbeit im Kapitalismus ausgesetzt ist. Denn in ihm ist Arbeit nicht einfach das, was getan werden muss, um die Güter des Bedarfs herzustellen. Die Politik umwirbt die »hart arbeitenden Familien«, die Statistikämter zählen monatlich die Erwerbsfähigen, die Erwerbstätigen, die Arbeitslosen und die »stille Reserve« des Arbeitskräfteangebots. Offensichtlich existiert ein gesellschaftliches Bedürfnis nach viel Arbeit, und es gibt ja auch viel zu tun. Also: Ran an die Arbeit!

Doch so einfach ist es nicht. Denn Arbeit im Kapitalismus muss »wirtschaftlich darstellbar« sein und das heißt: rentabel. Ihre »Wirtschaftlichkeit« bemisst sich für die Unternehmen anhand des Verhältnisses von Lohnkosten zu Arbeitsleistung. Am Ende muss die Arbeit dem Unternehmen einen Überschuss über die Kosten einspielen. Nur dann findet sie statt, nur dann werden Arbeitsplätze geschaffen. In diesem Sinne hat der häufig kritisierte Begriff des »Arbeitgebers« eine gewisse Berechtigung, drückt er doch die Abhängigkeit jener aus, die auf Lohn angewiesen sind.

Es wird zwar immer wieder gesagt, es brauche Investitionen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Tatsächlich aber wird gearbeitet, um Investitionen lohnend zu machen. Das Mittel dazu sind für die Unternehmen möglichst geringe Lohnkosten und ein möglichst hoher Arbeitsertrag, also die Steigerung der Produktivität. Unternehmen versuchen daher, einerseits den bezahlten Arbeitseinsatz zu vermindern, was sich im Ideal der »menschenleeren Fabrik« widerspiegelt, die in Wahrheit eine lohnlose Fabrik ist. Von der rentablen Arbeit andererseits kann das Kapital gar nicht genug bekommen. In diesem Sinne gilt jede:r Arbeitslose als verschwendete volkswirtschaftliche Ressource, weswegen Nicht-Erwerbstätige im englischen als »labour market slack« bezeichnet werden – als Ausfall.

Für die Bedürfnisse der »Wirtschaft« müssen also Erwerbsfähige vorhanden sein, in ausreichender Menge und Qualifikation und zu einem rentablen Preis. Dieser Preis, der Lohn, ergibt sich laut Volkswirtschaftslehre aus Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, also aus einem dauernden Machtkampf zwischen den Unternehmen und den lohnabhängigen Menschen. In diesem Machtkampf spielen auch die Arbeitslosen eine entscheidende Rolle. »Denn bei schwacher Konjunkturlage oder in Rezessionsphasen, also bei unterausgelasteten Kapazitäten und erhöhter Arbeitslosigkeit, befindet sich die Arbeitnehmerseite bei Tarifverhandlungen in einer vergleichsweise schlechten Position«, erklärt die DZ-Bank. »Die Lohnsteigerungen fallen daher geringer aus. Umgekehrt sollte es sich in Boom-Phasen verhalten, wenn Arbeits- und Fachkräfte knapp sind. Ein leergefegter Arbeitsmarkt stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer wesentlich.«

Von Unternehmensseite gibt es also ein Bedürfnis nach möglichst reichhaltigem Arbeitskräfteangebot und einer gewissen Arbeitsüberbevölkerung. Bedient wurde dieses Bedürfnis nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen jahrzehntelangen Anstieg der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Ab den achtziger Jahren kam eine weitere Arbeitskräftequelle hinzu: Die »Globalisierung«, also die Integration des Erwerbspotenzials Chinas und des »Ostblocks« in die »internationale Arbeitsteilung«. Der britische Ökonom Charles Goodhart bezeichnete dies als »den historisch größten positiven Schock für das Arbeitskräfteangebot«, der dazu führte, dass in den Industrieländern die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schwand und die Reallöhne stagnierten.

Die Globalisierung erwies sich also als entscheidendes Machtmittel der Unternehmen, die Lohnkosten zu drücken. »Die ausgeklügelten und austauschbaren Lieferketten [ermöglichen es] dem Kapital, überall auf der Welt die niedrigsten Löhne aufzuspüren und die Proletarier gegeneinander auszuspielen. Die Logistik war eine der wichtigsten Waffen in einer jahrzehntelangen globalen Offensive gegen die Arbeiterinnen«, schreibt Jasper Bernes von der Universität Berkeley in Kalifornien.

Dieser Vorteil des Kapitals ist nun bedroht. Denn in vielen Industrieländern gehen nicht nur die Geburtenraten zurück, auch die Zahl der »Working Ager« schrumpft. Für Deutschland errechnet das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) dadurch einen Verlust an Wirtschaftsleistung bis 2035 von 326 Milliarden Euro. Gleichzeitig wird für die Unternehmen der Rückgriff auf Chinas Bevölkerung, die etwas größer ist als die Nordamerikas und Europas zusammengenommen, ebenfalls schwieriger. Denn dort »sinkt die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bereits seit 2010«, so die Commerzbank. Als Folge der früheren Ein-Kind-Politik und dem Wunsch junger Paare nach einer Kleinfamilie werde sie in den kommenden Jahrzehnten ähnlich stark zurückgehen wie in Deutschland. Hinzu komme, dass das Reservoir an Wanderarbeitern ausgeschöpft sei.

Laut Ökonom:innen ist dies ein Schaden nicht nur für die Unternehmen, sondern für alle. Denn mit der Abnahme der arbeitsfähigen Bevölkerung weltweit wächst deren Macht in Lohnverhandlungen. »Können höhere Lohnforderungen durchgesetzt werden, regt dies die Konsumnachfrage an«, erklärt die DZ-Bank. Gleichzeitig bedeuteten höhere Löhne auch höhere Kosten für die Unternehmen. »Beides sind gute Gründe für Unternehmen, die Preise zu erhöhen.« Damit drohen der Welt dauerhaft höhere Inflationsraten – einfach weil die Unternehmen die »guten Gründe« für Preiserhöhungen natürlich nutzen werden, um ihre Profite zu sichern.

Ein sinkender Bestand an Arbeitskräften bedroht also das Wachstum und die Geldwertstabilität. Die Politik macht sich daher daran, der heimischen Wirtschaft mehr Menschen zuzuführen und gleichzeitig »aus den vorhandenen Ressourcen mehr Wirtschaftswachstum zu generieren«, so die DZ-Bank. Daher wird zum einen die Automatisierung vorangetrieben, um Arbeitskräfte einzusparen. Für die Alten wird die Lebensarbeitszeit verlängert und für die Jungen die Ausbildungszeit verkürzt. Mütter und Väter werden mit familienfreundlichen Arbeitsplatzregulierungen in den Arbeitsmarkt gelockt. »Ökonomien werden prosperieren, wenn die Politik den Frauen hilft, Karriere und Familie zu kombinieren«, wirbt der US-Ökonom Matthias Doepke.

Zum anderen wird das Arbeitskräftepotenzial des Auslands aktiviert: einmal über verstärkte Immigration von Fachkräften, außerdem über Investitionen in Länder mit billigen Löhnen und jüngerer Bevölkerungsstruktur. »Mit Indien oder einigen Ländern Afrikas könnte eine ähnlich starke Integration von Arbeitskräften in die globale Wertschöpfungskette gelingen, wie es mit China in den vergangenen Jahrzehnten der Fall gewesen ist«, wirbt die DZ-Bank. »Die Produktionsstandorte könnten erneut verlegt werden.«

Ein reichliches Angebot an arbeitsfähigen und -willigen Arbeitskräften soll allerdings nicht nur das Wirtschaftswachstum stärken. Es soll darüber hinaus auch dazu dienen, die geopolitischen Machtverhältnisse zu sichern. Insbesondere in den USA wird aktuell über sinkende Geburtenraten geklagt, zwischen Juli 2020 und Juli 2021 wuchs die Bevölkerung nur um 0,1 Prozent. »Die USA sollten auf ein schnelleres Bevölkerungswachstum zielen, um international besser konkurrieren zu können, insbesondere mit China«, so Matthew Yglesias, der 2020 das Buch »Eine Milliarde Amerikaner« veröffentlichte.

Zwischen den USA und China läuft das Rennen darum, wer auf Dauer die größte Ökonomie des Globus ist. Denn in Sachen internationale Macht zählen weniger Wachstumsraten als pure Wirtschaftsmasse, die die Mittel auch für das Militär generiert. China ist, trotz tendenziell abnehmender Arbeitsbevölkerung, bereits nahe an die USA herangerückt. »Wenn die US-Regierung ihrer eigenen Bevölkerung erlaubt zu stagnieren, wird es für die USA extrem schwierig, China geopolitisch auf Dauer in Schach zu halten«, so Yglesias.

Daher hat Washington nun ebenfalls Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Amerikaner zu mehr Kindern zu animieren. Daneben werden die Einwanderungsgesetze angepasst. Um eine längere Lebensarbeitszeit braucht sich Washington angesichts der verbreiteten Altersarmut nicht zu kümmern, die Alten arbeiten vielfach »freiwillig« über das Renteneintrittsalter hinaus. »Seid ihr bereit, bis zum Tod zu arbeiten?«, fragt der US-Ökonom Stephen Mihm. »Amerika braucht euch.«

Geschrieben von:

Stephan Kaufmann

Journalist

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