Den Alltag verändern
Keine Heilserwartungen trieben die Sozialpsychologin und überzeugte Sozialistin Marie Jahoda an. Sie suchte tragfähige Antworten auf praktische Fragen und schöpfte dabei tief. Mit ihrer Haltung reüssierte sie in England und Amerika, weniger aber in Deutschland. Erst spät wurde ihr hier wieder Anerkennung zuteil.
Lebte sie noch, hätte Marie Jahoda dem allgemeinen Lamento über soziale Medien, neue Schimpfkultur und postfaktisches Zeitalter Korsettstangen eingezogen. Zu mancher Debatte, die heute noch aktuell ist, hat sie schon damals Substanzielles beigetragen. »Wen erreicht Propaganda, die Vorurteile bekämpfen will?«, das war eine der Fragen, die sich die Sozialpsychologin stellte. Ihr Aufsatz Können Bücher schädlich sein? enthält alles, was heute für und wider brutale Computerspiele vorgebracht wird. Auf solche alltäglichen Fragen ließ Marie Jahoda allerdings keine Besinnungsaufsätze oder Feuilleton-Artikel folgen. Wer ihren Überlegungen folgen wollte, musste sich anstrengen. Jahodas Anspruch war, wirklich alle Aspekte eines Themas in den Blick zu nehmen – die gesellschaftlichen ebenso wie die psychologischen und individuellen.
Zuerst ordnete sie die Argumente – im Falle der »schädlichen Bücher« bis zurück zu Platon und Aristoteles. Dann aber musste wenigstens eine kleine empirische Untersuchung folgen. Was kommt denn wirklich heraus, wenn Kinder den ganzen Tag am Bildschirm spielen? Das hätte sie wissen wollen. »Sie gehörte nicht zu denen, die sich sagen: Jetzt setz ich mich mal hin und denke nach; es wird schon was Gescheites dabei herauskommen«, sagt der österreichische Soziologe Christian Fleck, der mit seiner emigrierten Landsmännin bis zu deren Tode Kontakt pflegte und auch ihren Nachlass verwalten darf. Leider ist es ein dünner Nachlass, klagt Fleck: »Sie nahm sich eben nicht so wichtig wie andere, die jeden Zettel für die Nachwelt aufhoben.«
Scharfsinn, Neugier und Nüchternheit auf der einen, unerschütterliche Parteilichkeit für die Benachteiligten und Unterdrückten auf der anderen Seite zeichnen Jahodas Lebenswerk aus. Vor allem aber der Wunsch, zwischen beiden Impulsen keinen Widerspruch aufkommen zu lassen.
In der Sozialwissenschaft stritten schon vor, aber noch stärker nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Schulen miteinander: die Frankfurter und die Wiener. Beide gehörten eindeutig zum linken Spektrum, alle kannten ihren Marx. Während die Frankfurter sich aber an Hegel und seiner Dialektik orientierten und originelle philosophische Theorien schufen, blieben die Wiener näher bei der Praxis, interessierten sich deshalb auch für die beginnenden Meinungs- und Wahlumfragen und waren sich selbst für Marktforschung nicht zu schade.
Arbeit, so die von Jahoda mit vielen Fakten unterfütterte Erkenntnis, strukturiert den Alltag, erweitert das soziale Umfeld, versorgt die Menschen mit Lebenssinn, weist ihnen Status und Identität zu und gibt ihnen die Chance, ihre Lebensumstände zu kontrollieren.
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In der Nazizeit mussten beide Schulen ins Exil. Aber auch dort konnten sie wenig miteinander anfangen. Eine Zeit lang arbeitete die Wienerin für den schwäbischen Frankfurter Max Horkheimer in New York. Lange ging das nicht gut. Als Jahoda später einen Sammelband zum »autoritären Charakter« herausgab, einem wichtigen Thema in der unmittelbaren Nachkriegszeit, geriet die selbstbewusste Frau auch mit dem genialen, aber leicht entrückten Theodor W. Adorno aneinander. Die beiden Haltungen der Wiener und der Frankfurter entstanden auf unterschiedlichem Boden. Das Wien der 1920er-Jahre, wo Jahoda aufwuchs, war eine Art Stadtstaat im Staate gewesen, ein Labor für sozialistische Ideen. Ständig erwuchsen den Regierenden der Stadt neue Fragen, auf die kein Theoretiker von sich aus gekommen wäre. In Deutschland dagegen herrschte in der Linken ein lähmendes Patt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten – Veranlassung für viele kritische Geister, in abstrakte Sphären zu entfliehen.
So richtig zusammen kamen beide Strömungen nicht wieder. Heilserwartungen und Endzeitstimmung blieben Jahoda zeitlebens fremd. Der Studentenbewegung von 1968, deren Ausläufer sie in England erlebte, stand sie skeptisch bis verständnislos gegenüber. Sie warf den Rebellen Antisemitismus vor. Mit dem dogmatischen Parteikommunismus, zu dem sich manche von ihnen in den 1970er Jahren bekehrten, hatte sie schon als junge Frau abgeschlossen. Besser verstand sie sich mit den Sozialdemokraten Bruno Kreisky und Willy Brandt, deren geistige Wurzeln ihr vertraut waren.
Jahodas bekanntestes Werk über Die Arbeitslosen von Marienthal sorgt heute wieder für Kontroversen. Lange Zeit war unumstritten, was sie und die Wiener Forschergruppe belegt haben wollten: Dass Arbeit nicht nur wichtig ist, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern darüber hinaus andere lebenswichtige »latente« Funktionen erfüllt. Arbeit, so die von Jahoda mit vielen Fakten unterfütterte Erkenntnis, strukturiert den Alltag, erweitert das soziale Umfeld, versorgt die Menschen mit Lebenssinn, weist ihnen Status und Identität zu und gibt ihnen die Chance, ihre Lebensumstände zu kontrollieren.
Eine Herausforderung sind die Ergebnisse der Studie für BefürworterInnen von »Lohn für Hausarbeit« und des bedingungslosen Grundeinkommens. An den Daten, die Jahoda erhob, zweifelt zwar niemand, die »sozialistisch gesonnenen« Forscher hätten aber den »Tendenzen zur Selbsthilfe« unter den Arbeitslosen zu wenig Beachtung geschenkt, meinen etwa die bekannten deutschen Volkskundler Gertraud Koch und Bernd Jürgen Warneken — ohne allerdings näher darauf einzugehen.
Der Wiener Sozialphilosoph und Propagandist Karl Reitter behauptet, die heutigen Arbeitslosen seien »fordernder«, »aus der Rolle der bloßen Objekte herausgetreten«. An der (bescheidenen) Zahl von Arbeitsloseninitiativen dürfe man das nicht messen. Das sei vielmehr »etwas Seismografisches«. Spätestens an der Stelle hätte Marie Jahoda heftig mit dem Kopf geschüttelt, das Mikro ausgepackt und sich geschickte Fragen für die Flure des Arbeitsamts ausgedacht.
Kontext: Die Arbeitslosen von Marienthal
Hundert Jahre lang hatte eine Spinnerei dem ganzen Industriedorf Marienthal bei Wien mit seinen vielen Zuzüglern aus Böhmen und Mähren Arbeit und Brot gegeben. 1930 dann, in der Zeit der Großen Depression, schloss die Fabrik von einem auf den anderen Tag, und fast alle Menschen im Ort wurden arbeitslos. Im Herbst 1931 kamen junge, engagierte ForscherInnen aus Wien dorthin und wollten herausfinden, was Arbeitslosigkeit mit Menschen macht. Unter ihnen auch die 24-jährige Marie Jahoda, die Interviews führte, Daten sammelte und am Ende den Text schrieb.
Die ForscherInnen zeichneten mit neuen Methoden ein genaues Bild vom Verfall der Ortsgemeinschaft. Um etwas über die Zukunftshoffnungen der Marienthaler herauszufinden, ließen sie die Kinder ihre Weihnachtswünsche malen. Sie maßen die Gehgeschwindigkeit im Ort. Um das Konsumverhalten der Marienthaler zu ergründen, studierten sie die Abrechnungen des örtlichen Kaufladens – insgesamt 30 Kilo Material kamen zusammen. Die WissenschaftlerInnen lebten zwar nicht im Ort, kamen aber oft und organisierten auch Hilfe, wo sie nötig war. »Teilnehmende Beobachtung« würde man das Verfahren heute nennen. An ihrem kühlen, vorurteilsfreien Blick ließen Jahoda und ihre Freunde keinen Zweifel – aber auch nicht an ihrer sympathisierenden Einstellung. Wissenschaftliches Interesse und politisches Engagement empfanden sie nicht als Gegensatz.
Vier verschiedene »Haltungen« identifizierten sie bei den Marienthalern – am häufigsten eine »resignierte«, daneben eine »verzweifelte«, eine »apathische«, aber auch eine »ungebrochene«. Äußere Bedingungen und innere Verfasstheit gleichzeitig in den Blick zu nehmen blieb zeitlebens Jahodas Prinzip. Später beklagte sie, nicht genauer untersucht zu haben, wer warum welche Haltung entwickelt hatte. Heute würde man von »Resilienz-Faktoren« sprechen, persönlichen Ressourcen, die gegen negative Einflüsse wappnen. Die Zeitgenossen zogen vor allem eine politische Lehre aus den Ergebnissen der Marienthal-Studie: Arbeitslosigkeit macht nicht rebellisch, sondern lethargisch. Wirkung konnte die Erkenntnis keine mehr entfalten. Schon ein Jahr nach Fertigstellung der Studie errichteten die Christlich-Sozialen in Österreich ihre Diktatur.
Leben und Werk
1907 in das hochkreative Milieu einer jüdischen Wiener Kaufmannsfamilie hineingeboren, begeisterte sich Marie Jahoda schon als Jugendliche für sozialistische Ideen. Sie schloss sich dem Verband sozialistischer Mittelschüler an und heiratete mit 19 Jahren ihren sechs Jahre älteren Genossen Paul Lazarsfeld. Sie studierte Psychologie, bekam eine Tochter und stürzte sich 1931 gemeinsam mit ihrem Mann und engagierten Mitarbeitern in die bahnbrechende, bis heute lesenswerte Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal. In dem Industriedorf bei Wien waren, nachdem dort die Spinnerei geschlossen hatte, fast alle arbeitslos. Die jungen ForscherInnen zeichneten mit neuen Methoden ein genaues Bild vom Verfall der Ortsgemeinschaft.
Jahodas Ehe ging rasch in die Brüche. Ende 1936 wurde Marie Jahoda wegen Tätigkeit für die verbotenen Revolutionären Sozialisten verhaftet, kam auf internationalen Druck wieder frei, wurde ausgebürgert und ging nach England. 1945 zog sie weiter in die USA und forschte in New York an der University in Exile über Vorurteile, Antisemitismus und den »autoritären Charakter«.
1958 schließlich kehrte sie nach England zurück, heiratete den Labour-Politiker Austen Albu und bekam im Jahr darauf, mit 52 Jahren, ihre erste feste Professorenstelle. Erst spät auch in Deutschland und Österreich wieder wahrgenommen, starb sie 2001 im Alter von 94 Jahren in ihrem Landhaus in Sussex.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der April2017-Ausgabe von OXI.
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