Den Zahltricksern das Handwerk legen
Gerd Bosbach hat eine Mission. Der Statistikprofessor legt in Büchern und Vorträgen offen, wie mit scheinbar objektiven Zahlen Meinung gemacht und die Öffentlichkeit manipuliert wird. Im OXI-Interview wirbt er für einen kritischen Umgang mit Daten und Statistiken.
Viele Menschen sind überzeugt: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Das Zitat wird oft Winston Churchill zugeschrieben. Das ist falsch. Aber ist die Aussage nicht richtig?
Richtig ist, dass Zahlen und Statistiken häufig interessengeleitet eingesetzt werden. Zahlengestützte Argumentationen wirken. Entscheider und Meinungsführer in Politik und Wirtschaft vermitteln mit Statistiken den Eindruck, nicht ihre persönliche Meinung zu vertreten, sondern lediglich durch Daten vorgegebene »Sachzwänge« zu berücksichtigen. Da ist Vorsicht geboten. Falsch ist aber, grundsätzlich jeder Statistik zu misstrauen. Das wäre fatal, weil es ohne Daten, Zahlen und Fakten kaum möglich ist, wirtschaftliche und politische Entwicklungen richtig einzuschätzen.
Nach Lügen mit Zahlen haben Sie gemeinsam mit Jens Jürgen Korff mit Die Zahlentrickser das zweite Aufklärungsbuch über Statistiklügen veröffentlicht. Was ist Ihr Anliegen?
Wir wollen ein kritisches Bewusstsein für Zahlen und Daten schaffen. Wir hoffen, dass wir denjenigen das Handwerk erschweren, die mit Zahlen tricksen wollen. Wir wünschen uns, dass nach der Lektüre ein paar Menschen mehr diese Tricks durchschauen. Mein Wunsch wäre außerdem, dass eine »neutrale« Institution geschaffen wird, die diejenigen, die bei Zahlenlügen erwischt werden, öffentlich anprangert. Ein solches Institut sollte in der Wissenschaft, bei einer Universität angesiedelt sein, um durchsichtiges, interessengeleitetes Handeln einzuschränken. Alles andere wäre falsch, wenn man wirksam gegen Datenlügen vorgehen will. Im Übrigen geht es uns aber nicht nur darum, zu zeigen, wo Daten gefälscht oder missverständlich eingesetzt werden, sondern auch darum, dafür zu sorgen, dass sinnvolle Erhebungen nicht weiter blockiert werden.
Im Buch schreiben Sie: »Wer Zahlentricks sät, wird Trumps, Petrys, Le Pens etc. ernten.« Halten Sie den manipulativen Umgang mit Zahlen und Fakten für einen Faktor, der Politikverdrossenheit und, daraus resultierend, Rechtspopulismus befördert?
Unbedingt. Weil er zu einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Zahlen führt. Dieses Misstrauen wird von Nationalisten und Verschwörungstheoretikern hemmungslos ausgenutzt, um krude Inhalte zu propagieren. Fakt ist: Jeder hat ein Interesse. In seinem Interesse färbt jeder schön – angefangen im persönlichen Bereich bei Bewerbungs- und Urlaubsbildern bis hin zum politischen Diskurs, in dem Daten eingesetzt werden, um eine politische Strategie zu untermauern. Natürlich versucht eine Regierung mit Zahlen ihre Politik schönzufärben. Wenn sie das nicht täte, wäre sie bescheuert. Notwendig ist deshalb ein kritisches Bewusstsein für Zahlen und die Bereitschaft insbesondere von Journalisten, politisch motivierte Datenpräsentationen zu hinterfragen.
Wo und wie wird besonders gern mit Zahlen manipuliert?
Ein klassisches Beispiel sind Daten zur Arbeitslosigkeit. Per Definition tauchen viele Arbeitssuchende in der Statistik nicht auf. Offiziell haben wir in Deutschland zurzeit rund 2,6 Millionen Arbeitslose. Für Ökonomen bedeutet das schon fast Vollbeschäftigung. Nicht mitgezählt werden allerdings Personen, die längere Zeit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung standen – wie etwa Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder viele Jahre aus der bezahlten Erwerbsarbeit ausgestiegen sind. Das gilt auch für diejenigen, die krank sind, die von externen Arbeitsvermittlern betreut werden oder die sich weiterbilden. Auch Kurzarbeiter oder viele über 58-Jährige fallen aus der Statistik. Das Ganze hat System: Zwischen 1986 und 2009 gab es 16 Änderungen zur Messung der Arbeitslosigkeit – 14 davon reduzierten die offizielle Arbeitslosenzahl.
Wie verhält es sich mit Meinungsumfragen?
Man muss bei Meinungsumfragen Befragungen, bei denen man wirklich wissen will, was die Menschen denken, von denen unterscheiden, mit deren Hilfe Meinung gemacht werden soll. Oder auch Werbung – gerade Unternehmen setzen Positiv-Befragungen zu ihren Produkten gern ein. Wie ich Fragen formuliere, welche Fragen ich davor stelle, also in welche Stimmung ich den Befragten versetze, all das ist entscheidend für das Ergebnis einer Umfrage. Es gibt Erkenntnisuntersuchungen, bei denen der Auftraggeber wirklich wissen will, was die Menschen denken. Sobald aber eine öffentliche Wirkung erzielt werden soll, gilt das Motto: Bestätige meine Meinung, damit ich damit in die Öffentlichkeit gehen kann.
Welchen Wert haben dann Meinungsumfragen überhaupt, wenn sie gezielt manipuliert werden?
Wichtig ist, die Tricks zu kennen. Wer durchschaut, wann und wie und in wessen Interesse gefragt wird, lässt sich schlechter manipulieren. Ein schönes Beispiel, wie durch gezielte Fragestellungen zum gleichen Thema ganz unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden können, gab es in den 1980er-Jahren. Damals befragte das gleiche Meinungsforschungsinstitut die Deutschen zu ihrer Haltung zur Nachrüstung – einmal im Auftrag des Magazins Stern, einmal für die Bundeswehr. In der Befragung für den Stern waren 80 Prozent dagegen, in der Bundeswehr-Umfrage waren 60 Prozent dafür.
Deshalb misstrauen viele Menschen grundsätzlich Zahlen und Daten. Was sagen Sie denen, die sagen, Fakten interessieren mich nicht, es wird sowieso immer gelogen?
Ich versuche ihnen klarzumachen, wie sehr zahlenbasierte Fakten unser Denken, unsere Argumentationen bestimmen – selbst wenn man das nicht auf den ersten Blick erkennt. Das fängt beim Wetterbericht an. Die Prognose, dass es heute Abend ein Gewitter geben soll, basiert auf meteorologischen Modellen, die sich auf zahlreiche Daten aus der Vergangenheit stützen. Und auch jene, die allen Statistiken misstrauen, stützen sich in ihrer Argumentation ständig auf Daten. Nicht immer sind die Zahlen dabei richtig. Die Annahme etwa, dass Spinat besonders gesund ist, beruht auf einer falschen Statistik, bei der ein Forscher beim Eisengehalt schlicht das Komma an eine falsche Stelle gesetzt hatte.
Solche einfach nachweislichen Fehler sind aber doch eher die Ausnahme. Welche Methoden setzen die Zahlentrickser ein?
Das Repertoire ist immens, 16 beliebte Methoden stellen wir in unserem Buch vor. Das fängt beim geschickten Einsatz von relativen und absoluten Zahlen an. Auch mit der Definition von Begriffen lassen sich Daten manipulieren – wie die Arbeitslosenzahlen zeigen. Mit genauen Zahlenangaben, ohne sie zu belegen, lassen sich viele Menschen bluffen. Große Wirkungen zeigen auch Grafiken, wenn gezielt Zeiträume gewählt werden, für die man Veränderungen darstellt, oder wenn die y-Achse erst bei höheren Werten statt bei Null einsetzt. Dann sehen Veränderungen viel dramatischer aus.
Können Sie ein Beispiel für wirkungsvolle Zahlenmanipulationen nennen?
Lüge 1: Als Peer Steinbrück (SPD) Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war, brüstete er sich damit, 2.000 LehrerInnen neu eingestellt zu haben. Bei genauerer Überprüfung stellte sich heraus, dass im gleichen Zeitraum 200 Lehrer mehr pensioniert als neu eingestellt wurden. Wir nennen diesen Trick »Yan und Ying« oder die vergessene zweite Seite.
Lüge 2: Nicht minder »kreativ« ging in der Vergangenheit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) mit Zahlen um. Er brüstete sich damit, dass während der Regierungszeit der Union zusätzlich 1.000 Lehrer neu eingestellt worden seien. Klingt gut, aber die Zahl ist ohne Bezug überhaupt nicht aussagekräftig. 1.000 für eine Schule geht nicht, 1.000 für die Welt ist gar nichts. Damals gab es in NRW 7.000 Schulen. 1.000 neue Lehrer für 7.000 Schulen heißt, sieben Schulen mussten sich einen neuen Lehrer teilen. Ein Witz. Das ist das Spiel: Die absolute Zahl imponiert, und die Prozentzahl ist ein Klops.
Lüge 3: Die dritte Bildungslüge ging von Merkels Bildungsgipfel 2009 aus: Stolz verkündete sie, dass die Bundesregierung 20 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgeben will – eine beeindruckende Zahl. Ging man ins Detail, was damals nur wenige Medien gemacht haben, stellte sich heraus: Erstens waren die Mittel nicht nur für Bildung, sondern auch für Forschung, zweitens sollte der Betrag nicht in einem Jahr sondern innerhalb von neun Jahren ausgegeben werden. Letztendlich ging es um 1,5 Milliarden Euro jährlich für Bildung. Ich habe den Betrag in Relation zum jährlichen Bildungsetat von rund 150 Milliarden Euro gesetzt, gerade mal ein Prozent betrugen danach die Mehrausgaben. Und es handelte sich um nominale Zahlen, die Preissteigerung, die damals rund zwei Prozent betrug, war nicht berücksichtigt. Danach wären die zugesagten Mittel statt einer Erhöhung eine reale Kürzung der Bildungsausgaben gewesen.
Die Beispiele zeigen drei beliebte Methoden, mit Zahlen zu tricksen – einmal die vergessene »zweite Seite«, zum Zweiten das Spiel mit beeindruckenden Zahlen, ohne sie in Bezug zur Gesamtheit zu setzen, und zum Dritten die Methode, Zahlen aus längeren Zeiträumen zusammenzufassen – das wirkt dann viel imposanter.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen wir viel zu wenig aussagefähige Daten haben. Etwa beim Thema Reichtum. Welche Daten fehlen?
Die Mängel in der Datenlage zum Thema Reichtum in Deutschland sind in der Tat groß und wahrscheinlich auch beabsichtigt. Es ärgert mich zum Beispiel sehr, dass das Statistische Bundesamt zwar im Mikrozensus abfragt, wer monatlich über 18.000 Euro verdient, das Ergebnis aber nicht veröffentlicht. Stattdessen werden als Gutverdienende alle zusammengefasst, die mehr als 4.500 Euro im Monat verdienen. Das ist gerade mal gehobener Mittelstand. Da wird einfach massiv versteckt. Auch beim Thema Arbeitslosigkeit fehlen uns wichtige Daten. Manche Erhebungen werden eingestellt – etwa im Bereich Umwelt, immer wieder auch gern mit der Begründung, Bürokratie abbauen zu wollen.
Haben Sie ein aktuelles Beispiel dafür, wo Daten nicht erfragt wurden, um Sachverhalte zu verschleiern?
Die letzte Landesregierung von NRW schaffte die Statistik über ausgefallene Unterrichtsstunden an den öffentlichen Schulen ab. Ersetzt wurde sie durch eine Einzelbefragung der Schuldirektoren. Begründet wurde der Verzicht auf die landesweite Datenerhebung damit, dass sich der Unterrichtsausfall nicht sauber statistisch erfassen ließe. Wie ließe sich zum Beispiel abbilden, wenn eine Lehrkraft mal zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet – Ausfall oder kein Ausfall? Natürlich gibt es bei jeder Statistik Randbereiche, die man nicht sauber erfassen kann. Das ist aber kein Argument gegen die gesamte Erhebung. Im konkreten Fall wurde das als Vorwand genutzt, um die – vermutlich eher negativen – Zahlen nicht mehr zu präsentieren. Elternverbände haben daraufhin ihre eigenen Statistiken geführt und sind damit in die Öffentlichkeit gegangen. Nicht zuletzt hat die Bildungspolitik von Rot-Grün in NRW zur Abwahl der Landesregierung geführt.
Ein Thema zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Veröffentlichungen: Argumente gegen das »demografische Gruselkabinett«.
Demografie muss als Begründung für eine Vielzahl von neoliberalen Politikentscheidungen herhalten, und dieses Dauerfeuer wirkt – befördert durch eine massive Kampagne, gestartet unter anderem von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einer vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gegründeten Denkfabrik. Es reicht mittlerweile, das Stichwort zu nennen. Das beginnt beim Ärztemangel – ausgeblendet wird dabei, dass seit vielen Jahrzehnten mit einem scharfen Numerus Clausus junge Menschen daran gehindert werden, den Arztberuf zu ergreifen. Es geht bis zur angeblichen Notwendigkeit, Renten zu kürzen und das Rentenalter heraufzusetzen. Auch hier gilt: Wem nutzt das? Ohne die Alterung der Gesellschaft infrage zu stellen, lassen sich eindeutige und einflussreiche Nutznießer der Demografie-Angst benennen – etwa die Versicherungsbranche, die durch Riester- oder Rürup-Rente von den Kürzungen bei der gesetzlichen Rente profitiert. Oder die Arbeitgeber, die sich dank der Demografie-Angst aus der paritätischen Finanzierung der Sozialkassen verabschieden konnten. Letztendlich geht es auch in der alternden Gesellschaft vor allem um Verteilungsfragen.
Sie behaupten: Langzeitprognosen sind meist moderne Kaffeesatzleserei.
Ja, und deshalb müssen sie auch immer wieder überprüft werden. Alle Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung, die älter als 30 Jahren sind, sind falsch. Das lässt sich einfach nachvollziehen. Die Prognosen wurden erstellt vor der Auflösung des Ostblocks, vor der Wiedervereinigung, vor den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Libyen und Syrien. All das hatte erhebliche Auswirkungen. Nicht ohne Grund gibt das Statistische Bundesamt alle drei Jahre eine neue Rechnung zur Bevölkerungsentwicklung heraus. Die Abweichungen können nach drei Jahren durchaus mehrere Millionen Menschen etwa für das Jahr 2050 betragen.
Weiterlesen:
Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff: Die Zahlentrickser. Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen. Heyne, München 2017, 272 Seiten, 19,99 Euro
Lügen mit Zahlen: Der Zahlenblog
Dieses Interview erschien in OXI 9/2017 in einer kürzeren Form.
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