Wirtschaft
anders denken.

Der 1. Mai, die Gewerkschaften und Europa

28.04.2019

Technologisch getriebenen Veränderungen, die Frage des politischen Raums, die Politik der Gewerkschaften und der Mindestlohn: ein Blick in die Presse und neue Ausgaben der Zeitschriften »Sozialismus« und »spw«.

Kurz vor dem 1. Mai nimmt traditionell die Schlagzahl gewerkschaftspolitischer Analysen und journalistischer Interventionen in Richtung der Beschäftigtenorganisationen zu. Im »Freitag« hat sich Elsa Koester die DGB-Forderungen angeschaut und geht der Frage nach, wie es um die politische Praxis auf dem Weg der Stärkung allgemeiner gesellschaftlicher gegenüber den privaten Aneignungsinteressen aussieht. »Von europaweiten Standards für gute Arbeitsbedingungen statt Dumping-Wettbewerb ist die Rede und von armutsfesten Mindestlöhnen. Europäischer Mindestlohn, stimmt, da war ja was. Auch SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil und Spitzenkandidatin Katarina Barley setzen sich dafür ein. Aber geht das so einfach?« 

Heribert Prantl sieht den 1. Mai als einen »Tag, an dem man die Gewerkschaften loben darf«. Ihm geht es um die Frage der Solidarität unter den Bedingungen einer sich ständig verändernden Produktionsweise und umbrechender sozialer Verhältnisse. Solidarität »bleibt nicht einfach da unter völlig geänderten Arbeitsbedingungen. Wenn die Gleichartigkeit von Lebens- und Arbeitsbedingungen immer weniger besteht, wenn es die gemeinsame Arbeitserfahrung am gemeinsamen Arbeitsort immer weniger gibt«, heißt es da – woran der Rat angeschlossen wird, die Gewerkschaften müssten »sich auf die künstliche Intelligenz einstellen, auf eine neue Automatisierungswelle«. Die »Grenzen zwischen Arbeitnehmer- und Selbstständigenstatus werden fließend sein. Die Gewerkschaften werden sich also zu Organisationen gegen die digitale Kommerzialisierung des Lebens entwickeln müssen, zum Widerpart der Digitalkapitalisten, zu einer konzentrierten Interessenvertretung weit über den Kreis ihrer jetzigen Klientel hinaus. Die Gewerkschaften werden sich neu erfinden müssen.«

Wo Prantl stärker die technologisch getriebenen Veränderungen betont, geht es bei Koester eher um die Veränderungen des politischen Raums – die Solidarität, die in beiden Texten angesprochen ist, vollzieht sich ja nicht bloß durch progressiven Willen, sondern braucht demokratische Institutionen, Verfahren, Regelwerke. Das stellt in Zeiten transnationaler Ökonomien andere Herausforderungen an internationalistische Politik im Sinne dieser Solidarität. 

Wie es um die (eigentlich ja immer anstehende) Neuerfindung der »Organisationen der Arbeit« bestellt ist, lässt sich in einer aktuellen Serie in der Zeitschrift »Sozialismus« nachlesen – in der neuen Ausgabe (Mai 2019) analysieren Paul de Beer und Maarten Keune die Lage der Gewerkschaften in den Niederlanden und »gehen der Frage nach, ob die eher schwache Mitgliederbindung durch strukturelle Arbeitsmarkt-Macht und ein neokorporatistisches Verhandlungssystem ausgeglichen werden kann«. Zuvor hatte die Zeitschrift einen Blick nach Frankreich (schwache Organisationsmacht, erodierende institutionelle Ressourcen, Heft März 2019) und nach Italien (hoher Organisationsgrad, geringe institutionelle Regelungsdichte, Heft April 2019) geworfen. 

Europa und die Frage, wie man es »anders machen« könnte, stehen auch im Zentrum von Heft 230 der »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft«. Auf die Formel »Sozialunion statt Marktunion« wird man sich wohl einigen können, was das konkret bedeutet und wie man dahin kommt, ist weiterhin eine offene Frage. Vor möglichen Antworten stehen erst einmal kritische Zustandsbeschreibungen: »Der politische Diskurs um Gegenwart und Zukunft Europas wurde in den vergangenen 25 Jahren  zunehmend verengt auf den Nutzen der Staatenkooperation und ihrer supranationalen Institutionen als Marktmacht, die mithalten kann im globalen Wettbewerb. Dessen Intensivierung wird aufgegriffen durch eine Spiegelung internationaler Wettbewerbsbedingungen ins Innere der EU«, heißt es im spw-Editorial von Ole Erdmann, Björn Hacker und Stefan Stache. 

Die Beiträge im Schwerpunkt des Heftes wollen freilich auch zeigen, »dass eine  solidarische Gestaltung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse auch in und mit der EU weiterhin möglich und nötig« ist. Etwa im Text von Willi Koll und Andrew Watt, die »die fehlende Konvergenz der Lohn- und Preisentwicklung sowie von Geld- und Fiskalpolitik und die daraus erwachsende Krisenanfälligkeit der Wirtschafts- und Währungsunion« herausarbeiten und »für eine neu aufgestellte makroökonomische Koordinierung« plädieren – was aber auch heißt: eine »positive Situation« stellt sich »nicht von selber ein. Sie muss organisiert und institutionalisiert werden«. Womit dann auch die Frage nach gewerkschaftlicher Praxis aufgeworfen ist. Eine »stärkere kollektive und koordinierte Lohnfindung« auf europäischer Ebene gehört dazu. Ob auch die Währungs- und Wirtschaftsunion übergreifende Tarifabschlüsse anzustreben sind, lassen die Autoren offen: »falls« sie »überhaupt empfehlenswert« seien, sei doch unübersehbar, dass es sich dabei um »derzeit noch bloße Denkmöglichkeiten« handele. 

Zurück in die Bundesrepublik, aber weiterhin »mitten in Europa«: Ebenfalls in der Mai-Ausgabe von »Sozialismus« findet sich ein Auszug aus dem diesjährigen »Memorandum« der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit dem Titel »Klimakollaps, Wohnungsnot, kriselnde EU – Alternativen der Wirtschaftspolitik«, das am Montag (29. April) in Berlin präsentiert wird. In dem Vorabdruck geht es um den »gesetzliche Mindestlohn und die Folgen für das Tarifsystem« – eine Analyse der seit Anfang 2015 geltenden Lohnuntergrenze, die zuvor so heftig umstritten war. Die Bilanz nach über vier Jahren in Kurzform: »Die prognostizierten Vorteile eines gesetzlichen Mindestlohns haben sich bestätigt«, so die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Allerdings sind auch die 2016 von den kritischen ÖkonomInnen geforderten Verbesserungen der Mindestlohnregelungen nicht erfolgt, weshalb sich »weiter gehende Erwartungen« nicht erfüllt haben. 

Zur Frage, wie die Chancen für eine Weiterentwicklung des Mindestlohns stehen, heißt es unter anderem: »Viele Kräfte in Politik und Zivilgesellschaft haben sich inzwischen auf die Forderung nach einem Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde festgelegt. Linke, Grüne, SPD und Gewerkschaften sind sich darin grundsätzlich einig. Auf Zeiträume, Kosten und Gesetzgebungsinitiativen hat man sich allerdings bisher nicht verständigt bzw. nicht verständigen wollen. Trotz der erheblichen Differenzen scheint ein Mindestlohn von zwölf Euro dennoch inzwischen ein erreichbares Ziel zu sein. Alle begründen den anzustrebenden Mindestlohnsatz mit sozialpolitischen Argumenten: Gerechtigkeit, späteres Rentenniveau, Niedriglohn und Lohnspreizung. Ein makroökonomischer Begründungszusammenhang wird in der Regel nicht formuliert. Die Wirkungen auf Konsum, Binnenkonjunktur und Wirtschaftswachstum bleiben ausgespart. Mit einem Abklingen der Konjunktur wird die Zwölf-Euro-Forderung vonseiten der Mainstream-Ökonomie allerdings verstärkt als wirtschaftsschädlich angeprangert werden.«

Ergänzend dazu passt ein Blick auf die neuesten Zahlen vom Arbeitskampf hierzulande, den Otto König und Richard Detje in ihrer Analyse der »WSI-Arbeitskampfbilanz 2018« bieten: »In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte betrachtet werden, liegt Deutschland nach wie vor im unteren Mittelfeld«, heißt es da unter anderem. »Der Streik ist die zugespitzte Form der aktiven Anwendung gewerkschaftlicher Machtressourcen. Doch vielfach geht es in fast allen europäischen Ländern nicht in erster Linie um Streikfähigkeit, ›sondern darum, die Voraussetzungen herzustellen, um überhaupt noch wirkungsvoll und kollektiv Interessen von Belegschaften und Lohnabhängigen vertreten zu können‹ (Klaus Dörre). Die Stärkung von Organisations- und institutioneller Macht sind deshalb zwei Ressourcen gewerkschaftlicher Widerstands- und Durchsetzungskraft im entgrenzten Kapitalismus«, so König und Detje. 

Womit wir noch einmal bei Elsa Koester wären: »Wieso schaffen es französische Bewegungen, den Mindestlohn weiter zu erhöhen, während sich in Deutschland niemand regt?«, fragt die auf freitag.de – und weiter: »Wieso hat die Debatte über den Mindestlohn bislang noch kaum europäische Öffentlichkeit bekommen, während dies bei Urheberrechtsreform und Klimapolitik spielerisch zu gelingen scheint? Selbst die Berliner Enteignungsdebatte wird europaweit diskutiert. Von einem ’sozialen Europa‘ wird schon seit Jahren geredet. Das politische Projekt dahinter bleibt noch immer: irgendwie unklar.« 

Die Zeitschrift »Sozialismus« kann hier bezogen werden, die Zeitschrift »spw« gibt es hier.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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