»Die Regierungsübernahme darf nicht das Hauptziel sein«
Lateinamerikas Linksregierungen werden von der Rechten abgelöst. Warum? Ulrich Brand im Gespräch über die Fehler der lateinamerikanischen Linken, die Flüchtigkeit sozialen Fortschritts und die zwiespältige Verlockung des Populismus.
Vor gut zehn, 15 Jahren kam in zahlreichen Ländern Lateinamerikas die Linke an die Regierung, vor allem als Antwort auf eine marktradikale Politik, die Gesellschaften spaltete und die Eliten noch reicher machte. Nun werden in Argentinien, Brasilien und Venezuela linke oder Mitte-links-Regierungen, die viele Jahre im Amt waren, nach und nach von konservativen oder rechten Regierungen abgelöst. Haben diese Regierungen die Zustimmung von Mehrheiten verloren, oder geht es um den Putsch von Eliten gegen Linke?
Brand: Es ist ein Stück weit beides. Die Regierungen haben sehr stark darauf gesetzt, dass aus den hohen Rohstofferlösen Mittel umverteilt werden können. Das ist durchaus geschehen. Armut und Hunger wurden vermindert, Arbeitsplätze geschaffen, das Bildungssystem wurde ausgebaut. Doch auch die Eliten konnten ihre Einkommen steigern. Solange genug Geld da war, konnten die Regierungen die Ansprüche sehr vieler Gruppen befriedigen. In der Wirtschaftskrise nahm die Zustimmung dann ab. Für die schwierige Lage der linken Regierungen gibt es jedoch auch andere Gründe: Die Korruption wurde nicht bekämpft. Die von vielen geforderte Demokratisierung wurde nicht eingelöst. Im Gegenteil, der in Lateinamerika weit verbreitete Präsidentialismus und Caudillismus bestand weiter fort. Die Regierungen reagierten auf linke Kritik und Proteste eher autoritär.
Die politische Rechte – sie ist in manchen Ländern gut und in anderen weniger gut organisiert – nutzt die Schwäche der Linken. Nehmen wir Brasilien. Die Arbeiterpartei hat zwölf Jahre lang einen Teil der Oligarchie eingebunden. Die gerade des Amtes enthobene Präsidentin Dilma Rousseff hat zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit 2015 sogar einen neoliberalen Finanzminister berufen. Weil ihre Entscheidung auf Kritik stieß, hat sie ihn bald wieder abgelöst. Da die Justiz seit März 2014 intensiv gegen die Korruption vorgeht, wovon insbesondere wichtige Manager und viele rechte Politiker betroffen sind, und weil die Regierung Fehler machte, deshalb kündigte die Rechte in den letzten Monaten den bisherigen Kompromiss auf und demonstrierte im Zusammenspiel mit den Medien ihre brachiale Macht. Wir können deshalb von einem »kalten Staatsstreich« sprechen.
Gibt es Fehler, welche die Linke machte, die für alle drei Länder gelten?
Die drei Länder sind sehr unterschiedlich. In Venezuela wurde die Bourgeoisie wirklich geschwächt, was aufgrund der Wirtschaftsstruktur möglich war. Der Ölsektor hat ja eine überragende Bedeutung und trägt trotz der gefallenen Preise immer noch zu über 90 Prozent zu den Staatseinnahmen bei. Aus meiner Sicht wurde die vorübergehende politische Schwächung der Rechten in Argentinien und Brasilien nicht stärker dazu genutzt, sie auch ökonomisch anzugreifen. So war und ist bis heute etwa eine Agrarreform, die in Brasilien eine langjährige Forderung sozialer Bewegungen ist, in beiden Ländern kein Thema. Auch der Finanzsektor wurde nicht wirklich geschwächt.
Was sind wesentliche Fortschritte, welche die drei Regierungen vor allem auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik erreicht haben?
In Venezuela gab es bis Ende 2005 – das heißt bis zur Verkündigung des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« durch Hugo Chávez und der damit verbundenen autoritären Politik –, eine unglaubliche Dynamik von unten: Viele Menschen organisierten sich und verbesserten ihre Lebensbedingungen. Die Regierung unterstützte diese Bewegungen. Die Regierung erkämpfte sich wieder die Kontrolle über die Erdölunternehmen. In Brasilien wurde sehr ambitioniert der Sozialstaat ausgebaut und auch das Bildungssystem deutlich ausgeweitet. Das gilt auch für Argentinien, wo zudem der Bereich der Hochschulen stark ausgeweitet worden ist.
Warum waren und sind diese Fortschritte nicht nachhaltig? Was lief da falsch?
Das hat sehr viele Ursachen. Missmanagement, Unerfahrenheit, Klientelismus bis hin zur Korruption. Das Vermögen des Ehepaars Kirchner, das ja zwölf Jahre Präsident und dann Präsidentin war, hat sich in dieser Zeit versiebenfacht. Das ist nicht sehr glaubwürdig. Ich denke, es gibt in jedem dieser Länder sehr unterschiedliche Gründe, die man sich genau anschauen muss. Es gibt jedoch überwölbend für alle diese Länder einen zentralen Grund für den jetzigen politischen Niedergang: In keinem Land wurde ernsthaft versucht, die Abhängigkeit von den Erlösen aus den Rohstoffexporten zu verringern. Im Gegenteil: Die Abhängigkeit wurde eher noch stärker.
Venuezela, Brasilien, Argentinien – in keinem Land wurde ernsthaft versucht, die Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu verringern.
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Wir nennen das in unserer Arbeitsgruppe »Alternativen zur Entwicklung« die »lateinamerikanische Paradoxie«. In dieser Gruppe analysieren etwa 50 Expertinnen und Experten aus acht lateinamerikanischen Ländern und einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa die aktuellen Dynamiken, wir betreiben auch empirische Untersuchungen. In dem Moment, in dem die Linken an die Regierung kamen, waren die Ansprüche der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern an »ihre« Regierungen sehr hoch. So war es für diese Regierungen schwierig, die Wirtschaft umzubauen. Denn damals waren die Rohstoffpreise sehr hoch, damit die Einnahmen des Staates ebenfalls sehr hoch – alle Ansprüche konnten also relativ leicht befriedigt werden, ohne am Status Quo der Wirtschaft etwas zu ändern. So kam es zu einer Umverteilungspolitik mit vergleichsweise großen positiven Wirkungen. Nun, da die Rohstoffpreise teilweise stark gefallen sind, ist genau diese Abhängigkeit auch ein wichtiger Grund für die tiefe ökonomische wie politische Krise. Die Regierungen haben den Zeitraum verpasst, in dem sie mit einem gewissen Erfolg hätten versuchen können, sich aus der Rohstoffabhängigkeit zumindest teilweise zu befreien. Beispielsweise indem sie weitere Wirtschaftszweige modernisiert oder überhaupt erst aufgebaut hätten.
Können aus den Defiziten wie auch Errungenschaften Erkenntnisse gezogen werden, die auch für die Linke in Europa von Bedeutung sind?
Ich denke schon. Die Linke in Lateinamerika wie in Europa muss aufhören, das Ziel der Regierungsübernahme über alles zu stellen. Und wenn sie an die Regierung kommen, dann dürfen die Linken auf keinen Fall ihre Verbindungen zu den sozialen Bewegungen kappen, ignorieren oder gar unterdrücken. Sie müssen beispielsweise auch auf kritische Intellektuelle weiter hören. Es bedarf der ständigen kritischen Diskussionen. Die vielen emanzipatorischen Interessen müssen ständig ernstgenommen und praktisch berücksichtigt werden. Es darf nicht zu früh zu einem Pakt mit den Eliten kommen, wenn überhaupt. Es ist politisch unglaublich traurig, wie sehr die Regierungen in Ländern wie Bolivien oder Ecuador ihre ehemaligen Verbündeten in der Gesellschaft denunzieren, weil sie es nicht ertragen wollen, von denen kritisch-solidarisch kritisiert zu werden.
Wenn Linke an die Regierung kommen, dürfen sie auf keinen Fall ihre Verbindungen zu den sozialen Bewegungen kappen.
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Eine zweite Lektion: Die politische Rechte ist in Phasen der eigenen Schwäche wie auch des Wirtschaftsbooms – solange sie selbst daran teilhat – durchaus zu Kompromissen bereit. Aber in Zeiten der Krise fängt sie an, hart um ihre Positionen zu kämpfen. Sie packt ihr ganzes Repertoire aus: Nur sie könne »das Land retten« gegen das Chaos und die wirtschaftspolitische Inkompetenz der Linken. Nun sei mehr Wirtschaftswachstum und um eine härtere Sparpolitik gefragt – und beides könne nur sie. Der Rechten gelingt es oft, die Mittelschichten mit ihren Abstiegsängsten für sich zu gewinnen.
Die dritte Lektion: Es ist von großer Bedeutung, wer den Kampf um die öffentliche Meinung gewinnt. In Brasilien hat ein Großteil der Medien die Kampagne gegen Rousseff stark unterstützt, wenn nicht sogar aktiv betrieben.
Und die vierte Lektion: Eine Regierung, die sich als links und emanzipatorisch versteht, muss die kapitalistische Ökonomie verändern wollen. Denn wichtige Finanzmarktakteure und Industriekonzerne verfügen über große gesellschaftliche Macht. Und damit verfolgen sie ihre egoistischen Interessen. Transformation bedeutet also konkret: privatwirtschaftliche Macht zu beschränken und andere Wirtschaftsformen, wie eine solidarische und eine ebenso effiziente wie demokratisch organisierte und öffentliche Ökonomie stark auszubauen.
Als attraktiv gilt bei uns in Europa ein Linkspopulismus, der von sich behauptet, auf bisher erfolgreiche Erfahrungen in Lateinamerika zu fußen: nahe den Wünschen, den Gefühlen und der Sprache des Volkes zu sein, das Volk gegen die herrschenden Eliten zu mobilisieren. So gelinge es, auch hier in Europa Mehrheiten zu gewinnen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich bin da zerrissen. Wir sehen in Spanien bei Podemos, dass es schon mobilisierend wirken kann. Aber dafür muss es, eben wie in Spanien und Lateinamerika, auch zuvor Mobilisierungen, Selbstorganisation und viele selbstbewusste Menschen geben, die sich als politische Subjekte verstehen. Dann kann – auch angesichts der Unklarheit, was heute links überhaupt bedeutet – ein politischer Diskurs des Unten gegen Oben funktionieren, der explizit anti-neoliberal ist. Doch das ist auch ambivalent. Der Linkspopulismus will eigentlich demokratisierend wirken, indem er ausgegrenzte Interessen berücksichtigt. Aber in Lateinamerika schließt er an autoritäre und caudillistische Traditionen an, nicht unbedingt an demokratische. In der aktuellen Krise führt das in den lateinamerikanischen Staaten zu der absurden Konstellation, dass fast überall das Wohl und Wehe an den Präsidenten bzw. Präsidentinnen zu hängen scheint – und nicht an Errungenschaften wie der vielen Formen der Selbstorganisation, dem Mehr an Bildung, der Schwächung der Oligarchie, den Landreformen. Und weil Populismus einem Schwarz-Weiß-Denken anhängt, wird eben auch linke Kritik an den Regierungen als »rechts« denunziert.
Populistische Mobilisierung darf nicht vergessen, dass Menschen nicht mit einer permanenten Politisierung und Mobilisierung leben wollen. Viele Menschen wollen einfach ihre Lebensverhältnisse verbessern und die Gesellschaft in Gänze. Und sie wollen sicher sein, dass die Verbesserungen dauerhaft und nachhaltig sind. Und das geht nur auf dem Fundament einer demokratischen und transparenten Institutionalisierung.
Das Interview führte Wolfgang Storz per Email.
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