Wirtschaft
anders denken.

Der Geist des Kapitalismus: Max Weber und der Reformationstag

31.10.2017

Was könnte man zum Reformationsjubiläum noch einmal zur Lektüre hervorholen? Zum Beispiel Max Webers »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. Die Frage, wie eine Lebensform im Einklang mit den Akkumulationserfordernissen aussehen muss, hat auch später noch Intellektuelle herausgefordert – und ebenso die Kritik an solchen Überlegungen.

In Wittenberg findet das Reformationsjubiläums an diesem Dienstag seinen Abschluss, es wird an Martin Luthers Thesenanschlag auf den Tag genau vor 500 Jahren erinnert. In das Datum wird der Beginn weltweiter Veränderungen in Kirche und Gesellschaft hineinprojiziert. Eine davon spürte Max Weber viele Jahre später in einem Klassiker der Religionssoziologie auf: Nämlich, wie »die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« zusammenhängen. Weber verwies auf »Wahlverwandtschaften« vor allem calvinistischer Ansichten und des Akkumulationsprinzips von Kapital, das Zusammentreffen sei idealer Hintergrund für die Industrialisierung gewesen.

Eine direkte Ableitung des einen aus dem anderen wollte der Soziologe nicht behaupten. Es ging ihm darum, eine Antwort darauf zu finden, warum der moderne Kapitalismus in Europa und nicht anderswo seinen Aufstieg fand. Zudem lag das Thema in der Luft: Werner Sombart hatte Anfang des 20. Jahrhunderts sein Werk »Der moderne Kapitalismus« vorgelegt, in dem bereits der Einfluss religiöser Vorstellungen auf die Entwicklung der Produktionsweise angesprochen und auch der Begriff des »kapitalistischen Geistes« formuliert sind. Außerdem wurde die Frage über die Wechselwirkungen von religiösen und ökonomischen Entwicklungen damals unter Experten vielfach debattiert.

Kongruenz von Protestantismus und modernem Kapitalismus

Weber, der »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« zunächst 1904/1905 als Aufsatzfolge veröffentlichte und kurz vor seinem Tod 1920 noch einmal überarbeitete, sprach davon, zur »Aufdeckung einer Ursachenreihe beizutragen, welche die Herausbildung einer (wiederum besonders wichtigen) konstitutiven Komponente des Geistes der modernen kapitalistischen Wirtschaft bedingte: einer Färbung desselben also, welche vom Altertum und Mittelalter in wichtigen Punkten spezifisch verschieden war«. Auch sei die »Tatsache der auffällig starken Kongruenz von Protestantismus und modernem Kapitalismus« von niemandem bezweifelt worden. Er habe diese illustriert, an Beispielen »die Art, wie solche seelische Attitüden sich zu dem Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus kausal verhalten«, untersucht und aufzuzeigen versucht, »dass unser heutiger Begriff des Berufs irgendwie religiös fundiert sei«.

In der »Frankfurter Allgemeinen« hat der Ökonom Bertram Schefold dieser Tage an Weber erinnert und dessen Kerngedanken in den Worten zusammengefasst: »Protestanten, insbesondere die Calvinisten, zeichneten sich durch eine besondere Ethik aus, eine spezielle Arbeitsethik und -Disziplin, Sparsamkeit und Investitionsneigung, die sie zum kapitalistischen unternehmerischen Aufstieg befähigten. Dies habe die Entstehung des modernen Kapitalismus bis zur Industrialisierung befördert.«

Diese Sichtweise ist vielfach auf Kritik gestoßen, nicht zuletzt der Art, dass »eine kapitalistische Mentalität« doch offenkundig auch schon »in den spätmittelalterlichen Städten Oberitaliens mit ihren Manufakturen und europäischen Handelsbeziehungen« verbreitet war. Andere suchten einen Zusammenhang zwischen der protestantischen »Hinwendung zur Bibellektüre und damit zur Alphabetisierung« und dem wirtschaftlichen Fortschritt zu ergründen.

So untersuchten Sascha Becker und Ludger Wößmann anhand von Landkreisdaten aus Preußen des späten 19. Jahrhunderts, wie bessere Bildung durch Bibelunterricht und damit einhergehende Alphabetisierung sich auf die ökonomischen Erfolge in bestimmten Regionen auswirkten. »Wir stellen fest, dass der Protestantismus tatsächlich zu höherem wirtschaftlichen Wohlstand, aber auch zu besserer Bildung geführt hat«, schreiben sie in ihrer Studie »Was Weber Wrong? A Human Capital Theory of Protestant Economic History«. Die höheren Alphabetisierungsraten unter Protestanten machten »den größten Teil des wirtschaftlichen Wohlstandsgefälles« aus.

Kritik und Gegenkritik: konsequent gelebte Rationalität

Schefold weist das zurück: Es werde »übersehen, dass es Weber um die Genese des modernen Kapitalismus ging. Max Weber deckte in seiner Aufarbeitung der europäischen Wirtschaftsgeschichte auf, dass die von Marx und den Historikern der industriellen Revolution hervorgehobenen materiellen Ursachen der industriellen Revolution nicht genügen, um den modernen Kapitalismus zu erklären.« Es sei ihm kurzum um die Frage gegangen, wo das Unternehmertum herkam,« das fähig war, einen so konsequent betriebenen Akkumulationsprozess voranzutreiben«. Webers Antwort: eine konsequent gelebte Rationalität war die geistige Voraussetzung. Diese habe es in »den frühen Formen des Kapitalismus« (Schefold) noch nicht gegeben.

Eine Kritik, die von Marx ausgeht, hat Henryk Grossmann in den 1930er Jahren beigesteuert, sie wurde auf Englisch 2006 erstmals veröffentlicht: »The Beginnings of Capitalism and the New Mass Morality«. Darin lehnt er die Idee ab, der Calvinismus habe als Moral gedient, die die Lohnarbeit den Massen als gottgefällig darstellen sollte. Vielmehr sei die protestantische Ethik der Calvinisten eine Handwerker-Doktrin gewesen, zudem sei der moderne Kapitalismus schon älter – er sei in Italien ohne die Mithilfe irgendeines religiösen Irrationalismus auf die Welt gekommen. Grossmann war der Meinung, dass Religion ganz allgemein als ein Instrument zur Zähmung der Massen diene, wobei es besser geeignete Linien als den Calvinismus gebe.

Chiapello und Boltanski: »Der neue Geist des Kapitalismus«

1999 veröffentlichten die französischen Sozialwissenschaftler Ève Chiapello und Luc Boltanski das Buch »Der neue Geist des Kapitalismus«, der sich ausdrücklich an Webers Schrift anlehnt und Charakter sowie Veränderungen in den ideologischen Rechtfertigungen des Kapitalismus auf der Basis der Auswertung von Managementliteratur untersucht. Es geht darum, »wie eine Lebensform im Einklang mit den Akkumulationserfordernissen beschaffen sein muss, damit eine große Anzahl von Akteuren sie als lohnenswert betrachtet«. Chiapello und Boltanski  unterscheiden dabei drei historische Etappen des kapitalistischen Geistes – zunächst fokussiert im bourgeoisen Unternehmer des 19. Jahrhunderts, später im bürokratischen, zentralisierten Industriekonzern mit seinem Direktor und danach im auf neuen Technologien fußenden Konzernkapitalismus.

»Zu loben ist die Bereitschaft der Autoren, ausgefahrene Gleise der Kapitalismusdiskussion zu verlassen und in einem originellen Zugriff das spezifisch Neue am Kapitalismus unserer Tage sichtbar zu machen«, hat Lothar Peter 2005 in seiner Kritik des Buches formuliert. Das Problem sei aber, dass dieser als »gescheitert angesehen werden muss«, was »in erster Linie mit den Illusionen der beiden Verfasser über einen angeblich unabdingbar auf moralische Legitimation angewiesenen Charakter des Kapitalismus« zusammenhängt.

Nachtrag: Ingo Stützle von der Prokla macht darauf aufmerksam, dass Heinz Steinert in Sachen  Webers These von der protestantischen Arbeitsethik eine kritische Pflichtlektüre ist. Steinert unterziehe Webers Ansatz einer »schon lange fälligen kritischen wissenschaftlichen Analyse und Historisierung« – deren Ergebnis lautet: »Es gibt keinen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Protestantismus und kapitalistischem Wirtschaften. Webers Schrift ist vielmehr in ihrem historischen Kontext, als Teil der preußischen Religionskämpfe, zu sehen.« Laut Steinert müsse eine neuerliche Befragung von Webers Quellen zu neuen, anderslautenden Schlüssen führen.

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