Langer Abschied vom Leitbild: Die SPD und die Wirtschaftspolitik
Kann sich die SPD erneuern? Dazu müsste sie das wirtschaftspolitische und ökonomietheoretische Vakuum füllen, in dem derzeit ihre Politik zu ersticken droht. Wirtschaftspolitik ist durch moralische und ethische Orientierungen ersetzt worden – hin zu einem Pragmatismus mit schlechtem Gewissen. Ein Text aus dem Schwerpunkt der aktuellen OXI-Printausgabe zu linker Wirtschaftspolitik.
Unabhängig von der Entscheidung über eine Koalition mit den Unionsparteien gibt es eine, wenn auch vage und inhaltlich nicht ausgewiesene Bewegung in der Partei für eine Erneuerung der SPD. Damit ist eine Demokratisierung der internen Willensbildungsprozesse, aber auch eine programmatische Erneuerung gemeint. Was bedeutet das für die in der SPD vorhandenen Vorstellungen von politischer Ökonomie und der Rolle des Staates für die makrokroökonomischen Kreisläufe?
Wenn wir das Wahlprogramm 2017 betrachtet, so hat hier die SPD eine Reihe von in erster Linie sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Forderungen aufgestellt, ein Blick auf den gegenwärtigen deutschen Kapitalismus und die ökonomische Rolle Deutschlands in Europa fehlt, ebenso wie die Konturen eines wirtschaftspolitischen Konzepts. Insofern können die sozialpolitischen Forderungen auch nicht aus einer makroökonomischen Sicht begründet werden.
Eine solche makroökonomische Perspektive gibt es in der SPD auch nicht und die Debatten in der Partei konzentrieren sich auf einzelne Segmente einer kapitalistischen Ökonomie, wie die Renten oder die Bürgerversicherung im Gesundheitssystem. In der letzten Frage sehen wir sogar ein gesundheitspolitisches Konzept, auch wenn die Idee gerechtigkeitstheoretisch und nicht ökonomisch begründet wird.
Seit 1998 keine wirtschaftspolitischen Diskussionen
In der SPD finden seit 1998 keine nennenswerten wirtschaftspolitischen Diskussionen statt, der fundamentale Unterschied zwischen einer mikroökonomischen Sicht und makroökonomisch begründeten Anschauungen ist nicht bekannt.
Deshalb ist es auch kein Wunder, dass die Bedeutung der Austeritätspolitik, die für die Ebene der Europäischen Union von der deutschen Regierung diktiert wird, weitgehend nicht diskutiert wird. Auch die hohen positiven wie negativen Handelsbilanzsalden in der Eurozone und der deutsche Merkantilismus in Europa und in der Weltwirtschaft werden allenfalls durch die Kritik von Donald Trump an den deutschen Exportüberschüssen zum Thema gemacht und durch die politische Irrationalität von Trump dann auch in den Bereich einer unseriösen und sachlich nicht gerechtfertigten Kritik gerückt.
Dieses wirtschaftspolitische und ökonomietheoretische Vakuum in der SPD ist einfach zu erklären. In der Partei selbst finden keine wirtschaftspolitischen Debatten mehr statt. Die letzte Kontroverse wurde 1997 von Lafontaine und Schröder beziehungsweise deren Beratern ausgetragen, als es um ein wirtschaftspolitisches Konzept für die Bundestagswahl 1998 ging. Allenfalls wurde die dem Schröder-Blair-Papier zugrunde liegende Sicht auf die Wirtschaftspolitik kritisch diskutiert.
Die Kritik zeigte keine Wirkungen in der Partei
Daran ändert es nichts, dass die ersten fundamentalen und neoliberal oder neoklassisch begründeten Reformen, wie die Senkung der Unternehmenssteuern und die Absenkung des Rentenniveaus in Verbindung mit der Einführung einer kapitalgedeckten Zusatzrente, von kleinen Minderheiten in der SPD, aber auch in den Gewerkschaften kritisiert worden sind – aber diese Kritik zeigte keine Wirkungen in der Partei, sie führte nicht zu größeren Diskussionen.
Dass auch von den Gewerkschaften diese neoliberalen Reformen einschließlich der arbeitsmarktpolitischen Vorschläge der Hartz-Kommission nicht abgelehnt oder deutlich kritisiert wurden, legt nahe, dass das Verschwinden wirtschafts- und sozialpolitischer Diskurse nur ein Zeichen für eine tiefer liegende Veränderung war.
SPD und Gewerkschaften waren in hohem Maß irritiert von zwei politisch-ökonomischen Prozessen, die miteinander verbunden waren. Das war einmal die zunehmende Internationalisierung der Ökonomie und zum zweiten die Tendenz einer stärker werdenden Finanzialisierung ökonomischer Prozesse.
Der erste Prozess löste zunächst Angst um das deutsche Exportmodell aus und führte zu diesem Narrativ von der zunehmenden Ohnmacht des Nationalstaats. Der Prozess der Finanzialisierung wurde, wenn überhaupt, ambivalent diskutiert: Einmal führte er zur Anpassung der Politik an die Macht der Finanzmärkte, zum zweiten verstärkte er die – völlig unbegründeten – Zweifel an der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie.
Internationalisierung und Finanzialisierung der Ökonomie
Beide Prozesse hatten einen zeitlichen Vorlauf, da sie schon in den späten 1980er Jahren begonnen hatten und in den 1990er Jahren verstärkt wurden. Beide ideologischen Annahmen, die Ohnmacht des Nationalstaats wie die Macht der Finanzmärkte, wurden fälschlicherweise als Absage an die Handlungsmöglichkeiten nationaler Wirtschaftspolitik verstanden.
Dabei hatte der Abschied der SPD vom wirtschaftspolitischen Leitbild des Keynesianismus bereits in den 1980er Jahren eingesetzt und wurde 1999 nach dem Ausscheiden von Lafontaine vollzogen. Dieser Zustand hat sich zwischen 2000 und 2017 nicht verändert. 2005 waren die Gewerkschaften zwar auf Distanz zur Regierung Schröder und damit auch der SPD gegangen, aber 2009 war diese Distanz beendet, als in der Folge der Finanzmarktkrise die Exportindustrie in die schwere Krise 2009 gekommen war. Das von Olaf Scholz geführte Arbeitsministerium konnte in enger Zusammenarbeit mit der IG Metall diese »Beschäftigungsbrücke« aus Kurzarbeit und Arbeitszeitflexibilisierung bauen und dadurch Massenarbeitslosigkeit verhindern. Gleichzeitig war die Regierung mit ihrem Haushalt auf einen expansiven Kurs gegangen und hatte ein Konjunkturprogramm beschlossen, das eine schnelle wirtschaftliche Erholung einleitete.
Hier hatte Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik stattgefunden, aber ihre positiven Effekte führten nicht zu einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel, eher im Gegenteil. Auf den expansiven Kurs in der Krise folgte mit der Schuldenbremse der Übergang in eine ordoliberal begründete Austeritätspolitik.
Dem Führungspersonal fehlt es an ökonomischem Wissen
An der SPD selbst gingen diese Veränderungen weitgehend vorbei, sie waren kein Thema für grundsätzliche wirtschaftspolitische Diskussionen. Das gilt auch für den 2012 erfolgten Übergang der EZB zur expansiven Geldpolitik des »Quantitative Easing«. Daran wurden nur die niedrigen Zinsen kritisch wahrgenommen, eine Auseinandersetzung mit der Geldpolitik fand ebenso wenig statt wie eine kritische Debatte zur wirtschaftspolitischen Lage in der Währungsunion.
Das hängt auch mit dem Führungspersonal der SPD zusammen, dem es ganz banal an ökonomischem Wissen fehlt und das allein deshalb keine ökonomischen Diskurse in der Partei einleiten kann. Bestürzend daran ist, dass dieses Defizit nicht erkannt wird. Die Ausgangsbedingungen für eine wirtschaftspolitische Erneuerung der SPD sind also nicht günstig. Auch die Jusos in der SPD haben im Gegensatz zu den Diskussionen der 1970/80er Jahre keine wirtschaftspolitischen Diskussionen geführt und sie sind erst mit ihrer Ablehnung einer Koalition für das Alltagsleben und das Alltagsbewusstsein der SPD wieder wichtig geworden.
Dieses Vakuum in wirtschaftspolitischen Fragen ist insofern irritierend, als seit der Finanzmarktkrise eine breite Kritik am wissenschaftlichen Status der etablierten Volkswirtschaftslehre (dem »Mainstream«) geäußert wird, einmal in der Wissenschaft selbst, aber auch in der politischen Öffentlichkeit. Dazu kommt, dass sich außerhalb der Parteien die wirtschaftspolitischen Debatten verstärkt haben. Das hat verschiedene Gründe.
Einmal hat die Finanzmarktkrise die Geldschöpfung des zweistufigen Bankensystems und die Irrationalität der Finanzmärkte wieder in den Fokus der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gerückt. Es wird auch zunehmend über die Gründe für die steigenden ökonomischen Ungleichheiten zwischen Vermögensbesitzern und den arbeitenden Klassen berichtet, eine Debatte, die durch das Buch von Thomas Piketty intensiviert wurde. Auch die auf die Krise der europäischen Währungsunion folgende Kritik internationaler Ökonomen an der deutschen Finanzpolitik und am deutschen Exportmodell hat zu Debatten geführt, weil sich die ordoliberalen Ökonomen gegen diese Kritik zu wehren versuchen.
Kleine Kreise, die keine großen Kreise ziehen
Diese Diskussionen und Kontroversen kommen in der Sozialdemokratie aber nur fragmentarisch an und sie werden kein Thema für die parteiinterne Diskussion, obwohl es inzwischen eine Reihe von keynesianischen Ökonomen/innen gibt, die als SPD- und gewerkschaftsnah eingeordnet werden können. Deren Forschungsberichte und Texte werden nicht wahrgenommen.
Es gibt zwar Diskussionskreise wie die Keynes-Gesellschaft und den »Kocheler Kreis« SPD-naher Ökonomen/innen, es gibt ein gewerkschaftsnahes Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung und die parteieigene Friedrich-Ebert-Stiftung, die wirtschaftspolitisch ebenfalls keynesianisch orientiert ist. Dazu gibt es die linkssozialdemokratische Zeitschrift »SPW«, deren Beiträge auch in ökonomischen Fragen auf hohem Niveau sind.
In der SPD finden solche Expertisen und Artikel jedoch wenig oder gar keine Resonanz. Das liegt einmal an den Führungsebenen der Partei, aber auch an der Parteibasis. Wirtschaftspolitische Diskurse sind durch moralische und ethische Orientierungen ersetzt worden und verfestigen sich zu einem Pragmatismus mit schlechtem Gewissen. Diese Haltungen existieren neben einer fortbestehenden Akzeptanz neoklassischer und ordoliberaler Glaubenssätze. Ökonomie gibt es nur noch als sozialdemokratische Mängelverwaltung bei der Befassung mit kommunalen Haushalten.
Die Parteilinke selbst schwankt, wenn sie ökonomische Fragen diskutiert, zwischen keynesianischen Konzepten in der Verteilungspolitik und einer Kapitalismuskritik in der Tradition des konventionellen Marxismus, wie er in den 1970er Jahren aktualisiert wurde. Das ist ein Marxismus ohne Geldtheorie und daher nicht geeignet, die aktuelle monetäre Politik der Notenbanken zu verstehen. Die Orientierung an diesem »alten« Marxismus verstellt eher die Perspektiven auf eine post-keynesianische Wirtschaftspolitik.
Kann sich das ändern? Es wird sich erst ändern, wenn dieses Vakuum in der Wirtschaftspolitik als schweres Defizit für die zukünftige Politik der SPD wahrgenommen wird. Wenn die Jusos nach der NoGroKo-Kampagne beginnen, ihre Oppositionsrolle mit wirtschaftspolitischen Debatten und Konzepten zu fundieren, wird das Auswirkungen auf die parteiinternen Diskussionen haben.
Auch die Linkspartei hat ein Kompetenzdefizit
Es gibt in Teilen der Partei auch ein Problembewusstsein über die fehlende wirtschaftspolitische Kompetenz, wie sich in den Kontroversen um TTIP und CETA gezeigt hat. Zugleich müssen Jusos und Parteilinke die Führungsebenen in wirtschaftspolitischen Fragen herausfordern. Die Debatte über den zukünftigen Kurs in der Europapolitik eröffnet hier eine Reihe von Chancen: Es geht hier um die Rollen und die zukünftige Ausrichtung der deutschen Fiskalpolitik, der Geldpolitik der EZB, der Außenwirtschaftspolitik Deutschlands. Es geht um die Funktionsweise einer Währungsunion und um die Koordinierung von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, also um Bereiche, in denen Empathie für Europa nicht weiterhilft. In all diesen Fragen wird es kontroverse Diskussionen geben, weil der neoklassische Alltagsverstand der SPD-Rechten so einfach nicht verschwinden wird.
Erschwerend wirkt in dieser Konstellation, dass die Linkspartei als kritische Opposition und Konkurrenz zur SPD weitgehend ausfällt. Einmal hat sie ein ähnliches, wenn auch durch Sendungsbewusstsein kompensiertes Kompetenzdefizit in wirtschaftspolitischen Fragen. Die »Internationalisten« in der Linken sind diesen naiv geglaubten Narrativen von der Dominanz der Märkte und der Ohnmacht der Nationalstaaten ebenso, wenn auch mit anderen, eher »transformatorischen« Motiven, auf den Leim gegangen wie die Sozialdemokratie.
Die »nationale« Linke vertritt zwar tendenziell keynesianische Positionen und sieht Handlungsmöglichkeiten für die Wirtschaftspolitik der nationalen Staaten in Europa. Hier besteht inhaltlich, aber nicht personell, eine mögliche Anschlussfähigkeit für sozialdemokratische Debatten.
Sich stärker auf Beratungen stützen
Leider sind beide Strömungen nicht in der Lage, in einen kritisch-konstruktiven Diskurs über ihre unterschiedlichen Sichtweisen einzutreten, weil jede Strömung ihre Sicht für die einzig richtige hält. Solange das anhält, fällt die Linke als wirtschaftspolitische Opposition zur SPD weitgehend aus, weil die internen Konflikte als persönliche Machtkämpfe und nicht als Streit um wirtschaftspolitische Alternativen gesehen werden. Dabei ist eine Debatte über eine alternative Wirtschaftspolitik zwischen der SPD-Linken und der Linkspartei sicher sinnvoll.
Aber auch die Gewerkschaften müssen ihre wirtschaftspolitische Kompetenz wiederentdecken. Sie haben dafür einerseits bessere Voraussetzungen als SPD und Linke, einmal weil sie mit den Instituten der Böckler-Stiftung, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) und dem bereits erwähnten Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung die sozialwissenschaftliche Beratung direkt an ihrer Seite haben. Sie müssen nur lernen, sich stärker auf diese Beratungen zu stützen.
Andererseits begegnen Teile der Gewerkschaftslinken wirtschaftspolitischen Konzepten mit großer Reserve, weil sie instinktiv einer Vorstellung von Klassenkampf folgen, die auf Streiks, insbesondere politische Streiks setzt, und linke Wirtschaftspolitik für einen Versuch halten, den Kapitalismus zu verbessern, statt ihn abzuschaffen. Die Gewerkschaft Verdi hat das mit dem gescheiterten Versuch, ein Konzept der Wirtschaftsdemokratie (einschließlich einer keynesianisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik) zu beschließen, erfahren müssen.
Relative Gewinner und relative Verlierer
Die Gewerkschaften des DGB haben ein internes Problem, das ihnen selbst nicht hinreichend klar ist. Der deutsche Handelsmerkantilismus mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen teilt die abhängig Beschäftigten in relative Gewinner und relative Verlierer, anders gesagt in einen großen Teil von Industriebeschäftigten mit ausreichenden Löhnen und gesicherten Arbeitsverhältnissen, die durch einen »Gürtel« von prekär Beschäftigten, insbesondere Leiharbeitern, vor Krisen geschützt werden – und einen großen Teil von Beschäftigten in den privaten Dienstleistungen, die meistens schlecht bezahlt sind und schlechte Arbeitsbedingungen haben.
Hohe Außenhandelsüberschüsse schnüren den Binnenmarkt ein, Deutschland lebt damit unter seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit. Insofern müssen die Gewerkschaften, wenn sie sich als Einheitsgewerkschaften und nicht als sektoren-egoistische Berufsorganisationen verstehen, ein Interesse an der Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten haben.
Das bedeutet eine starke Anhebung der niedrigen Löhne und eine Umverteilung von oben nach unten, verbunden mit einer expansiven Fiskalpolitik. Dabei ist es aus lohnpolitischer Sicht zentral, dass die lohndrückende Funktion der Sanktionen des Hartz-IV-Systems beendet wird und es zu einer Reform der Arbeitslosenunterstützung kommt. Die Industriegewerkschaften müssen bereit sein, ihre permanente Furcht vor dem drohenden Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, wie sie sich aktuelle in den Debatten um Digitalisierung der Arbeit oder Industrie 4.0 wieder zeigt, in den Griff zu bekommen.
Michael Wendl ist Ökonom, Soziologe, Gewerkschafter und Mitherausgeber der Zeitschrift »Sozialismus«, er war Mitglied der SPD, trat dann zur Linkspartei über – und ist inzwischen wieder bei den Sozialdemokraten organisiert. Von ihm erschien unter anderem: »Machttheorie oder Werttheorie. Die Wiederkehr eines einfachen Marxismus« (bei VSA Hamburg).
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