Wirtschaft
anders denken.

Der Niedergang von Syriza

09.12.2023
Ein Graffitti der ehemaligen griechischen Regierungspartei SYRIZAFoto: Thierry Ehrmann 2015 schaffte die linke Partei SYRIZA historisches. Trotzdem hinkt die Partei ihren eigenen Ansprüchen hinterher - was durch die Wahlniederlage im Mai nochmals deutlicher wurde.

Wenn eine linke Partei in einem Erpressungszenario wie dem Schuldendiktat die Macht übernimmt, dann verändert sie nicht die Macht, sondern eher sich selbst. Alexis Tsipras hat die Partei nach der unvollendeten Transformation verlassen. Nun ist ein neuer Mann aufs Spielfeld gekommen und wird das, was von Syriza noch übrig ist, in seinem Sinne wandeln.

Es war einmal die erfolgreichste Linkspartei Europas. Sie kam aus Griechenland. Ihr Erfolg entsprang aus dem Protest gegen die finanzielle Erpressung des Landes durch internationale Gläubiger aufgrund hoher Staatsverschuldung. Nach dem Motto »Sparen, sparen, sparen!« sollte sich Griechenland von Grund auf sanieren. Oder genauer: Das Land zerlegen, ein Krisenlabor installieren, Privatisierung samt sozialer Zertrümmerung organisieren und Löhne in den Keller drücken. Das »Sparen!« verwandelte sich fix in »Verkauft doch eure Inseln ihr Pleitegriechen!« Gegenüber dieser Aussicht wählten Millionen Griech:innen eine linke Alternative und beauftragten diese, alles umzuwerfen. Allen voran stand für diese Alternative Syriza – ein Akronym für Koalition der Radikalen Linken. Kein anderer als der junge und charismatische Leader Alexis Tsipras, »Alexis«, wie ihn alle zu nennen pflegen, hatte sich schon als junger Parteikader bei den Antiglobalisierungsprotesten verdient gemacht und verzauberte im Kampf gegen die Troika die Herzen der Linken weit über Griechenland hinaus. 2015 wurde Alexis Tsipras der erste linksradikale Ministerpräsident Griechenlands.

Der Aufstieg endete endgültig mit dem Regierungswechsel 2019 und dem Sieg von Kyriakos Mitsotakis, Teil jener Politikerdynastie, die seit Jahrzehnten die rechtskonservative Nea Dimokratia (ND) beherrscht. Vier Jahre später, im Juni 2023, erlebte Syriza ein Wahldesaster und erreichte lediglich 17 Prozent der Stimmen gegenüber sagenhaften 41 Prozent der ND. Am 29. Juni verkündete Tsipras schließlich den Rücktritt von der Parteiführung und leitete somit den Beginn einer neuen Ära der Partei ein. Als aussichtsreichste Nachfolgerin galt die Ex-Arbeitsministerin Efi Achtsioglou – Teil der sogenannten  »Vierziger Generation«, benannt nach der ambitionierten Gruppe von Parteikadern, die um die 40 Jahre alte sind.

Aus dem Nichts tauchte ein Konkurrent auf, den zuerst niemand ernstgenommen hat: Stefanos Kasselakis, ein Millionär aus Miami, der zum ersten Mal bei den letzten Parlamentswahlen dank Alexis Tsipras auf der Wahlliste auftauchte. Durch eine moderne social-media Kampagne und das Nachahmen von Strategien der amerikanischen Demokraten erreichte er schnell viele Mitglieder. Sein erstes Video mit dem ersten Satz »Ich heiße Stefanos und hab euch was zu erzählen«, ein weiteres auf der Insel Makronisos, in der wegen des griechischen Bürgerkriegs tausende Linke exiliert und gefoltert wurden, und die Berichterstattung in der Klatschpresse über jedes seiner Schritte lösten ein regelrechtes Medienphänomen aus. Achtsioglou unterlag schließlich Kasselakis mit 44,02 Prozent gegen 55,9 Prozent in der Stichwahl. Mal wieder war Syriza mit dem Sieg Kasselakis ganz vorne dabei in der Innovationskunst einer Linken des 21. Jahrhunderts in Europa: In der Weltgeschichte der politischen Institutionen gibt es laut dem Autor des Buches »Das Phänomen Kasselakis« (Xenophon Contiades) »keinen Präzedenzfall dafür, dass der Vorsitzende einer Partei, die nach einer Wahl an der Macht ist, jemand ist, der nicht nur vorher nicht in den Parteiorganen mitgewirkt hat und auch kein Mitglied der Partei ist, sondern auch die letzten zwanzig Jahre seines Lebens auf einem anderen Kontinent verbracht hat, fernab vom Rampenlicht.«

Kasselakis ist 35 Jahre alt und wurde im Athener Stadtteil Marousi geboren. Mit 14 Jahren erhielt er, nachdem er den zweiten Platz bei einem Mathewettbewerb gewonnen hatte, ein Schülerstipendium in Massachusetts in den USA und studierte anschließend in der Universität von Pennsylvania Finanzen und Internationale Beziehungen. Er arbeitete kurz bei Goldman Sachs und unterstützte 2008 Joe Biden bei seiner Wahlkampagne, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Sein Vermögen baute er als Reeder auf. Vieles liegt aber weiterhin im Verborgenen: Die zwanzigjährige Abwesenheit und seine messianische Ankunft gaben viel Stoff für Verschwörungstheorien in- und außerhalb der Partei. Mal ist er von den Amerikanern und der CIA geschickt, ein anderes Mal von Mitsotakis selbst erschaffen worden oder gar von Alexis Tsipras, um Syriza zu zerstören.

Drama bis zur Spaltung

Ist Kasselakis der neue Tsipras? Darauf konnten sich viele Führungspersonen und Parteifunktionäre nicht einlassen. Vom linken Flügel der Partei wurde Kasselakis schon zu Beginn als Beppe Grillo oder Donald Trump der griechischen Politik bezeichnet. Der Ex-Finanzminister und Varoukis-Nachfolger Eflidikis Tsakalotos, der ebenfalls kandidierte, schaffte es nicht, Kasselakis zum Wahlsieg zu gratulieren. Achtsioglou nahm kein Angebot einer wichtigen Parteiposition an. Kasselakis selbst bezeichnete die innerparteiliche Opposition als »schlechte Verlierer« und schloss per Tweet vier Funktionäre aus – darunter den Kandidaten der ersten Wahlrunde Stefanos Tzoumakas und den Ex-Bildungsminister Nikos Filis. Der Streit um die Legitimität des Ausschlusses führte prompt zum Ausstieg der linken Plattform »Omprela« (Regenschirm) um Tsakalotos. Und wenig später den der Gruppe um Efi Achtsioglou. Insgesamt machten sich 11 Abgeordnete unabhängig, etwa 1/3 des Zentralkomitees und ein Großteil der Parteijugend.

Kasselakis konnte von dem Parteiapparat von Syriza und einem bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft nicht toleriert werden, weil er keinen Parteibezug hat. Mit der Annahme von Kasselakis als Parteivorsitzenden hätten die Parteiführer ihr Ende besiegelt, das mit dessen Wahl ohnehin schon besiegelt war. Die 11 Abgeordnete gründeten eine neue politische Formation mit dem Namen »Neue Linke« und bemühen sich, inhaltliche Gründe zur Trennung vorzuschieben. Dafür bietet der Fall Kasselakis genug Anlässe. In seiner Rede vom Oktober beim griechischen Industrieverband sagte er, dass Syriza in die nächste Phase ihres historischen Kurses übergeht, »nämlich in die einer modernen Linken, die das Wort Kapital nicht verteufelt, sondern es als Werkzeug für den Wohlstand sieht, um die großen Ungleichheiten durch ein starkes Wachstum zu verringern«. Er begnügte sich nicht damit, den bekannten Mythos der Rechten von einer Gesellschaft zu beschreiben, in der »der Arbeitnehmer enger mit dem Erfolg des Unternehmens verbunden sein wird«, sondern argumentierte, dass der Grund für seine Wahl darin lag, dass er als Präsidentschaftskandidat von Anfang an »ausdrücklich von der Notwendigkeit der Einführung von Aktienoptionen sprach, um ein integratives Wachstum zu erreichen«. Im November beim Thessaloniki Summit desselben Verbandes sagte er: »Ich denke, das Neue, das ich mitbringe, ist eine Rückkehr zum alten, ordentlichen Griechenland. Ein Griechenland, in dem der Hausherr sein Haus sauber hielt, die Regeln und Gesetze befolgte und sich um seinen Nachbarn kümmerte und für ihn empfand.«

Der linke Journalist der »Zeitung der Redakteure« Dimitris Psarras hat die inhaltlichen Positionierungen von Kasselakis genauestens verfolgt und dessen alten Artikel aufgedeckt. Kasselakis schrieb über Jahre bei der als konservativ geltenden Zeitung National Herald der griechisch-amerikanischen Community. Unter anderem betreute er die »Kolumne des Studenten« oder die Kolumne »Die Farbe des Marktes«. »Wir haben Dutzende von Texten von Stephanos Kasselakis gefunden, die diejenigen widerlegen, die ihn kritisieren, indem sie sagen, dass er ein ‚Unwissender‘ sei, dass er keine politische Verfassung habe oder dass er keine Ahnung von Wirtschaft habe. Diese Texte zeigen eine bewundernswerte Geschlossenheit und eine klare politische Verfassung. Das einzige Problem ist, dass sie nichts mit der Linken zu tun haben.«  schreibt Psarras. In seinen frühen Schriften zeigte sich der Student Stefanos Kasselakis als überzeugter Rechter und Neoliberaler, als Befürworter der Wirtschaft und Gegner der Arbeitnehmer: »Die Löhne in Griechenland sind niedriger als im Europa der ersten Stunde, aber das mag kurzfristig gut sein, wenn wir damit die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Unternehmen im Ausland oder der ausländischen Unternehmen in Griechenland verbessern können« (7.7.2007). Oft brachte er sein Bedauern über die Mobilisierungen der Studierenden und Arbeiter in Griechenland zum Ausdruck: »Was soll ich denken, wenn meine engen Freunde in Griechenland wegen der Besetzungen und Streiks nicht studieren können, wenn sie es wollen?« Und: »Es ist unglaublich, dass die Kommunistische Partei in einem entwickelten Land wie Griechenland 8,1 Prozent der Stimmen erhalten hat« (27.9.2007).

Vor den zweiten Wahlen 2012 bezieht sich Kasselakis zum ersten Mal auf Alexis Tsipras und übernimmt laut Psarras alle alarmistischen Szenarien der Rechten: »Alexis Tsipras wurde am selben Tag zu einer internationalen Figur, als die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland den Euro verlässt, von 50 auf 75 % stieg. … Die Polarisierung, die derzeit in unserem Land herrscht, wird wahrscheinlich zu einer Zweiparteien-Koalitionsregierung führen. Wenn diese Regierung aus Syriza und einer anderen linken Partei besteht, werden die Märkte wohl ziemlich negativ auf diese Entwicklung reagieren (trotz des Geredes über den Verbleib im Euro ohne Sparmaßnahmen, das die Parteiführung propagiert). Es ist in der Tat beispiellos, dass 1 oder 2 % der griechischen Wähler einen so entscheidenden Einfluss auf die internationalen Märkte haben können« (2.6.2012).

Kasselakis versuchte nach Bekanntwerden dieser älteren Texte von ihm, zu beschwichtigen, indem er auf seine – damals – Jugend verwies. Nichtsdestotrotz bleiben auch die aktuellen wirklichen Positionen von ihm weiterhin ein Rätsel. Die kommenden Europawahlen werden vermutlich etwas Licht im Dunkeln streuen.

Die Wurzeln des Niedergangs

Die Zersetzung von Syriza war jedoch schon lange vor dem Amtsantritt des neuen Vorsitzenden im Gang. Ihre strategische Niederlage begann 2019, als Mitsotakis als wichtigster Sprecher der Anti-Syriza-Front die Wahlen gewann, und wurde mit der Wahlpleite 2023 abgeschlossen. Kasselakis ist nicht die Ursache für den Zusammenbruch, er ist das Symptom. Glücklicherweise scheint er dies selbst erkannt zu haben, denn er selbst erklärte, dass er nicht zum Vorsitzenden gewählt worden wäre, wenn Syriza richtig funktioniert hätte.

Alexis Tsipras hat die Partei nach einer unvollendeten Transformation verlassen. Sein erklärtes Ziel war es, sich in der üblichen Zweiparteien Demokratie Griechenlands als der zweite Pol zu etablieren und wenn möglich mit den Sozialdemokraten von Pasok zu vereinen. Er hatte schon längst mit linken Träumereien und Utopien abgeschlossen – spätestens mit seiner (durch die Gläubiger erzwungenen) Umwandlung des »Oxi« der griechischen Bevölkerung im Referendum um die Memoranden in ein »Nai« (Ja). Wenn eine linke Partei in einem Erpressungsszenario wie dem Schuldendiktat die Macht übernimmt, dann verändert sie nicht die Macht, sondern eher sich selbst. Das ist die Hölle, in die Tsipras eingetreten ist, und die gesamte Anti-Austeritätsbewegung mitgezogen hat. Um die Kontrolle über die Partei zu behalten, fand eine Zentralisierung der Strukturen statt, linke Positionen wurden marginalisiert und Parteitage inszeniert.

Der Hauptgrund der Niederlage von Syriza liegt allerdings in der mangelnden Verankerung in der Gesellschaft, in den Gewerkschaften und Gemeinden. Im Gegensatz zum Pasok der 80er und 90er Jahre des charismatischen sozialdemokratischen Anführers Andreas Papandreou gab es kein Geld zu verteilen. Pasok profitiert bis heute von dieser goldenen Zeit. Syriza schaffte es nicht, mit dem Sprung von Protestpartei in eine Regierungspartei eine eigene positive Agenda zu setzen. Bei den letzten Wahlen konzentrierte sich Tsipras nur auf die Dämonisierung von Mitsotakis und die Skandale der Regierung. Dabei darf nicht vergessen werden: Tsipras hat mit seiner Regierungspolitik den Erfolg von Mitsotakis überhaupt möglich gemacht. Der Mythos vom erholten Griechenland, das zu den Märkten zurückkehrt und von »The Economist« gar als Wirtschaftswunder dargestellt wird, fußt auf der schmutzigen Arbeit, die Syriza leisten musste.

Selbstkritik ist eine Stärke nur ganz weniger aktuellen und ehemaligen Syriza-Funktionäre. Der aufstrebende Syriza-Politiker und Arbeitswissenschaftler Dionisis Temponeras verlangt in einem Meinungsartikel in der »Zeitung der Redakteure« eine Diskussion, warum Syriza es versäumt hat, mit den »Massen« in Kontakt zu treten. »Warum diskutieren wir nicht über die Gründe für die Umwandlung der Partei in eine »bürokratische Maschine« mit einer Krone auf dem Kopf der Führung?« Im Gegensatz zu Achtsioglou und Tsakalotos bleibt Temponeras erstmal im Boot und gilt aktuell als einer der hoffnungsvollen Shootingstars der griechischen Linken. Temponeras ist Sohn des linken Lehrers Nikos Temponeras, der bei Studierendenprotesten im Januar 1991 von einem Mitglied der Studentenorganisation der ND in Patras ermordet wurde. Leute wie Temponeras haben die internen Diskussionen satt: »Das Wichtigste, was in der Debatte fehlt, sind politische Vorschläge. Stefanos Kasselakis wurde vor zwei Monaten mit politischen Positionen und Vorschlägen gewählt, aber die Partei hat bis heute keinen einzigen Gesetzesvorschlag vorgelegt.«

Die griechische Linke befindet sich seit dem Referendum 2015, den vier aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen von Syriza (drei Parlamentswahlen und eine Europawahl) und dem Rücktritt von Tsipras in einem Stadium der tiefen linken Melancholie (von Historiker Enzo Traverso angelehnt an Walter Benjamin). Sie steckt fest zwischen den Erfolgen auf der Straße und ihrer Bestätigung im Parlament auf der einen Seite, und der Machtlosigkeit gegenüber dem neoliberalen Weiterso auf der anderen. Diese Melancholie ebnet den Weg zu populistischen, aber auch post-politischen Zugängen, die überhaupt so etwas wie das Phänomen Kasselakis möglich machen. Es ist von Syriza ein riskantes Unterfangen gewesen, eine direktdemokratische Vorsitzendenwahl ohne doppelte Absicherung – wie etwa durch einen Parteitag – durchzuführen. Die Quittung dieser linken Illusion kommt durch die aktuelle Spaltung und eventuell die komplette Zersetzung der Partei. Ein Messias wird diese tiefe Krise nicht bewältigen

Geschrieben von:

John Malamatinas

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