Wirtschaft
anders denken.

Der paradoxe Sozialstaat

06.09.2016

Wie sich viele Deutsche aus den Wirtschaftskulturen von Schweden und den USA eine ideale Welt zusammenbauen. Eine Anmerkung zum Beitrag »Steuern, das Geld der Gesellschaft?«

Es gibt drei unterschiedliche gesellschaftliche Denk- und Verhaltensmuster. Erstens: Die US-AmerikanerInnen wollen möglichst geringe Steuern und Sozialabgaben. Dafür nehmen sie bewusst eine marode Infrastruktur und die gesellschaftlich verheerenden Folgen eines Minimal-Sozialstaats in Kauf. Ihr Menschenbild: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Zweitens: Die SkandinavierInnen, speziell die SchwedInnen, wollen in ihrem Land einen ausgebauten Sozialstaat und eine gute Infrastruktur. Dafür sind sie bereit, hohe Steuern und Sozialabgaben zu zahlen. Ihr Menschenbild: Der einzelne ist nicht allein für sein Schicksal verantwortlich. Die gesellschaftlichen Umstände tragen erheblich dazu bei, in welcher sozialen Lage sich jeder Mensch befindet. Deshalb hat der Staat mit seiner Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik für das individuelle Wohlergehen aller zu sorgen.

Ökonomisch rational, aber a-sozial

Und drittens: Die Deutschen wollen zwar auch einen ausgebauten Sozialstaat und eine gute Infrastruktur, aber nicht dafür bezahlen. Sie erwarten Leistungen wie im schwedischen Sozialstaat, wollen gleichzeitig aber so wenig Steuern und Sozialabgaben zahlen wie die US-BürgerInnen. Trittbrettfahrermentalität herrscht vor: Bezahlen sollen immer andere, selbst nimmt man nur die Vorteile mit. Das ist ökonomisch rational, aber in höchstem Maße a-sozial. Ihr Menschenbild: Eine Mischung aus amerikanischem Individualismus und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Grundsätzlich ist jeder seines Glückes Schmied. Wer aber unverschuldet in Not gerät, soll Hilfe von der nächsthöheren sozialen Einheit erhalten. Dieses sogenannte Subsidiaritätsprinzip bedeutet beispielsweise: Um einen Pflegebedürftigen soll sich zuallererst die Familie kümmern, erst wenn die familiären Möglichkeiten erschöpft sind, soll der Betreffende in einem Heim untergebracht werden.

Dieses dritte Modell ist illusionär: Es ist nicht möglich, sowohl niedrige Steuern und Sozialabgaben als auch einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat mit guter Infrastruktur zu haben. Diesen unrealistischen Erwartungen folgt irrationales Wahlverhalten: Unterstützt werden politische Kräfte, die Steuersenkungen versprechen, und im selben Atemzug wird über die Politik geschimpft, weil sie Schulen und Straßen verkommen lässt und Sozialleistungen kürzt.

Geschrieben von:

Hermann Adam

Professor für Politikwissenschaft

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