Wirtschaft
anders denken.

Der Unterschied der Unterhosen

15.11.2017

Plan und Markt sind ein schwieriges Paar. Aber was Märkte können und was Planung nicht kann, lässt sich durch demokratische Experimente herausfinden. / Ein Text aus dem Schwerpunkt »Planwirtschaft«.

In allen kapitalistischen Ökonomien wird geplant, jeden Tag und überall. Am meisten planen Großunternehmen wie multinationale Konzerne. Sie müssen es auch, weil sie schon längst nicht mehr in überschaubaren lokalen und regionalen Umfeldern handeln, sondern zunehmend transnational. Globale oder doch zumindest transnationale Wertschöpfungsketten lassen sich ohne sorgfältige Planung nicht aufbauen und nicht am Laufen halten. Das Gleiche gilt für große Investitionsvorhaben – wo auch immer – oder für längerfristig angelegte Operationen zur Erschließung neuer Märkte. Multis, die europa- oder gar weltweit operieren, haben nicht nur Vier- oder Fünfjahrespläne; Planungen mit einem Zeithorizont von zehn Jahren und mehr sind an der Tagesordnung.

Alle Staaten, Länder, Kommunen, alle öffentlichen Institutionen planen ständig. Im öffentlichen Sektor wird auch – wie in privatkapitalistischen Konzernen – zentral geplant. An der Stadt- und Regionalplanung sind in der Regel viele Institutionen und Organisationen beteiligt, dort gibt es – wie in multinationalen Konzernen – regelrechte Planungshierarchien und -bürokratien.

Kein Grund zur Sorge meinen die Enthusiasten des Cyber-Sozialismus heute, die neuen Informationstechnologien, die für jedermann zugänglichen Laptops und Smartphones im Verein mit dem Internet erlauben es, (fast) beliebig große Datenmengen zu erfassen, zu übermitteln und zu bearbeiten. Und das (fast) in Echtzeit.

Fragen, die ältere Planungsdebatten aufgeworfen haben

Eine gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Planung, die alle und jeden, jeden privaten Haushalt, jeden Betrieb, jede irgendwie relevante Organisation erfasst, ist heute möglich. Das scheint zumindest eine halbe Antwort auf die Fragen zu sein, die ältere Planungsdebatten aufgeworfen haben.

Nach dem Ersten Weltkrieg und noch einmal nach 1945 gab es in Europa eine recht lebendige Planungsdebatte. Die spätere ist uns näher, weil sie bereits von der Erfahrung mit der in der Sowjetunion betriebenen zentralstaatlichen Planung geprägt wurde. Friedrich von Hayek wurde mit einem Schlag berühmt als er 1944 sein Buch »Der Weg zur Knechtschaft« publizierte. Darin behauptete er, Planung in jeder Form sei nicht nur irrational, sondern führe auch unweigerlich zur totalitären Diktatur, sei es in Rot, sei es in Braun. Er widersprach dem Zeitgeist, dem gesamtgesellschaftliche Planung als unbedingt notwendig für den Wiederaufbau im kriegszerstörten Europa galt.

Hayek hatte den Ton der Debatte gesetzt

Viele widersprachen Hayek. Aber er hatte den Ton der Debatte gesetzt: Fortan musste, wer immer für Planung auf überbetrieblicher, gesellschaftlicher Ebene eintrat, sich auf die Frage einlassen, ob eine solche Planung mit individueller Freiheit vereinbar sei. »Planung und Freiheit«, »Freiheit in der Planwirtschaft«, so waren zahlreiche Beiträge zur Planungsdebatte dieser Jahre betitelt.

Der Markt galt nach liberaler Tradition als Sphäre der individuellen wirtschaftlichen Freiheit. Um effektiv zu planen, bedurfte es einer mehr oder minder zentralen Autorität, einer Behörde mit Kompetenzen und Macht. Auch wenn diese Planungsinstanz demokratisch legitimiert sein sollte, sie würde unweigerlich die Macht beanspruchen, die Freiheit des Einzelnen, die Autonomie der Betriebe und Privathaushalte einzuschränken. Die Sachzwänge des Marktes wirken anonym, stillschweigend, ohne Machtdemonstration. Eine Planbehörde muss Pläne vorlegen. Und sie muss sie auch durchsetzen können. Wie die Verkehrsregeln sind gesamtgesellschaftliche Pläne mehr als Diskussionsangebote.

Die Debatte um Markt und Plan wird durch den Anschauungsunterricht beherrscht, den das Beispiel der realsozialistischen Länder gab – im Guten wie im Schlechten. Für die Legitimation der zentralen Planung in den realsozialistischen Ländern war umgekehrt das Beispiel der florierenden kapitalistischen Marktwirtschaften im Westen verheerend. Die zentrale Planwirtschaft, gehandhabt von einer allmächtigen Staats- und Parteibürokratie, hatte einen wohlverdient schlechten Ruf – lange vor ihrem Zusammenbruch.

Die Linke im Westen: äußerst vorsichtig mit Planungsideen

Daher war die Linke im Westen äußerst vorsichtig mit Planungsideen. Wenn überhaupt, konnte Planung nur in dezentraler Form und demokratisch legitimiert stattfinden. In dieser Kombination allerdings, als dezentrale und demokratische Planung, schien sie durchaus keine schlechte Idee zu sein. Ende der 1960er Jahre erlebte die Bundesrepublik sogar eine wahre Planungseuphorie. Politische Planung, Gesellschaftsplanung, Strukturplanung, langfristige Entwicklungsplanung, alles schien möglich und sinnvoll.

In demokratischen Formen betrieben, erschien Planung bis in die Mitte der 1970er Jahre als die modernste und rationalste Form, mit der stets unsicheren Zukunft umzugehen. Mit der neoliberalen Zeitgeistwende gelang es im folgenden Jahrzehnt, alle Planungsideen zu begraben.

Die Planungsdebatte in den 1960er und 1970er Jahren war nützlich zur Klärung vieler Probleme. Ähnlich wie übrigens die gleichzeitigen Debatten um notwendige Reformen der zentralen Planwirtschaft, die in vielen realsozialistischen Ländern geführt wurden, auch im Nachbarland DDR. Denn vieles ist bis heute ungeklärt.

Gesamtwirtschaftliche Planung: Viel umfassender und weit komplexer

Grund zur Skepsis gab und gibt es. In allen demokratisch verfassten Ländern wird geplant, dezentral und zentral, also auch auf gesamtstaatlicher Ebene. Jedes Land, das auf sich hält, hat einen Haushaltsplan, in dem alle Einnahmen und Ausgaben des Staates und seiner Untergliederungen fein säuberlich für das nächste Haushaltsjahr aufgelistet sind. Über diesen Haushaltsplan entscheidet in allen demokratischen Ländern das Parlament. Ohne ein vom Parlament beschlossenes Haushaltsgesetz kann kein Ministerium Geld ausgeben, kein Finanzminister Schulden machen oder Steuern eintreiben.

Eine gesamtwirtschaftliche Planung ist unweigerlich viel umfassender und weit komplexer als die nur mäßig funktionierende Haushaltsplanung. Sie muss weit mehr planen als nur Finanzströme, sie muss in Produktion, Beschäftigung, Investition, Preisbildung eingreifen, sie muss regionale und sektorale Strukturen vorgeben bzw. verändern. Es geht nicht um ein oder zwei Großprojekte mit Dutzenden von Milliarden an Kosten und vieljähriger Bauzeit, sondern um Hunderte, Tausende solcher Projekte zugleich, die geplant und koordiniert sein wollen. Wir wissen, wie viele solcher Großprojekte unter heutigen, marktwirtschaftlichen Bedingungen scheitern.

Demokratische Wirtschaftsplanung: zeitaufwendig und arbeitsintensiv

Obendrein sollen diese Planungen demokratisch sein. Das heißt, in guter europäischer Tradition: Alle, die von einem Plan betroffen sind, direkt oder indirekt, sollen an der kollektiven Entscheidung über diesen Plan auch direkt beteiligt werden. Demokratische Wirtschaftsplanung wird daher höchst zeitaufwendig und arbeitsintensiv. Die Wirtschaftsbürger in einer demokratischen Planwirtschaft werden weit mehr tun müssen als einmal alle vier Jahre ins Wahllokal pilgern oder, wie die Schweizer, ein paar Mal pro Jahr an einer Abstimmung über eine spezielle Teilfrage teilnehmen. Sie werden ständig gefordert sein, mitzureden und mitzudenken.

Man kann sich das schon auf der betrieblichen Ebene klar machen: In Genossenschaften haben alle Vollmitglieder das Recht, an allen betrieblichen Entscheidungen beteiligt zu sein, jeder Genosse hat eine Stimme, jede Stimme wiegt gleich schwer. De facto beschränken sich die meisten Genossenschaften auf eine oder zwei Vollversammlungen pro Jahr, auf denen sie die Pläne der gewählten Betriebsleitung absegnen oder auch nicht. Sie verhalten sich also wie die Bürger einer parlamentarischen Demokratie. Ihr wichtigstes Recht ist das Recht, die Mitglieder des Managements zu wählen und abzuwählen.

Planungsbehörden, Räte – und die Rolle der Märkte

So kann man sich eine demokratische Gesamtplanung auch vorstellen: Die Bürger wählen in bestimmten Zeitabständen die Mitglieder von Planungsbehörden (die man Räte nennen kann, nach gutem absolutistischen Brauch), und sie ziehen sie zur Rechenschaft, wenn deren Pläne nichts taugen. Man kann sich vorstellen, dass sich nicht Parteien zur Wahl stellen, sondern dass Planungsteams mit unterschiedlichen Projekten bzw. Konzepten konkurrieren. Auch dann wird der Aufwand für jeden einzelnen Stimmbürger erheblich größer sein als heute. Bauchgefühl reicht nicht, man wird sich sachkundig machen müssen.

Eine der wichtigsten Entscheidungen in einer demokratischen Planwirtschaft betrifft die Rolle der Märkte: Was soll zentral geplant werden und was soll vielen privaten Produzenten überlassen werden? Angenommen, alle Grundbedürfnisse können in einer demokratischen Planwirtschaft befriedigt werden, für alle öffentlichen und Gemeingüter ist gesorgt, was soll, was kann dann noch zur Ware werden? Wofür brauchen die Menschen noch Geld? Um auf die Märkte zu gehen, die nach kollektivem Wunsch und demokratischer Entscheidung weiterbestehen? Ein bedingungsloses Grundeinkommen bekäme in einer solchen Wirtschaftsordnung einen guten Sinn.

Marktsozialismus ist möglich

Die Frage, was Märkte können und was Planung nicht kann, lässt sich auch pragmatisch entscheiden. Das heißt durch kontrollierte Experimente. Alle historischen Marktwirtschaften unterscheiden sich danach, was sie als Waren auf den Markt lassen und was nicht. Auch in der Geschichte des Kapitalismus sind gelegentlich blühende Märkte und Handelszweige geschlossen worden – durch politische Entscheidung.

Einen Marktsozialismus kann man im Prinzip auf die gleiche Weise entwickeln. Durch eine Folge von Experimenten und kollektiven Entscheidungen darüber, was zur Ware werden soll und was nicht. Wohnungen sollen keine Ware sein, menschliche Arbeitskraft soll keine Ware sein, aber warum nicht Schuhe oder Unterhosen?

Man kann sich sehr wohl auf demokratische Weise darüber verständigen, nicht alles demokratisch zu planen. Vieles kann man Märkten überlassen, die allerdings schon ganz anders aussähen, wenn sie überwiegend von Genossenschaften statt von kapitalistischen Privatunternehmen bevölkert wären.

Geschrieben von:

Michael Krätke

Professor für politische Ökonomie

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