Wirtschaft
anders denken.

Des eigenen Glückes Schmied sein können

14.09.2016
Foto: zettberlin / photocase.deDer moralische Kompass der Marktwirtschaft – Fleißige sollen ein besseres Leben haben.

Je lauter die Appelle für mehr Eigenverantwortung ertönen, desto mehr verblasst die Leistungsgerechtigkeit am moralischen Horizont unserer Erfolgsgesellschaft. Statt einer »Kultur des Scheiterns« herrscht die Kälte des Spießrutenlaufens. Teil 5 der Serie »Freiheit und Ausbeutung«.

Freiheit und Ausbeutung hängen, tatsächlich und gefühlt, eng an der Frage, ob sich Leistung lohnt. Wie kommt es zur – am besten gerechten –  Teilhabe an den Möglichkeiten des Handelns und Erlebens, die unsere Gesellschaft zu bieten hat? Schlager trällern vom Glück, das man nicht kaufen kann, der Volksmund neigt mehr zur Ansicht, alles sei käuflich. Zur Alltagserfahrung gehört: Geld dient als das Erfolgsmedium der Moderne, das wie eine Art Generalschlüssel für Teilhabe funktioniert, weil es so viele Zugänge öffnet. Wirkungskraft haben gewiss auch die Macht, das Recht, das Wissen, die Aufmerksamkeit, die Liebe, die Schönheit. Aber nicht umsonst ist das Geld in den Verdacht geraten, diese anderen Kräfte kaufen zu können.

An Geld als Einkommen und Vermögen kommt der Mensch durch seine Arbeitsleistung; diesen Grundgedanken etabliert und eine ganze Geschichte daraus gestrickt hat der englische Aufklärer John Locke (1632-1704). Seine Arbeitstheorie des Eigentums und die Legitimation sozialer Ungleichheit durch das Leistungsprinzip wurden seither in unendlichen Variationen nacherzählt, gipfelnd in dem Credo: Hier verdienen alle, was sie verdienen. Deckungsgleich mit den Alltagserfahrungen kleiner Leute war diese »große Erzählung« nie. Millionen-Boni auf der einen, Hungerlöhne auf der anderen Seite schwächen inzwischen den Glauben nachhaltig, ungleiche Einkommen würden aus guten und schlechten Leistungen resultieren. Trotzdem leuchtet Lockes Grundgedanke weiter wie ein ewiges Licht. Weshalb?

Selbstverantwortung klebt wie Schifferscheiße

Das Leistungsprinzip ist eingebettet in die Idee der europäischen Aufklärung, dass die Menschen sowohl als Gattung wie auch als Individuen ihres Glückes Schmied sind: Der individuelle Lebenslauf ereignet sich weder vorbestimmt noch fremdbestimmt, sondern es wird mit Erfolg belohnt, »wer immer strebend sich bemüht«. Alle sollen ein möglichst gutes, die Fleißigeren und Fähigeren ein besseres Leben haben, diese Gerechtigkeitsvorstellung bildet den moralischen Kompass für Marktwirtschaft und Demokratie. Weil Gerechtigkeit zusammen mit Freiheit am modernen Wertehimmel so hell strahlt, spricht die Gesellschaftskritik von links wie von rechts besonders viel und laut über soziale Ungerechtigkeit.

Auch die schärfste Kapitalismuskritik kommt jedoch nicht daran vorbei, dass das soziale Leben entscheidbar geworden ist. Die Bildungs-, Berufs-, Beziehungsentscheidungen, die ich heute treffe, wirken sich auf meine Möglichkeiten von morgen und übermorgen aus. Von solchen Auswirkungen kann ich mich später distanzieren mit dem Hinweis, es nicht gewusst, jedenfalls nicht gewollt zu haben, aber ein Rest Verantwortung dafür, so entschieden zu haben, klebt an mir, um es norddeutsch zu sagen, wie Schifferscheiße. Hoch willkommen ist Eigenverantwortung bei allen Entscheidungen, die sich als weitsichtig und klug herausstellen. Wer es sich als Eigenleistung anrechnet, dass es ihm besser geht, gerät allerdings automatisch in Verdacht, auch etwas damit zu tun zu haben, wenn es ihm schlecht geht.

Keine Gesellschafts- und keine Wirtschaftskritik, die Fragen der Selbstverantwortung ausklammert, hatte im 20. und hat im 21. Jahrhundert eine Chance, die Mehrheitsmeinung hinter sich zu bringen. Kollegen raten Kollegen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, Freundinnen sagen Freundinnen, dass auch sie selbst etwas tun können, Eltern erklären ihren Kindern, dass es auch – wenn schon nicht nur – von ihnen selbst abhängt, was aus ihnen wird. Wie viel Realismus im konkreten Fall in solchen Appellen an die Eigeninitiative steckt, kann dahingestellt bleiben, sie spiegeln weit über die Arbeitstheorie des Eigentums hinaus ein Selbstverständnis unserer Gesellschaft.

Wahrscheinlich ist Widerspruchsfreiheit die dümmste Illusion, die man sich über das Leben machen kann. Appelle für mehr Eigenverantwortung erschallen immer lauter. Aber im faktischen Verteilungsprozess wie im moralischen Empfinden unserer Erfolgsgesellschaft schwindet  Leistungsgerechtigkeit immer mehr. Dabei zerrieben wird das Versprechen der Chancengleichheit, damit hervorgerufen sozialer Stress. »Der Gerechtigkeitssinn verliert sein Objekt und muss sich vorhalten lassen, bloß staatliche Alimentierung zu wollen oder blanker Neid auf den Wohlstand anderer zu sein.« (Sighard Neckel)

Der aktivierende Sozialstaat sagt denen, die sich nach seiner Auffassung in einem »alimentierten« Leben einrichten: Dafür werden wir Euch bestrafen. Im Juli 2016 wurde im Paragraph 34 des SGB II (Sozialgesetzbuch) neu geregelt, dass Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, erhöhen oder nicht verringern, sämtliche erhaltene Leistungen zurückzuzahlen haben. Dies gilt nun also auch für jene, die nichts tun, um ihre Notlage zu beenden. Lehnt ein Hartz-IV-Empfänger einen Job grundlos ab, weigert sich eine Mutter, den Namen des Vaters ihres Kindes zu sagen und »verzichtet« damit auf Unterhalt, wird ein schlecht bezahlter Scheißjob ohne wichtigen Grund aufgegeben, können die Jobcenter für eine Dauer bis zu drei Jahren alle Leistungen zurückverlangen. Geld, gezahlte Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, Gutscheine, alles.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles sagte dazu in einem Interview der Neue Passauer Presse: »Es kann nicht sein, dass in bestimmten Stadtteilen und Familien Arbeit nicht zum Tagesablauf gehört.« Sie meint Erwerbsarbeit. Unbezahlte Haus- und Carearbeit, Ehrenämter und Freiwilligenarbeit zählen nicht. Statistiken, denen man nicht jede Zahl glauben muss, sagen aus, dass in Deutschland mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet wird. Egal ob es so zutrifft, unbezahlte Arbeit fällt jedenfalls nicht unter das herrschende Leistungsverständnis. Aber wer aufgrund einer Erbschaft Geld ausgeben kann, gilt als leistungsfähig; ob in seinem Tagesablauf Arbeit vorkommt, fragt niemand. Teilhabe ist stets eine Summe aus tatsächlicher individueller Leistung und günstigen oder ungünstigen sozialen Voraussetzungen. Mehr Nebelkerzen als über dieses Verhältnis werden in keiner anderen politischen Debatte geworfen.

Das Soziale als Dienerin des Individuellen

Wo ist das politische Programm, das bessere Lebenschancen als Zusammenspiel von persönlicher Initiative und sozialen Bedingungen begreift, statt das eine gegen das andere ins Feld zu führen? »Wir haben die Wahl: Freiheit oder Vater Staat« glaubt Kurt Biedenkopf, ein Haudegen auf den politischen Schlachtfeldern von gestern: Markt oder Staat, Selbsthilfe oder Fürsorge, Steuern rauf oder Steuern runter, Leistungs- oder Bedürftigkeitsprinzip. In diesen Alternativen zu denken und zu entscheiden, schmiedet die Räuberbande der Lebenschancen zusammen: Bildungsarmut, soziale Unsicherheit und Schuldenfallen.

Wo Geld als ein Generalschlüssel für Teilhabe funktioniert, muss eine Gesellschaft, die es mit Gerechtigkeit ernst meint, ihre Mitglieder mit finanziellen Ressourcen ausstatten, die ihnen Lebenschancen eröffnen. Es geht nicht um Gleichverteilung oder gar Gleichmacherei, aber sehr wohl gegen Freiheit für die einen durch Ausbeutung der anderen. Es kommt auf realistische Verwirklichungschancen an für individuelle, möglichst selbstbestimmte, vielfältig-bunte Lebenswege.

Nobelpreisträger Amartya Sen arbeitet an solchen Konzepten, die Verfechter eines garantierten Grundeinkommens suchen nach einer solchen Lösung, der Sozialwissenschaftler Steffen Mau hat den Vorschlag für einen Lebenschancenkredit gemacht. In allen diesen Ansätzen werden die sozialen Voraussetzungen persönlicher Lebensgestaltung anerkannt, ohne den modernen Grundgedanken zu verraten, dass das Soziale der freien Entfaltung des Individuellen dienen soll: Jede und jeder soll des eigenen Glückes Schmied sein können. Dazu gehört, sein Leben nicht der ökonomischen Effizienz weihen zu müssen.

In Teil 4 der Serie zu Freiheit und Ausbeutung beschäftigten sich Kathrin Gerlof und Hans-Jürgen Arlt mit der Konkurrenz in der vermachteten Marktwirtschaft.

Folgt Teil 6: Kapitalismuskritik und ökonomische Inkompetenz

Geschrieben von:

Hans-Jürgen Arlt

Professor für strategische Organisationskommunikation

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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