Wirtschaft
anders denken.

Deutschland 2018: Merkel und die neue Ungemütlichkeit

09.01.2018
Olaf Kosinsky, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Merkel, das Parteiensystem, die Krise: Und wieder ist ein ›deutscher Sonderweg‹ zu Ende gegangen. Diese arg strapazierte und überkommene Metapher ist jedenfalls eine Möglichkeit, das Ergebnis der Bundestagswahl und seine ins neue Jahr hineinreichenden Folgen auf einen Begriff zu bringen. 

Der ›Sonderweg‹ meint in diesem Fall eine besondere Gemütlichkeit im deutschen Parteiensystem, die die Bundesrepublik bis zum Beginn von Angela Merkels Kanzlerschaft auszeichnete und die sich seit 2005 mehr und mehr aufzulösen begann.

In seiner Soziologie der »Erlebnisgesellschaft« bringt Gerhard Schulze das Gefühlsuniversum der Gemütlichkeit wie folgt zum Ausdruck: »In Bildern, die man mit diesem Begriff verbindet, herrscht rötliches Licht und Wärme. Man ist einander nahe; die Gesichter sind freundlich; für das leibliche Wohl ist gesorgt; man sitzt, alles ist vertraut; nichts wird vom einzelnen verlangt, außer die Gemütlichkeit nicht zu stören. Ambiente der Gemütlichkeit ist das Wohnzimmer, der Herrgottswinkel, die Küchenecke. Allgemein lässt sich die Szenerie der Gemütlichkeit durch Außenverhältnis und Binnenklima charakterisieren. Nach außen hin ist der Topos der Gemütlichkeit abgeschlossen: räumlich begrenzt, sozial auf die Sphäre des Bekannten reduziert, zeitlich gegen die Zukunft abgeschirmt. Es gibt keine Gemütlichkeit unter freiem Himmel, allein oder mit völlig Fremden, aufgewühlt durch etwas Unerwartetes«.

In die Strukturmerkmale des Parteiensystems übersetzt, bedeutet die Auflösung dieser Art soziologisch klassifizierter Gemütlichkeit im Ländervergleich erstens eine relativ große Übersichtlichkeit. Nach einer kurzen Übergangsphase zu Beginn der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre gab es in alten BRD mit Union, SPD und FDP bekanntlich nur drei bundesweit relevante Parteien, die zudem immer gleich blieben. Abspaltungen oder Neugründungen ließen sich lange vernachlässigen.

Berechenbarkeit und Delegation

Zweitens war das Parteiensystem mehr als in den meisten anderen industriekapitalistischen Ländern des ›Westens‹ berechenbar. Die Bandbreite des politischen Spektrums war beschränkt nicht nur durch Verbote von SRP und KPD, sondern durch Berufsverbote und eine selbstverschuldete politische Wirkungslosigkeit der radikalen Linken, die vergleichsweise randständig blieb. Ebenso war der Aufbau einer Partei rechts von der Union vor der AfD nie überregional und dauerhaft erfolgreich. Auch wurde die Intensität der politischen Auseinandersetzungen durch den föderalen Aufbau des politischen Systems und dadurch bedingte Kooperationszwänge gedämpft. Lautstarke Angriffe im Wahlkampf à la »Freiheit oder Sozialismus!« wechselten sich mit ergebnisorientierten Verhandlungsrunden ab.

Zusätzlich gemäßigt wurde der Streit durch die Delegation wichtiger Entscheidungskompetenzen an Tarifparteien, Kammern und Verfassungsgerichte. Schließlich gab es keine phänomenalen Ausschläge bei den Wahlergebnissen der Parteien nach oben oder unten (»Volatilität«) und blieben vor der Zeit »platzende« Regierungen wie diejenige zwischen Union und FDP 1965 sowie die durch konstruktives Misstrauensvotum beendete Helmut Schmidt-Regierung 1982 die Ausnahme, was, wenn man nach Frankreich, Italien oder Großbritannien blickt, keineswegs einem internationalen Standard entsprach.

Drittens wurde die von Gerhard Schulze angesprochene Abschirmung nach außen hin erreicht durch fehlende Kontroversität der außenpolitischen Einbindung der Bundesrepublik. Bekanntlich gab die Sozialdemokratie nach den 1950er Jahren ihre Gegnerschaft zu Wiederbewaffnung, Westbindung und NATO-Mitgliedschaft auf, und als die Bündnisgrünen in die Verlegenheit des Mitregierens auf Bundesebene kamen, hatten sie in diesen Punkten real bereits nachgezogen.

In Deutschland gab es, wenn man von der begrenzten Sonderrolle der CSU absieht, weder überlebensfähige regionalistische Parteien noch solche mit einer ausländischen Macht als Sponsor, allen Anfeindungen von Franz Josef Strauß gegen die SPD als »fünfte Kolonne Moskaus« zum Trotz. Auch hinsichtlich der europäischen Integration und der Wirtschafts- und Währungsunion gab es lange in Deutschland keinen relevanten Dissens, anders als etwa in Frankreich oder Großbritannien.

Viertens und letztens lässt sich hinsichtlich der »Abschirmung gegen Zukunft« in Deutschland beobachten, dass die Parteien gegenüber gesellschaftspolitischem Wandel eher die Rolle einer ratifizierenden Nachhut, fast nie jedoch die einer vorpreschenden Avantgarde einnahmen.

So konstatierte der Göttinger Politologe Franz Walter verschiedentlich, dass fortschrittliche Regierungen tendenziell zumeist ein Ergebnis eines emanzipatorischen Wandels an der gesellschaftlichen Basis waren und nicht selbst als das antreibendes Subjekt gravierender Veränderungen agierten: Ob Abschaffung des ›Kuppelei-Paragraphen‹, die Abmilderungen des § 175 Strafgesetzbuch zur Kriminalisierung Homosexueller, die weitgehende formale Gleichstellung der Frauen, Reformen zum Schwangerschaftsabbruch, zur eingetragenen Lebenspartnerschaft und schließlich die Ehe für alle, all diese Gesetze folgten zumindest in der alten Bundesrepublik erst, als man hierzu um das Meinungsbild in der Bevölkerung nicht mehr erbittert kämpfen musste, sondern einen bereits vollzogenen Wandel nur noch registrieren und folgen brauchte.

Umgekehrt haben konservativere Regierungen diesen gesetzlichen Nachvollzug der gesellschaftspolitischen Realität zwar blockiert, wenn sie parlamentarisch die Mehrheit hatten, sie haben den Wandel selbst jedoch fast nie in den Poren der Zivilgesellschaft offensiv bekämpft. Beinharte Konservative beklagen deswegen bis heute, dass Helmut Kohls zu Beginn der Kanzlerschaft ausgerufener ›geistig-moralischer Wende‹ kaum ernsthafte Taten folgten.

Kein Untergang des Abendlandes

Das Wahlergebnis vom 24. September 2017 und seine Nachwirkungen scheinen zu bedeuten, dass es mit der deutschen Gemütlichkeit nun endgültig vorbei ist. Oberflächlich gesehen erleben die Deutschen nun, was für ihre niederländischen und belgischen Nachbarn schon länger Normalität ist: Langwierige Sondierungen und Koalitionsverhandlungen mit Phasen öffentlicher Kraftmeierei, massenmedial ausgetragene innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten und mehrmonatige Phasen ohne bzw. mit nur geschäftsführender Regierung usw.

Man kann durchaus das Positive an dieser Situation erkennen: Auch die Deutschen müssen nun einsehen, dass einige Monate ohne »normale« Regierung nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten. Nicht weniger schien man zu Beginn des Jahrhunderts befürchten zu sollen, wenn z. B. Gerhard Schröder seinen Rücktritt für den Fall androhte, dass die SPD ihm nicht auf den Weg der Agenda 2010 folge.

Auch ernstgemeinte Diskussionen über Minderheitsregierungen und andere Abweichungen vom Standard des bisherigen Regierungsmodus gehören sicherlich nicht zum Schlechtesten, was nach einer Bundestagswahl eintreten kann. Mittel- und langfristig sind aber die politischen Widersprüche das größere Problem, dem sich auch eine linke Politik stellen muss. Man sollte nicht den Fehler begehen, alle politische Energie für die empörte Aufregung über den Wahlerfolg der AfD zu verausgaben. Mit dem Einzug einer radikal-rechtspopulistischen Partei in den Bundestag spielt Deutschland jetzt im Konzert fast aller europäischen Nachbarländer mit, doch die tieferliegende Gemeinsamkeit mit den europäischen Nachbarn besteht in der gesellschaftlichen Polarisierung, von der die Rechtspopulisten der sichtbarste, aber nicht der einzige Ausdruck und zugleich Antreiber sind.

Polarisierung, Lagerbildung, Koalitionsprobleme

Paradoxerweise verfestigt sich diese Polarisierung, das heißt die unversöhnliche Lagerbildung im Parteiensystem zeitgleich mit einer erschwerten Koalitionsbildung, die gerade nicht Ausdruck gewachsener Positionsunterschiede zwischen den etablierten Parteien ist.

Dass die Differenzen überbrückbar sind, zeigten zuletzt die Jamaika-Verhandlungen, die bekanntlich nicht an den vormals hauptverdächtigen Antipoden CSU und Bündnisgrünen scheiterten, sondern am Exit der FDP. Und die FDP wiederum ließ ausreichend deutlich durchschauen, dass es nicht am künftigen grünen Partner, sondern an der Methode Angela Merkels gescheitert sei, mit der die Liberalen schließlich 2009-2013 einige Erfahrungen gemacht hatten, die mit ihrem Rausflug aus dem Bundestag endeten. Dass die Unterschiede zwischen Union und SPD nicht übermäßig groß ausfallen, bewiesen nicht allein die auffallende Einmütigkeit im treffend »Kanzlerduett« genannten gemeinsamen TV-Auftritt von Merkel und ihrem Herausforderer Martin Schulz. Auch was Schulz in der Spätphase des Wahlkampfes als »rote Linien« für eine Regierungsteilnahme der SPD verkündete, war keineswegs mit einer Fortsetzung der Großen Koalition unvereinbar, wie ihm CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder zu recht vorhalten konnte.

Was FDP und bislang ungekannt große Teile der SPD von einer weiteren Koalition abschreckt, sind nicht hochgeschraubte inhaltliche Ansprüche, sondern Instinkte politischer Selbsterhaltung. Die FDP will nicht riskieren, ihre größeren Wählergruppen zu brüskieren, die einerseits aus glühenden Wirtschaftsliberalen bestehen und andererseits aus denjenigen, die dem Charme Christian Lindners erlegen waren. Diese Gruppen haben zugleich sehr unterschiedliche Schmerzgrenzen dafür, was FDP erreichen soll und was sie sich leisten darf. Christian Lindner wiederum möchte selbst als der Vorsitzende in Erinnerung bleiben, der die Liberalen dauerhaft und nicht nur einmalig in den Bundestag zurückgeführt hat.

Die SPD hingegen findet mit ihrer ganz eigenen Dialektik just dann zu einem Selbstbehauptungswillen als Partei mit eigenem Profil, als das Wahlergebnis und das Scheitern von Jamaika realistisch keine andere als eine erneute Große Koalition mit kleinerem Partner SPD mehr zulassen. Sozialdemokratisches Draufsatteln bei Forderungen für etwaige Koalitionsverhandlungen wie mit der Bürgerversicherung ist eher Ausdruck eigener Hilflosigkeit als taktische Finesse, da die einzig denkbare Mehrheit, mit der diese Reform – wenn überhaupt – durchsetzbar gewesen wäre, bis aufs weitere perdu ist.

Merkel ist den Sozialdemokraten taktisch meilenweit voraus

Wie an ihrer Neujahrsansprache für 2018 deutlich wurde, ist Angela Merkel – nicht zum ersten Mal – der SPD taktisch meilenweit voraus. Es folgt nicht nur ihr Plädoyer für eine baldige, stabile Regierungsbildung der Mehrheitsmeinung der Deutschen. Merkel hat überdies klugerweise gerechtigkeitspolitisch sympathisch klingende Bekenntnisse eingeflochten, die den (weiter) regierungswilligen Sozialdemokraten innerhalb der SPD eine Brücke bauen sollen. »Wirklich gut geht es Deutschland«, nämlich laut Merkel, »wenn der Erfolg allen Menschen dient und unser Leben verbessert und bereichert. Dabei kann der Leitgedanke der Sozialen Marktwirtschaft, dass wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Zusammenhalt zwei Seiten einer Medaille sind, auch in der Zeit des digitalen Fortschritts unser Kompass sein«.

Merkel spricht über Sicherung bestehender und Schaffung neuer Arbeitsplätze, Förderung innovativer Technik und davon, »den Staat zum digitalen Vorreiter zu machen«, mehr Einsatz und finanzielle Entlastungen für Familien, »damit sie Familienleben und Beruf noch besser vereinbaren können« sowie davon, »eine gute und würdevolle Pflege zu ermöglichen, in dem wir die Pflegeberufe stärken und die Menschen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, noch besser unterstützen«. Schließlich ergänzt die Kanzlerin ihr Plädoyer für mehr Investitionen in die innere Sicherheit noch durch die Ansage, »für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen unseres Landes zu sorgen – ganz gleich ob in der Stadt oder auf dem Land«.

Es handelt sich im Großen und Ganzen um einen Konsenskatalog, mit dem die Kanzlerin ein Ohr nah an der Bevölkerung beweist und mit dem sie viel geschickter auf Befindlichkeiten der Massen eingeht, als es das berüchtigte »Kanzlerduett« vor der Wahl zuließ, das sich bekanntlich fast nur um migrations- und sicherheitspolitische Themen im Kreis drehte. Ein überaus kluger Spielzug Merkels ist es, so den öffentlichen Erwartungsdruck an schnelle Regierungsbildung an die SPD zurückzuspielen, selbst wenn die Zugeständnisse, zu denen sie in der Substanz am Verhandlungstisch dann tatsächlich bereit sein wird, eher geringer ausfallen werden als 2013.

Ein Angebot, das die SPD nicht ablehnen kann

Damit könnte es Merkel nochmals gelingen, an ihre bereits verloren geglaubte Rolle als über dem Parteienstreit schwebende Kanzlerin aller Deutschen anzuknüpfen, die Wähler so lieb gewannen, weil sie ihnen einen Teil der oben beschriebenen, scheibchenweise verloren gegangenen Gemütlichkeit nach den Schocktherapien von Kriegseinsätzen, Agenda 2010 und Rente erst ab 67, Finanz- und Eurokrise zurückzugeben schien. Sie verlor diesen Nimbus, als ein Teil der Bevölkerung den Eindruck gewann, Merkel habe in der so genannten Flüchtlingskrise die Außen- und Zukunftsabschirmung des Gemütlichkeitspanzers zerschnitten, als dessen Garantie sie solange schien, so dass man sich auf einmal »mit völlig Fremden, aufgewühlt durch etwas Unerwartetes« wiederfand.

Nun aber zeigt Merkel, dass sie unbeschadet ihrer Worte vom Wahlabend (»Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssen«) doch dazugelernt hat. Am Vorabend des neuen Jahres machte die Kanzlerin der SPD ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann. Jedenfalls wird die SPD es nicht zurückweisen können, ohne dass sie der Unverantwortlichkeit, der überzogenen Erwartungen und der Missachtung des Wählerwillens gescholten werden würde, mit entsprechend negativen Ausgangsvoraussetzungen für eine daraus resultierende Neuwahl des Bundestages. Weil der Bundestag nun mal demokratisch in seiner jetzigen Zusammensetzung gewählt wurde und die SPD eine Große Koalition vor der Wahl nicht kategorisch ausgeschlossen hat, träfen sie diese Vorwürfe mit einigem Recht.

In diesem Sinne ließ sich Mi­cha­el Ku­nert, Ge­schäfts­füh­rer von In­fra­test Di­map gegenüber der FAZ über die wahrscheinlich veränderten Kalküle der Wählerschaft bei einer Neuwahl zitieren, dank derer das Ergebnis voraussichtlich merklich anders ausfalle als im vergangenen September: »Die Wäh­ler wer­den viel stär­ker nach der Ko­ali­ti­ons­tak­tik ih­re Stim­me ver­ge­ben. (…) Ent­schei­dend wird sein, mit wel­chen Spit­zen­po­li­ti­kern die Par­tei­en in die Wahl ge­hen und wie die Mehr­heit der Deut­schen die Schuld­fra­ge nach dem mög­li­chen Schei­tern der Son­die­rungs- oder Ko­ali­ti­ons­ge­sprä­che ein­schätzt.«

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