Wirtschaft
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Zurück nach Westerland

12.06.2023
Ein ICE steht im Berliner HBFFoto: Daniel AbadiaFür den ICE nicht gültig: Das Deutschlandticket ist seit Mai erhältlich.

Die Rückkehr eines kostengünstigen Bahnangebots mit dem Deutschlandticket könnte den Heimattourismus beflügeln. Viel wichtiger wäre jedoch eine Veränderung der Alltagsmobilität. Ein Text zum Tourismus-Schwerpunkt von OXI 6/23.

Schlappe acht Monate hat es gedauert bis die Bundesregierung, genauer Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), ein Nachfolgemodell zum beliebten 9-Euro-Ticket eingeführt hat. Viel zu lange meinen diejenigen, die im nicht kostenlosen, aber doch kostengünstigen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eine auch über Krisenzeiten hinaus sinnvolle Maßnahme sehen. Und das sind viele: 55 Prozent sprachen sich in einer SPIEGEL-Umfrage kurz vor Ende des Tickets im letzten Sommer für eine Verlängerung aus.

Doch es gibt auch andere Sichtweisen: Man könnte argumentieren, dass die winterliche Pause der Fahrkarte durchaus zu verkraften ist. Diese wurde doch größtenteils für Sommerausflug und Heimaturlaub verwendet. Das bestätigt auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie. »Das 9-Euro-Ticket wurde somit insbesondere für längere Fahrten genutzt«, schreiben die Forscher:innen und schlussfolgern, dass besonders der Ausflugsverkehr durch die Aktion gesteigert wurde. Mit dem sogenannten Deutschlandticket wurde pünktlich zum Feiertags-gespickten Mai und der nachfolgenden Feriensaison wieder eine Möglichkeit geschaffen, billig zu verreisen. Nun kommt der Pöbel erneut nach Sylt ­– nur halt für 49 und nicht 9 Euro.

Doch das entspricht aus gleich zweierlei Gründen nicht dem Grundgedanken des 9-Euro-Tickets: Zum einen ist der Preis für das Deutschlandticket zwar deutlich geringer relativ zum Leistungsumfang als herkömmliche ÖPNV-Abos, aber immer noch mehr als fünf Mal so hoch wie der des 9-Euro-Tickets. Zum anderen sollte die Entlastungsmaßnahme im Gegensatz zum Tankrabatt umweltfreundliche Alltagsmobilität fördern, nicht den Tourismus. Zu beiden Argumenten äußert sich die angesprochene DIW-Studie.

Laut dieser kauften 40 bis 42 Prozent der Befragten in den drei Angebotsmonaten jeweils ein 9-Euro-Ticket. Der Anteil variiert jedoch stark nach Alters- und vor allem Einkommensgruppe: Besonders junge Menschen unter 30 Jahren machten von der Maßnahme gebraucht. Im Juli 2022 kauften gar 59 Prozent von ihnen eins der subventionierten Tickets. Höhere Anteile erreichen nur arme Menschen. Solche mit einem monatlichen Haushaltsnetto-Einkommen von unter 1000 Euro erwarben es im Juni zu 62 Prozent. Einen hohen Anteil ermittelten die DIW-Forscher:innen auch bei Personen in Ausbildung und Arbeitslosen. In der Stadt wurde das Ticket deutlich mehr genutzt als auf dem Land. Insgesamt verkauften die beteiligten Verkehrsbetriebe zwischen 14 und 21 Millionen Tickets monatlich, hinzu kommen noch 10 Millionen Zeitkarten, die automatisch zum 9-Euro-Ticket wurden.

Diese Zusammensetzung der Nutzer:innen lässt darauf schließen, dass die Sensibilität gegenüber des Ticketpreises relativ hoch ist. Arme können sich es einfach nicht leisten und verzichten eher auf Fahrten mit dem ÖPNV, wenn der Preis nicht sehr niedrig ausfällt. Hier ist der Unterschied von 9 zu 49 Euro enorm. Um dies zu eruieren, fragte das DIW in der Studie nach der Zahlungsbereitschaft für ein Ticket mit demselben Leistungsumfang des 9-Euro-Tickets. »Mit einem Median von 29 Euro liegt der Großteil der Antworten deutlich unter 50 Euro«, so Daniel Gaus, Neil Murray und Heike Link, die sich für die Befragung verantwortlich zeichnen. Den Preis des Deutschlandtickets sollten also viele als zu teuer empfinden.

Viel wichtiger für den Zusammenhang von 9-Euro-Ticket und Tourismus scheint allerdings das Argument, dass es eigentlich einen Anreiz bieten sollte auf umweltfreundlichere Verkehrsmittel als das Auto umzusteigen, also gar nicht für den touristischen Verkehr ausgelegt ist. Diese grundlegende Idee wurde kaum erfüllt: »Ein kurzfristig verfügbares Angebot wie das 9-Euro-Ticket führt nicht zu wesentlichen Änderungen im Alltagsmobilitätsverhalten oder einem messbaren Umstieg hin zum ÖPNV«, heißt es vom DIW. Dafür sei der Angebotszeitraum zu kurz, der ÖPNV – vor allem auf dem Land – zu schlecht ausgebaut und das Netz durchgehend zu überlastet gewesen. Das spürte wohl jede:r, der oder die letzten Sommer mal einen Regionalexpress am Wochenende nehmen wollte und könnte ein Grund für die Fokussierung der öffentlichen Debatte auf Kurztrips und Heimaturlaub mit dem 9-Euro-Ticket sein. Ein paar Punker, die auch nicht vor der 10-stündigen Regionalexpress-Odyssee nach Sylt zurückschrecken, symbolisieren die Rezeption des 9-Euro-Tickets mehr als der Anstoß des dringend notwendigen Umbaus des öffentlichen Nahverkehrs, dem tatsächlich – wie so viele Liberale dem 9-Euro-Ticket vorhalten – mit einem billigen Fahrpreis noch nicht geholfen ist. So steigt niemand nachhaltig auf die Schiene um ­– nicht im Alltag und nach kurzer Euphorie auch niemand mehr für die Reise zum Ausflugsziel.

Doch ein solcher Wechsel der Verkehrsmittelwahl im Tourismus würde auch diesen grüner machen. Denn der Stau raubt nicht nur der letzten Urlauber:in die wohlverdienten Erholung, sondern schadet auch massiv der CO2-Bilanz – selbst wenn er dann wieder rollt. Für einen Wechsel zum Zug bräuchte es – genau wie im Nahverkehr – massive Investitionen in Netze und Infrastruktur. Und eine Ausweitung von erschwinglichen Tickets oder gesonderten Angeboten auf den Fernverkehr. Einmal nimmt man den Aufwand auf sich für wenig Geld ein paar Stunden im Regionalexpress an die nächstliegende Badestelle, an der man noch nicht tausende Male war, zu fahren. Eine dauerhafte Alternative zum unkomplizierten Urlaub im Fernen mit Auto oder Flugzeug ist das allerdings nicht. Die braucht es aber, um auch den Tourismus nachhaltig zu gestalten.

Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die EU-Kommission mit dem Aktionsplan zur Förderung des Fern- und grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs im europäischen Jahr der Schiene 2021 getan. Mit diesem möchte sie internationale Hürden – technischer und organisatorischer Art – des binnen-europäischen Zugverkehrs abbauen. Die Europäische Investitionsbank stellt über eine eigene Plattform Mittel zur Finanzierung von Projekten zur Verfügung. So sollen Urlaubsreisen mit dem Zug auch über Grenzen hinweg attraktiver werden.

Verbindet man diesen Ansatz mit dem deutschen 9-Euro-Ticket, kommt schnell die Assoziation mit dem traditionsreichen Interrail-Ticket auf, das bereits seit den 1970ern vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Reisen durch Europa ermöglichen soll. Gar keine schlechte Idee: Wie wäre es denn mit einem europäischen 9-Euro -Ticket? Nicht nur für drei Monate und begleitet von einem umfassenden Investitionsprogramm in die Schiene bitte. Das sagt die Wissenschaft.

Zum Weiterlesen:

Dennis Gaus, Neil Murray, Heike Link: 9-Euro-Ticket: Niedrigere Preise allein stärken Alltagsmobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht, DIW Wochenbericht 14/15, 2023.

Geschrieben von:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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