Wirtschaft
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»Die Armen sind gar nicht arm.« Wie bitte? Mythen und Fakten zur Ungleichheit in Deutschland, Teil I

17.11.2018
Illustration: Marie Geissler

Sind die »Armen« in Deutschland gar nicht arm? Ist Ungleichheit »leistungsgerecht«? Fehlt es Deutschland bloß an Chancengleichheit? Dass Einkommen und Vermögen hierzulande krass ungleich verteilt sind, ist allgemein bekannt. Aber wie läuft die Debatte? Wir haben uns einige der gängigen Rechtfertigungen für die bestehende Ungleichheit und Lösungsargumente angesehen. Diese Serie behandelt Mythen und Fakten zur Ungleichheit in Deutschland. Sie basiert auf der Publikation »luxemburg argumente«, die 2016 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben wurde. Wo es möglich war, wurden Daten aktualisiert.


»Ein statistischer Trick macht es möglich, dass die Armut auf dem Papier zunimmt, obwohl sich die Lebensverhältnisse in Wirklichkeit seit Jahren günstig entwickeln.« (aus der FAZ)

Was wird gesagt? 

Im Jahr 2017 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts 16,1 Prozent der Bundesbürger_innen arm – oder armutsgefährdet, wie es im staatlichen Sprachgebrauch heißt. Die Armutsquote ist gegenüber 2005 gestiegen, sie lag damals bei 14,7 Prozent, gegenüber 2016 ist sie leicht zurückgegangen (16,5 Prozent). Doch führe dieser Befund in die Irre. Die Armutsquote habe nämlich »mit Armut nichts zu tun«, erklärt der Statistikprofessor Walter Krämer, sie ist vielmehr »ein (schlechtes) Maß für die Einkommensungleichheit«. Die Armut nimmt also nur auf dem Papier zu, in Wirklichkeit entwickeln sich die Lebensverhältnisse seit Jahren günstig. Kurzum: Wir haben es hier mit einem »Armutsschwindel« zu tun. 

Was ist dran? 

Die Armutsquote ist zweifellos ein Gradmesser für Ungleichheit. Laut Statistischem Bundesamt ist armutsgefährdet, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt, und zwar inklusive Sozialleistungen. Für einen alleinstehenden Menschen lag die Schwelle hierzulande zuletzt bei 1.096 Euro im Monat. Mit der Armutsquote wird Armut am Einkommensniveau eines Landes gemessen. Deswegen wird sie auch als »relative Armut« bezeichnet. 

Das mittlere Einkommen (auch Medianeinkommen) ist ein besserer Indikator für die Verteilung als das Durchschnittseinkommen (auch arithmetischer Mittelwert). Wie wird es berechnet? Sortiert man die Bevölkerung nach der Höhe ihres Einkommens und bildet dann zwei gleich große Gruppen, würde die Person, die genau in der Mitte dieser Verteilung steht, das Medianeinkommen beziehen. Während der Durchschnitt durch besonders hohe und/oder niedrige Einkommen beeinflusst wird, filtert der Median diese statistischen Ausreißer besser heraus. 

Ein Beispiel: In einer Gruppe von drei Menschen verdient eine Person 2.000 Euro im Monat, eine 4.000 Euro und eine 100.000 Euro. Im Durchschnitt verdient jede also 35.333 Euro – der oder die Großverdiener_in verzerrt das Einkommensniveau nach oben. Das Medianeinkommen hingegen liegt bei 4.000 Euro, also genau in der Mitte. Dieser Ansatz ist europaweit üblich. Außerdem ist er sachgerecht. Denn ob jemand in einer Gesellschaft arm ist oder nicht, misst sich vernünftigerweise an einem Normaleinkommen – also an dem Einkommen, das in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt üblich ist. 

Arme in Deutschland mögen viel mehr haben als Bettler_innen in Kalkutta, die nichts zu essen haben. Arme in Deutschland im Jahr 2018 mögen viel mehr haben als Arme in Deutschland 1890, die zu fünft in einem Zimmer hausten. Aber derartige Vergleiche sind maßlos: Denn auf der ganzen Welt und in der gesamten Menschheitsgeschichte wird man immer Menschen finden, die noch weniger haben oder hatten. 

Was eine Gesellschaft aktuell produziert

Sinnvoll für die Armutsmessung ist nur der Vergleich aktueller Einkommen mit dem, was eine Gesellschaft aktuell produziert. Wenn ein Mensch extrem geringe Anteile am produzierten Reichtum erhält, ist er arm. Arme Menschen sind eingeschränkt bei der Wahl der Wohnung, der Kleidung, der Lebensmittel, der Zahnbehandlung oder des Urlaubsziels, sie haben weniger Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, sie sind häufiger krank und sterben früher. 

Armut sagt mithin nicht nur etwas darüber aus, wie viel Geld ein einzelner Mensch zur Verfügung hat, sondern auch darüber, wie der Reichtum verteilt ist. Armut ist ein Verteilungsmaß, an dem auch abzulesen ist, ob die Ungleichheit im Laufe der Jahre größer oder kleiner geworden ist. In Deutschland ist sie seit Beginn der Messung durch das Statistische Bundesamt im Jahr 2005 größer geworden. Das ist interessant, weil im gleichen Zeitraum die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen um über zwei Millionen gesunken ist. Die Entwicklung widerspricht also der These: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« 

Dass es trotz Wirtschaftswachstum und Rekordbeschäftigung mehr Arme in Deutschland gibt, hängt unter anderem damit zusammen, dass der Anteil der armen Rentner_innen und Erwerbslosen stark gestiegen ist – Hartz IV und Rentenreformen zeigen Wirkung. 

Doch um solche Entwicklungen geht es den Kritiker_innen der Armutsquote nicht. Sie stört vielmehr, dass Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens als »arm« bezeichnet werden. Denn »Armut« ist ein moralischer Begriff: Armut ist schlecht und sollte bekämpft werden. Solange der Armutsbegriff, den deutsche und EU-Behörden verwenden, aber mit Ungleichheit verknüpft ist, müsste deshalb auch die Ungleichheit verringert werden. Das behagt konservativen Kritiker_innen nicht. Sie wollen die gesellschaftlich geächtete Armut von der Ungleichheit abkoppeln. »Die Bekämpfung der Armut ist ein moralisch gebotenes Ziel«, hieß es einmal in der FAZ unter der Überschrift »Ein Lob der Ungleichheit«. Und weiter: »Ungleichheit muss man ertragen, besser noch: Man muss sie nutzen.«

Und was ist aus Sicht der Kritiker_innen dann Armut? Die FAZ bleibt vage und spricht von »wirklich Armen«. Der oben zitierte Professor Krämer nennt als Beispiel die Definition der Weltbank, die Menschen als arm einstuft, die von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag leben müssen. Würde man dies auf Deutschland übertragen, wäre zum Beispiel eine Bettlerin, die hierzulande ohne Papiere lebt, keine Sozialhilfe erhält und täglich zwei Euro einsammelt, nicht arm. 

Wer Armut nicht am Wohlstandsniveau eines Landes oder einer Region messen will, dem bleibt als Maßstab im Grunde nur die absolute Armut, seien es 1,90 oder fünf US-Dollar am Tag. Damit wird Armut zu einem Phänomen, das in Ländern wie Uganda oder Tansania verbreitet ist, nicht jedoch hierzulande. So verschwindet Armut nahezu vollständig aus Deutschland – ganz ohne Umverteilung des Reichtums.

Illustration Marie Geißler, www.mariegeissler.de. Die Broschüre ist derzeit nur online bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhältlich.

Geschrieben von:

Eva Roth

Journalistin

Stephan Kaufmann

Journalist

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