Wirtschaft
anders denken.

Die DDR und die »kleinen« Unterschiede 

19.06.2019
Foto: Jörg Blobelt , Lizenz: CC BY-SA 4.0Neptunfest in einem DDR-Kinderferienlager, 1969.

Leere Regale, lange Schlangen? Zur »Mangelgesellschaft« lässt sich die DDR nicht vereinfachen. Der Kulturhistoriker Gerd Dietrich über Armut, Überfluss und Lebensstile in einem untergegangenen Land. Ein Text aus der gedruckten OXI, April 2019.

Als Ursache der wirtschaftlichen Probleme machte das Politbüro der SED 1988 die Konsumansprüche der Bevölkerung aus. Von einer Beratung hieß es: »Unsere Leute wollen die soziale Sicherheit, Geborgenheit, sichere Arbeitsplätze und Ausbildung von uns und die Kaufhäuser aus der BRD.« 

Gleichwohl wurde die Befriedigung des Konsums starrsinnig beibehalten, obwohl sie auf Kosten der Substanz ging. Und der Konsum basierte auch nicht mehr auf dem Grundsatz sozialer Gerechtigkeit, denn es hatte sich eine neue Schichtung herausgebildet: a) Arbeiter und wenig Verdienende ohne Zugang zur »Westwährung«, die auf das subventionierte Grundangebot angewiesen waren; b) Bürger, die dank höherer Einkommen in Exquisit- und Delikat-Läden Waren besserer Qualität, darunter auch Westwaren, kaufen konnten; c) Besitzer von DM, die ihre Bedürfnisse darüber hinaus in Intershop-Läden befriedigen konnten.

Diese neue Schichtung überlagerte die bisherige relative Gleichheit, die gleichwohl fortbestand und in der das Verhältnis der höchsten zu den geringsten Einkommen in den volkseigenen Betrieben etwa eins zu fünf ausmachte.

Bei relativ stabilem Wirtschaftswachstum spitzten sich die strukturellen Probleme ab 1985 weiter zu: Die Geldfonds der Bevölkerung wuchsen schneller als das Nationaleinkommen, noch schneller wuchsen die Einnahmen aus den gesellschaftlichen Fonds, der sogenannten zweiten Lohntüte, und am schnellsten wuchsen die staatlichen Subventionen. Aus all dem entstand ein großer Kaufkraftüberhang, die Spareinlagen der Bevölkerung stiegen, die innere Staatsverschuldung nahm zu. 

Allerdings war der Kaufkraftüberhang nicht bei allen Menschen in gleichem Maße spürbar. Vor allem die etwa dreißig Prozent der Bevölkerung, die auf die subventionierten Erzeugnisse, Mieten und Leistungen angewiesen waren, merkten davon wenig. Aber bei immerhin siebzig Prozent der Bevölkerung riefen die gestiegenen Einnahmen höhere Konsumbedürfnisse hervor. Zwar konnte der Bedarf an Grundnahrungsmitteln im Prinzip gedeckt werden, aber das Angebot wurde dünner. Obst und Gemüse, insbesondere Südfrüchte, konnten nicht in ausreichendem Maße bereitgestellt werden. 

Der Unmut in der Bevölkerung steigerte sich durch einen merklichen Preisauftrieb bei höherwertigen Lebensmitteln und technischen Konsumgütern. Denn einerseits sollte der Anstieg der Subventionen mit produktbezogenen Abgaben bei diesen hochwertigen Waren teilweise gedeckt werden. Andererseits war es den Produzenten dieser Waren möglich, selbst bei geringen Verbesserungen des Gebrauchswerts die Preise zu erhöhen. 

Die Leistungen der »zweiten Lohntüte«

So beruhte der Zuwachs des Einzelhandelsumsatzes zunehmend auf Preissteigerungen, während sich der Mengenumsatz nur geringfügig erhöhte oder gar stagnierte. Zugleich nahmen die Subventionen für Waren des Grundbedarfs, Mieten und Leistungen erheblich zu. Sie stiegen auf mehr als das Doppelte. Damit wuchs ihr Anteil an den Staatshaushaltsausgaben von »knapp 14 auf 21 Prozent«. Auf diese Weise stiegen die Leistungen der »zweiten Lohntüte« schneller als die Arbeitseinkommen. »Alles in allem hing der Lebensstandard immer weniger von der eigenen Leistung ab, und immer mehr des erreichten Produktivitätszuwachses wurde für die privaten Einkommen ausgegeben«, wie es André Steiner in seiner »Wirtschaftsgeschichte der DDR« formuliert hat.

Auf die unentgeltlichen und subventionierten Leistungen waren besonders die Rentner angewiesen. Sie konnten von den sozialpolitischen Maßnahmen kaum profitieren. »Die durchschnittliche Altersrente machte nur zwischen 30 und 40 Prozent des Durchschnittseinkommens der Arbeiter und Angestellten aus.« Wobei 92 von 100 Frauen eine Altersrente unter fünfhundert Mark erhielten, aber nur 35 Prozent der Männer. Bezogen auf das Geldeinkommen »lebten in der DDR 1970 circa 65 Prozent, 1980 etwa 50 und 1988 rund 45 Prozent der Rentnerhaushalte im Bereich der Armutsgrenze«, so Klaus-Peter Schwitzer.

Kein Wunder also, das noch zahlreiche ältere Menschen berufstätig waren. Neben der Aufbesserung des Einkommens gab es drei weitere Motive zu arbeiten: das Bedürfnis nach Anerkennung und nützlichem Tun, das Gefühl, noch gebraucht zu werden, sowie die sozialen und kommunikativen Angebote der Betriebe. Weil aber die SED-Politik nicht in der Lage war, die angestrebte soziale Sicherheit und Geborgenheit auf einem Niveau oberhalb der Grundsicherung zu gewährleisten, verließen jährlich auch etwa 5.000 Rentner das Land. 

Die Hälfte der Rentner an der Armutsgrenze

Während etwa die Hälfte der Rentner, also etwa 10 Prozent der Bevölkerung, an der Armutsgrenze lebte, konnten sich etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung praktisch alles leisten. Auch wenn die SED-Führung die Entstehung einer neuen Oberschicht zu leugnen versuchte, war doch nicht zu übersehen, dass die herrschende politische Klasse und große Teile ihrer sozialistischen Dienstklasse sozial privilegiert waren. 

Zu den Hochverdienern aber gehörten vor allem Handwerker und Spitzenkünstler wie auch Partei- und Wirtschaftskader. Zweitwagen, Datschen und Urlaubswohnungen, Zweit- und Drittausstattungen bei hochwertigen technischen Konsumgütern, Antiquitäten, Pelze und Schmuck waren in diesen Kreisen üblich. Eine Befriedigung ihrer ständig wachsenden Ansprüche wurde allein durch die Knappheit bei Gütern und Dienstleistungen eingeschränkt. Allerdings konnten viele auf die Intershop-Läden, den Genex-Versand beziehungsweise Einkäufe im Westen zurückgreifen. 

Auch die Massenmotorisierung war nicht mehr aufzuhalten. Schrittweise sank das Auto aus der Sphäre des Luxus in den alltäglichen Gebrauch herab. Aber es blieb ein kostbares Gut, weil die Produktion den wachsenden Bedarf nicht decken konnte. So stiegen die Wartezeiten auf einen Neuwagen beim Trabant in den 80ern auf 12 bis 14 Jahre, beim Wartburg gar auf 14 bis 15 Jahre an und Gebrauchtwagen bekamen einen unnatürlichen Wert. Gegen den schwunghaften Schwarzhandel mit gebrauchten Autos waren die Behörden hilflos. 

Tropfen auf den heißen Stein

Da war es Anfang 1978 auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, dass die DDR zehntausend VW-Golf aus der Bundesrepublik einführte. Drei Jahre später sollten zehntausend Mazdas aus Japan folgen. Erwerben konnte einen solchen Pkw, wer eine mindestens acht- bis zehnjährige Autoanmeldung vorweisen konnte, in einem volkswirtschaftlich wichtigen Kombinat an verantwortlicher Stelle arbeitete und gleichzeitig etwa zwanzigtausend Mark flüssig hatte. Kein Wunder, dass in der Bevölkerung von einem »Golfstrom« die Rede war. Im Jahr 1986 besaß schon mehr als die Hälfte der Haushalte einen Pkw.

Freilich lebten nicht nur die Spitzenverdiener sehr gut. Auch in anderen Bereichen schien Überfluss zu herrschen. So begünstigten die hochsubventionierten Preise für Waren des Grundbedarfs einen schon gesundheitsschädlich hohen Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch, Fetten und Zucker. Die Bevölkerung war in dieser Hinsicht überernährt: »Im Jahr 1986 aß jeder DDR-Bürger 96 Kilo Fleisch, 43 Kilo Zucker, 15,7 Kilo Butter und 307 Eier, als Verbraucher waren wir Weltspitze. Wir waren Vielfraße. Wir aßen aus Lust und Frust, aus Begeisterung und Verzweiflung, aus Langeweile und der chronischen Angst, nicht genug zu kriegen. Reich sei nicht derjenige, der viel besitzt, reich sei derjenige, der viel begehrt, besagt eine ambivalente Sentenz – wir waren Nimmersatte. Wir wollten alles. Viel essen, viel trinken, niedrige Preise, billige Wohnungen. Immer Arbeit, aber nicht mehr als unbedingt notwendig, viel Freizeit und jederzeit Bananen, Milka-Schokolade und Jacobs Krönung. Dazu Freiheit, Gleichheit, Früchtejoghurt. Wir haben gegessen, weil es billig war und weil man sanft wurde vom vielen Essen. Wir haben mit dem Frust nach der Speckseite geworfen. Betäubung, Rückführung in den Zustand des Nuckelns an der Mutterbrust bis zum Eindösen. Wir gaben unser Geld für Lebensmittel aus, weil wir anderes nur mit viel Warten und Mühe oder gar nicht kriegten“, erinnert Jutta Voigt in ihrem Buch »Der Geschmack des Ostens«. Und weiter: »Zeit zum Essen hatten wir ja, Zeitwohlstand war eine der schönsten Nebenwirkungen des Staates DDR, wir nahmen ihn mit großer Selbstverständlichkeit entgegen.«

Blanke Offenheit gegenüber dem Alkohol

Auch Alkohol war im Überfluss vorhanden. Im Jahr 1987 wurden die Ostdeutschen Weltmeister in Sachen Schnapskonsum. »Die konkurrenzlose Kollektivgesellschaft, das verschüttgegangene Leistungsdenken, das Gefühl existenzieller Sorglosigkeit oder auch das langsame, wenig dynamische Leben waren Faktoren, die dem Umgang mit dem Alkohol ihr ganz spezifisches Gepräge gaben«. 

Das augenscheinlichste Wesensmerkmal der DDR-Trinkkultur war »die blanke Offenheit gegenüber dem Alkohol. Diese Offenheit, das vorurteilsfreie und unverstellte Verhältnis zu den Alkoholika, ist das hervorstechende und erstrangige Charakteristikum der ostdeutschen Einstellung zum Alkohol. Mit Toleranz, Permissivität oder Problemverweigerung hat dies allerdings gar nichts zu tun. Eher erinnert es an eine gehörige Portion kindlicher Naivität«, schlussfolgert Thomas Kochan in seinem Buch »Blauer Würger. So trank die DDR«. 

Konkreter noch wäre wohl: naive Männlichkeit. Die Ostdeutschen tranken, wie gemeinhin gegessen wird: Alkohol als Lebensmittel, das Trinken als Nahrungsaufnahme. »Alkoholkonsum hatte nichts Anrüchiges, nichts Verdorbenes, nichts Verpöntes, nichts Krankhaftes; im Gegenteil: Er war wie die tagtägliche Energiezufuhr ›ganz normal‹ (…) Sich ›keine Gedanken‹ machen über das Trinken – das trifft’s«, so Kochan. Über Jahrzehnte hinweg sahen die Ostdeutschen nichts Negatives im Alkohol. 

Knappheit und Überfluss nebeneinander

In der Lebensmittelversorgung wie auch im Handel mit Textilien und technischen Konsumgütern existierten zumeist Knappheit und Überfluss nebeneinander. Von einer heimlichen Herrschaft der Verwalter des Mangels zu reden, von einer unsichtbaren Gesellschaftspyramide, in der Oberkellner in Nobelrestaurants oder Inhaber von Fliesenlegerfirmen bereits über den mittleren Repräsentanten des SED-Apparats rangieren konnten, ist reichlich überzogen. Das war wohl eher dem Frust der Spitzenverdiener geschuldet, die sich öffentlich nicht, wie gewollt, distinguieren konnten. Denn die »einfachen« Leute besuchten weder Nobelrestaurants, da sie ihnen zu teuer waren, noch suchten sie Fliesen für Bad oder Küche ihres Eigenheims, weil sie keins besaßen. Dass eine Schattenwirtschaft entstand, die sich mancher Angebotslücken annahm, war für Zentralplanwirtschaften gewissermaßen Normalität. Die wurde zwar öffentlich kritisiert und gelegentlich mit administrativen Mittel bekämpft, setzte sich aber zwangsläufig und mikroökonomisch immer wieder durch, ob es sich nun um modische Kleidung oder »Schwarztaxis« handelte.

Das oft gemalte Bild von leeren Regalen und Schlangen vor den Läden hat es zweifellos gegeben, doch es bestimmte schon lange nicht mehr den täglichen Einkauf. Und Ladenhüter hingen in den Geschäften, nicht weil es nichts anderes gab, sondern weil modische Kleidung ganz schnell wieder ausverkauft war. Die Schaufenster, die Kaufhäuser und Lebensmittelgeschäfte waren mit Waren gefüllt. 

Die Frage war nicht, ob die Bevölkerung überhaupt ihre Bedürfnisse befriedigen konnte, sondern vielmehr, wie. Die Mängel äußerten sich nicht nur in Sortimentslücken und Engpässen, sondern auch als ihr Gegenteil, Überangebot und Ladenhüter. All das waren die Folgen konsumpolitischer Entscheidungen, die oftmals jenseits ökonomischer Rationalität getroffen wurden. Den produzierenden Betrieben wie auch dem Handel fehlte es an Spielräumen, kompetente Fachleute konnten keine selbstständigen Entscheidungen treffen. Und schließlich drückte sich in dieser Versorgungslage auch die Durchsetzungskraft der Konsumenten aus, die man zwar agitieren, aber nicht zu einem bestimmten Konsumverhalten zwingen konnte.

Dominanz des westdeutschen Blicks

Dass es in der DDR einen Mangel an Überfluss gab, lässt sich nicht bestreiten. Daraus aber eine »Mangelgesellschaft« zu konstruieren ist eine einseitige, unhistorische und simplifizierende Interpretation. Dieses Klischee zeugt von der Dominanz des westdeutschen Blicks und wird nicht richtiger, wenn es immer wieder kolportiert wird. 

Die »Erklärungen DDR-spezifischer Besonderheiten des Verbrauchs, die im Unterschied zur westlichen Überflussgesellschaft nicht zu einem derart ausgeprägten schnellen modischen Wechsel und zur Wegwerfmentalität geführt haben, greifen zu kurz, wenn sie nur auf den Mangel als solchen rekurrieren. Einmal, weil es sich beim Empfinden von Mangel um eine relationale Größe handelt: Mangel definiert sich immer in Bezug auf herrschende Norm- und Verbrauchsvorstellungen und diese sind sowohl historisch als auch schichtspezifisch höchst verschieden«, unterstreicht Ina Merkel. »Und zum Zweiten, weil die Formen der Aneignung, des Gebrauchs, des Genusses und des Verbrauchs von Gegenständen nicht allein durch ein vorhandenes oder nicht vorhandenes Angebot bestimmt werden. Biografische Erfahrungen und individuelle Vorlieben sind hier als Brechungen kultureller Wertvorstellungen mindestes ebenso stark einzubeziehen wie Schicht- und Generationszugehörigkeit. Und drittens schließlich, weil Mangel ganz entgegengesetzte Verhaltensweisen hervorbringen kann, als vermutet: Improvisationslust, Schwelgen in kurzfristigen Genüssen, Hedonismus anstelle von Frustration oder Pragmatismus«, heißt es in Merkels »Geschichte der Konsumkultur in der DDR« weiter.

Als Beispiel sei auf Sero, Kürzel für Sekundär-Rohstofferfassung, hingewiesen, »das perfekteste Recycling-System, das es je gab«. Für die rohstoffarme DDR war SEeronicht nur eine wirtschaftliche Ressource und praktizierter Umweltschutz, sondern es besserte den Altstoffe sammelnden Jungen Pionieren und Schülern das Taschengeld auf und war eine Gewinnquelle für Einzelpersonen und Hausgemeinschaften. Bis in die siebziger Jahre gab es private, zum Teil genossenschaftliche und staatliche Aufkaufstellen. 

1981 wurde der Altstoffhandel durch das VEB Kombinat Sekundärrohstoff-Erfassung übernommen und man ging von der regionalen Erfassung zur zentralen Steuerung über. Erfasst wurden zu jener Zeit zum einen Altpapier, Flaschen, Alttextilien, Gläser, Glasbruch und zum anderen Knochen, Gummiabfälle, Friseurhaare und Lederabfälle sowie Sammelschrott. In den Folgejahren wurde das Netz der Sero-Annahmestellen flächendeckend ausgebaut, wobei eine große Zahl privater Aufkaufstellen einbezogen wurde. Aus der Bewältigung von Knappheit entstand so das unbestritten »beste Wertstoff-Erfassungssystem der Welt«, so Sandra Hollerbuhl.

Ausdifferenzierung der Lebensstile

Insgesamt entwickelte sich die Ausdifferenzierung der Lebensstile im Laufe der achtziger Jahre aus einer latenten Gegenidentität in ein manifestes Protestpotenzial. Der soziokulturelle Wandel in der DDR-Gesellschaft offenbarte, wie anachronistisch die offizielle Vorstellung von der homogenen sozialistischen Lebensweise war. Insbesondere die junge Generation, die Intellektuellen und die politisch-alternativen Gruppen entwickelten zunehmend ein Gespür für die Heterogenität der Gesellschaft. Und sie suchten nach Formen und Räumen, um die unterschiedlichen Interessen zum Ausdruck bringen zu können. 

Deutlich wurde dabei das systemsprengende Potenzial des Wertewandels und der damit zusammenhängenden soziokulturellen Veränderungen. Die Pluralisierung von Lebensstilen machte diesen Strukturwandel auf der Bedürfnis- und Werteebene sichtbar. Die Bestrebungen, diesen Pluralisierungsprozessen auch öffentliche, gesellschaftliche Formen zu geben, waren unvereinbar mit der Gesellschaftskonzeption der greisen SED-Führung. 

Gerd Dietrich, Jahrgang 1945, ist Historiker und Hochschullehrer. Zuletzt erschien von ihm eine dreibändige Kulturgeschichte der DDR. Band I »Übergangsgesellschaft« von 1945 bis 1957, Band II »Bildungsgesellschaft« von 1958 bis 1976, Band III »Konsumgesellschaft« von 1977 bis 1990. Erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, 2.494 Seiten.

Foto: Neptunfest in einem DDR-Kinderferienlager, 1969. Jörg Blobelt / CC BY-SA 4.0

»Der Dietrich«

Dies ist »ein großes Buch, ein bleibendes Buch, ein wichtiges Buch, ein Standardwerk«, so hat es der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk formuliert und für die Zukunft festgehalten: »Keine DDR-Forscherin oder kein DDR-Forscher wird ›den Dietrich‹ künftig übersehen können.« 

Fast 2.500 Seiten, eine DDR-Geschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Er habe »eine innere Verpflichtung« verspürt, das Buch zu schreiben, so hat es Dietrich im Gespräch mit der Autorin Jana Hensel in der »Zeit« erzählt – und er konnte es erst, »nachdem ich in Rente gegangen war. Finanziert hat mir diese Arbeit niemand«. Das sagt einiges über den Zustand der Historiografie und Erinnerungskultur die DDR betreffend aus, hinzu kommt, wie Dietrich sagt: »Die westdeutsche Dominanz ist ja eindeutig. Alle griffigen DDR-Geschichten stammen von westdeutschen Historikern. Und die bisher existierenden drei deutschen Kulturgeschichten behandeln die DDR jeweils nur am Rande.« 

Diese Lücke ist nun nicht einfach bloß geschlossen, sie ist es auf eine besondere und lesenswerte Weise. Dietrich hat in einem Blogbeitrag für den Vandenhoeck & Ruprecht über die drei Bände geschrieben: »Während bisherige Darstellungen in der Regel davon ausgingen, dass die SED-Politik die kulturellen Entwicklungen dominierte und ihre Richtung bestimmte, was zu einem relativ einspurigen und simplen Schema führte, soll hier eine Veränderung der Perspektive vorgenommen werden.« 

Was Dietrich aufspannt ist stattdessen eine ganz große Leinwand, auf der es traditionelle Konzepte und revolutionäre Aktivismen, Konfrontation und Kooperation, »Kultur als Religions- und Politikersatz wie als Kompensation für politische Freiheiten« gab. Die SED-Herrschaft beschreibt der Historiker dabei als »moderne Diktatur«, als »eine Herrschaft des 20. Jahrhunderts auf der Basis der Industriegesellschaft«, die auf »grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft und die Schaffung eines neuen Menschentyps« abzielte – dabei »neben ihren repressiven Funktionen zugleich wesentliche Transformations-, Bildungs- und Wohlstandseffekte entwickelte«.

»Der Dietrich« ist in drei historische Perioden unterteilt – die »Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945 – 1957 und Mobilisierungsdiktatur«, die »Kultur in der Bildungsgesellschaft 1958 – 1976 und Erziehungsdiktatur« und die »Kultur in der Konsumgesellschaft 1977 – 1990 und Fürsorgediktatur«. Der Historiker betont, dass damit das »Besondere und Dominante des jeweiligen historischen Zeitraums« hervorgehoben werden kann. »Ob die Gesellschaft der DDR eine sozialistische war, sei dabei stets in Frage gestellt. Zutreffender ist wohl die Bezeichnung ›arbeiterliche Gesellschaft‹. Eine arbeiterliche Gesellschaft im Unterschied zur höfischen und zur bürgerlichen Gesellschaft.« tos

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