Wirtschaft
anders denken.

Die deutsche Liebe für die Schwarze Null

Stabile Finanzen und Währungen gehören zum Fundament des deutschen Wirtschaftsmodells, das im Kern seit Ende des 19. Jahrhunderts besteht. Ein Gespräch mit Werner Abelshauser über die historischen Grundlagen der deutschen Liebe für die Schwarze Null.

03.09.2017
Foto: Petra-Monika Jander
Werner Abelshauser ist Diplom-Volkswirt und hat sich in Wirtschafts- und Sozialgeschichte habilitiert. Gastprofessuren hatte er u.a. in Oxford, Florenz, Sydney und Peking; an derUniversität Bielefeld lehrte er Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Seit 2010 ist er Forschungsprofessor für Historische Sozialwissenschaft. Er war Mitglied in der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Wirtschaftsministeriums.

Über Geld wird gemeinhin kühl und rational geredet. Ob Finanzminister Wolfgang Schäuble eine Schwarze Null hinkriegt, das wird von vielen in Politik und Medien wie Sieg oder Niederlage auf dem Fußballplatz gefeiert oder betrauert. Woher kommen diese Gefühle?

Werner Abelshauser: Im Privatleben der Bürger, also außerhalb der Wirtschaft, ist es fast eine Binsenwahrheit, dass Schulden eine Last sind und deshalb möglichst niedrig gehalten werden sollten. Und in den Finanzmarktkrisen im Jahr 2002, zuletzt 2008 und 2009 haben die Leute erlebt, wie belastet und fragil dieses Finanzsystem ist. Und der dritte Punkt: In den Genen, in der DNA der deutschen Wirtschaftskultur steckt die Überzeugung, dieses Modell funktioniert nur mit tragfähigen Finanzen und stabiler Währung. Viele Menschen ahnen das, auch diejenigen, die sich wenig mit Wirtschaft beschäftigen. Und diese Einschätzungen und Anforderungen bündeln sich meines Erachtens in der Schwarzen Null. Deshalb hat eine große Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl, wenn wir diese Schwarze Null erreichen, dann ist das gut für den Staatshaushalt und damit für uns alle.

Was verstehen Sie unter Wirtschaftskultur?

Darunter fasse ich die Denk- und Handlungsweisen der Marktteilnehmer, vom Unternehmer bis zum Arbeiter. Auch die Organisationsweise der Wirtschaft, das Verhältnis zwischen den Tarifparteien, der besondere Status der Facharbeiterschaft, das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft, das Bankensystem, die Interessenpolitik — also das soziale System der Produktion, wie es sich vor 150 Jahren in Deutschland herausgebildet hat. Und diese Wirtschaftskultur beruht auf finanzieller Stabilität.

Seit mehr als 100 Jahren lebt die deutsche Wirtschaft von Exporten für den Weltmarkt.

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Tut das nicht jede Volkswirtschaft?

Die deutsche ganz besonders. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lebte Deutschland, wie heute wieder, von Exporten in den Weltmarkt. Das ist bei uns übrigens weithin vergessen. Für die deutschen Unternehmen war bereits damals Europa nur der Reservemarkt, der Weltmarkt war entscheidend. Zudem verkauften sie kaum Gebrauchs- oder Konsumgüter oder einfache Dienstleistungen, sondern — wie heute — technisch hochwertige Maschinen, Chemieprodukte, auch komplette technische Anlagen. Vom Verkauf bis zur Lieferung, dann der Inbetriebnahme der Maschine oder Anlage beispielsweise in Russland oder China dauerte es Monate, nicht selten Jahre. Deshalb hatten und haben die Unternehmen ein hohes Interesse an kalkulierbaren Handelsbeziehungen, Währungen und Finanzen. So gibt es in der deutschen Wirtschaft und von ihr übertragen auf die Beschäftigten und die gesamte Bevölkerung eine besondere Einstellung zu Geldwertstabilität und stabilen staatlichen Finanzen. Die Politik nahm diese Denkweise auf, verinnerlichte sie sozusagen und deshalb ist auch die deutsche Politik davon geprägt, oft parteiübergreifend.

Dann ist die Schwarze Null weniger eine sinnvolle volkswirtschaftliche Rechengröße, denn ein politisches Symbol.

Sie dient der deutschen Politik als flexible Orientierung. Nehmen wir an, es gebe seit einigen Jahren keine Hochkonjunktur, sondern wirtschaftlichen Niedergang. Dann würde auch eine konservative Regierung in einem gewissen Umfang nach dem keynesianischen Modell gegensteuern, also Geld in die Hand nehmen, sich verschulden, um mit öffentlichen Investitionen diesem Niedergang gegenzusteuern. Dann wäre die Schwarze Null kein Thema. Sie ist jetzt ein Thema, weil die Wirtschaft seit Jahren floriert. Und viele Menschen sagen, wenn wir die Schuldenlast senken wollen, dann jetzt, wenn die Wirtschaft läuft. Zumal wir bereits eine hohe Verschuldung haben.

Verkörpert Wolfgang Schäuble diese Politik?

Er muss sich zumindest nicht verbiegen, diese Politik des konsequenten Sparens zu vertreten. Davon ist er überzeugt, das ist zu spüren. Wichtiger scheint mir jedoch zu sein, dass diese Politik bereits seit vielen Jahren von den wesentlichen Wirtschafts- und Finanzpolitikern getragen wird. Sie steht also auf einem breiten politischen Fundament. Diese einflussreichen Verantwortlichen gehen von der Analyse aus, dass seit den 1970er Jahren die Verschuldung von Unternehmen, Privathaushalten und den öffentlichen Händen ständig gestiegen ist und auf einem zu hohen Niveau liegt. Die Tragfähigkeit der deutschen Finanzwirtschaft sei gefährdet, so der wissenschaftliche Befund, der weithin geteilt wird. Deshalb gehe es darum, Finanzpolitik systematisch als Ordnungspolitik der sichtbaren Hand zu betreiben, um die Schuldenlast zu senken. Diese Entwicklung zur Finanzialisierung ist zwar international festzustellen. Aber die deutsche Politik will wegen des deutschen Wirtschaftsmodells handfeste Konsequenzen ziehen.

Abgesehen von dem Export-Argument — erläutern Sie, woher rühren diese ausgeprägten Anforderungen der deutschen Wirtschaft an stabile Verhältnisse, stabile Finanzen.

Das Besondere des deutschen Modells ist die Symbiose aus Technik, Wissenschaft und wirtschaftlicher Produktion. Das begann um 1860. Um diese komplizierte und herausfordernde Symbiose operativ in eine erfolgreiche Produktionsweise umsetzen zu können, bedarf es sehr stabiler Rahmenbedingungen. Verlässlichkeit, Vertrauen, Kooperationsbereitschaft, Kreativität und ein hohes Qualifikationsniveau spielen eine ganz große Rolle. Es bedarf stabiler Institutionen und Regeln, auf die sich alle Akteure verlassen können. Das hat beispielsweise unter Reichskanzler Bismarck zum Einstieg in den Sozialstaat geführt. Seine Versicherungen haben ja nicht den wirklich Armen geholfen. Noch nicht einmal den Landarbeitern. Diese Versicherungen stützten vor allem die Arbeiterschaft, verbunden mit zwei Zielen: Es sollten soziale Unruhen verhindert werden. Da ging es um politische Stabilität. Und es sollte vor allem das menschliche Vermögen geschützt werden, also die wachsende Schicht der Facharbeiter, die für die neue Produktionsweise unverzichtbar war. Denn dieses Produktionsmodell lebt von der hohen Qualität seiner Produkte. Und die können nur mit gut ausgebildeten und hochmotivierten Arbeitern hergestellt werden. Mit Massenproduktion und herkömmlicher Industriearbeit hatte das bereits damals nichts mehr zu tun. Die Wertschöpfung nahm immer stärker immateriellen Charakter an – bis heute.

Wo wurden die Arbeiter ausgebildet?

Entscheidend war der Einstieg in die duale Berufsausbildung. Wir halten sie für selbstverständlich, aber das ist sie nicht. Es dauerte von 1887 bis 1938 bis dieser Prozess des beruflichen Lernens in Schulen und in Betrieben von allen Akteuren verinnerlicht und eben auch institutionalisiert war. 1938 wurde dann vom NS-Regime abschließend das Reichsschulgesetz erlassen. Auch die Berufsausbildung ist eine dieser unverzichtbaren starken Institutionen, ohne die dieses Wirtschafts- und Produktionsmodell nie funktionieren würde. Und wie bereits gesagt: stabile Finanzen, als Grundlage für Geldwertstabilität, gehören eben auch dazu. Planbarkeit, Verlässlichkeit ist in diesem Modell die halbe Miete.

Die meisten Bürger gehen davon aus, nach dem Zweiten Weltkrieg habe mit der sogenannten Stunde Null alles neu begonnen. Das stimmt nicht.

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Wie kommt es, dass sich dieses Produktionsmodell bis heute hält?

Das irritiert tatsächlich. Denn es gab ja den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg. Trotz dieser dramatischen Brüche prägt dieses Modell bis heute Leben, Arbeit und Wirtschaft in Deutschland. Alle wichtigen Institutionen, die wir heute haben, wurden Mitte bis Ende des 19. Jahrhundert geschaffen. Vom Sozialstaat und den Gewerkschaften, über die Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen, dem Verbandswesen, dem Bankensystem, der Berufsausbildung, bis hin zu der zentralen Rolle von Technik und Wissenschaft in der Wirtschaft.

Warum irritiert das?

Mich irritiert, dass die Menschen heute vergessen haben, wo und wann die Grundlagen für ihren heutigen Wohlstand gelegt wurden. Die meisten Bürger gehen davon aus, nach dem Zweiten Weltkrieg habe mit der sogenannten Stunde Null alles neu begonnen. Aber das stimmt nicht. Es wurde vielmehr fast alles fortgesetzt, was im Kaiserreich geschaffen worden war.

Was oder wer war damals der Treiber, so dass diese neue Produktionsweise entstand?

England war zunächst wirtschaftlich führend. Deutschland eiferte ihm nach mit dem Ziel, es einzuholen. Dann kam 1873 jedoch die Große Depression, die bis 1896 anhielt. Eine der Folgen: Die großen Kapitalgeber aus Belgien, Holland, Frankreich und England zogen sich aus Deutschland zurück, weil sich die industriellen Anlagen nicht mehr rentierten. Es entstand ein großes Vakuum: was tun? Daraus folgte, wir würden heute sagen: eine lebendige Debatte in der Zivilgesellschaft. Das Kaiserreich entwickelte sich zum Treibhaus neuer Institutionen. Beispiele habe ich bereits genannt. Es gab Neue Industrien mit immaterieller Wertschöpfung, deren Produkte auf der Basis wissenschaftlicher Innovationen standen. Es gab die weltwirtschaftliche Dynamik. Hinzu kam die Soziale Frage, dann 1873 die Gründerkrise, schließlich die Große Depression. Die Herausforderung dieser Krisen, Erfindungen und Konflikte führte zu öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Politikern, Bürokraten, Publizisten, Verbandsrepräsentanten, Wissenschaftlern und Unternehmern. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Kathedersozialisten: In ihrem Verein waren großartige Wirtschaftsforscher vertreten, aber zugleich auch Unternehmer. In zahllosen Denkschriften und langem öffentlichem Streit wurde die nachindustrielle Produktion geistig vorbereitet und in die Wege geleitet. Es entbrannten Debatten über die Rolle des Industriestaats, der Kartelle, der Zölle, der Sozialversicherung und es entstand ein Aktienrecht. So entwickelte sich in relativ schneller Abfolge in Deutschland ein neues und nachhaltiges soziales System der Produktion. Ohne den industriellen Vorsprung aufzuholen, nahm Deutschland einfach einen ganz anderen Wirtschaftspfad als der Rivale England.

Können Sie das anhand eines Unternehmens einmal erläutern.

Nehmen wir die Großchemie und dort die BASF. Die machte bereits kurz nach ihrer Gründung 1865 einen großen Teil ihres Umsatzes auf dem Weltmarkt, in China beispielsweise. Die Globalisierung war vor dem Ersten Weltkrieg weit fortgeschritten, man nannte es nur anders: weltwirtschaftliche Dynamik. Die BASF hatte sehr leistungsfähige Forschungsuniversitäten im Rücken. Im Bereich der Elektrotechnik und des Maschinenbaus war dies genauso: hinter jedem großen Unternehmen steckten enorme Forschungskapazitäten. Und was an den Forschungsuniversitäten im Reagenzglas entwickelt wurde, das übersetzten in der BASF Techniker, Ingenieure und Facharbeiter in produktionstechnische Anlagen, die es erlaubten, chemische Produkte weltweit zu verkaufen. Das macht die Symbiose und den Kern des rheinischen Produktionsmodells aus, das bis heute funktioniert und erfolgreich ist. Ähnliches gilt für Siemens. Gleichzeitig wurden die Universalbanken gegründet, die diese Exportstrategie mit ihren Krediten und Finanzierungen geduldig begleiteten und absicherten. Übrigens: Es gab bereits im Jahrzehnt vor 1900 lebhafte Debatten über die »chinesische Gefahr«: Der Export von Maschinen durch »vaterlandsloses Kapital« wurde als »Totengräberarbeit« kritisiert. So könnten die Chinesen ja alles kopieren und damit den deutschen Unternehmen die Märkte kaputt machen. Kommt einem doch irgendwie bekannt vor.

Die deutsche Krisenlösung passt nicht zu Griechenland. Sie schadet beiden Seiten.

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Stabile Finanzen, ausgeglichene Haushalte, Geldwertstabilität – das sind also nach Ihren Forschungen tragende Pfeiler des deutschen Produktionsmodells. Die deutsche Politik – zumindest repräsentiert von Union, FDP und Teilen der SPD – versucht nun, unterstützt von einer großen Mehrheit in der Bevölkerung, diese strenge Art von Finanzpolitik auf die gesamte EU zu übertragen. Vor allem die Krisenländer Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sollen sehr hart sparen. Wie beurteilen Sie das?

Das ist ein großer Fehler, denn diese Länder haben eine völlig andere Wirtschaftskultur. Es wird vor allem von den deutschen Regierungen seit vielen Jahren versucht, alle Volkswirtschaften in der EU oder wenigstens die der Eurozone um fast jeden Preis auf ein ähnliches Entwicklungsmodell zu trimmen, ähnlich dem deutschen. Das wird nicht funktionieren. Karl Marx hat es einmal so formuliert: Das weniger entwickelte sieht im hochentwickelten Land seine eigene Zukunft wie in einem Spiegel. In diesem Sinne folgt Wolfgang Schäuble beispielsweise gegenüber Griechenland letztlich einem marxistischen Ansatz: Alles soll auf dasselbe Entwicklungsmodell hinauslaufen. Tausend Jahre europäischer Wirtschaftsgeschichte zeigen aber, dass es immer sehr unterschiedliche, sogar sich grundsätzlich unterscheidende Wirtschaftskulturen gegeben hat. Was hat die deutsche und die griechische Wirtschaftskultur gemein? Nichts. Deshalb passt auch die deutsche Krisenlösung nicht zu Griechenland. Sie schadet beiden Seiten.

Vielfalt an Volkswirtschaften — ein Vorteil oder ein Nachteil?

Ein großer Vorteil. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Wirtschaftskulturen, ist er halbwegs angemessen und nicht ruinös angelegt, führt dazu, dass die gesamte Region im Wohlstand leben kann. Zu diesem Wohlstand trägt jede Wirtschaft etwas Eigenes bei. Die Verschiedenheit macht den Erfolg Europas aus. In der Uniformität läge der Niedergang.

Nehmen wir Griechenland: Wie müsste die EU vorgehen, wollte sie Griechenland helfen?

Ich sage vorweg: Ich bin kein Griechenlandexperte. Aber klar ist: Man müsste erst einmal bereit sein, offen Bilanz zu ziehen. Also nicht von vornherein irgendwelche Normen und Vorgaben überstülpen, also, Ihr müsst jetzt hier sparen und dort privatisieren und so weiter. Man müsste offen fragen: Welche Wirtschaftskultur finden wir vor, was ist, was funktioniert, was kann diese Wirtschaft besonders gut? Das ist elementar. Und erst aus diesem Verstehen und dieser Bilanz kann ein maßgeschneiderter Weg aus der Krise gefunden werden.

Was könnte diese Bilanz im Fall von Griechenland sein?

Man käme vermutlich zu dem Ergebnis, dieses Land hat Kenntnisse und Wettbewerbsvorteile in der Agrarwirtschaft, im Tourismus und in der Logistik, vor allem in der Schifffahrt. Möglicherweise auch in der Energiepolitik, wenn wir an Wind- oder Solarenergie denken. Ein Vorteil liegt sicher auch im griechischen Familismus, also in starken Familienverbänden als Träger kleiner und mittlerer Betriebe. Und dann müsste man diese Stärken unterstützen und fördern. Das hieße, beispielsweise diese Familienwirtschaft zu mobilisieren. Ein nicht zu verachtender Wirtschaftsfaktor, denn diese Familienbetriebe sind meist sehr stark, weil sich alle mit Ziel und Erfolg identifizieren. Das hieße in der Landwirtschaft: auf keinen Fall auf eine industrialisierte Agrarwirtschaft setzen, sondern eine kleinteilige Landwirtschaft energisch stützen. Das hieße, keinen Massentourismus, sondern einen Qualitätstourismus wie in der Schweiz. Und so weiter. Verstehen Sie? Entscheidend ist immer: Zuerst muss man die herrschende Wirtschaftskultur verstehen. Denn alles was gegen sie gemacht wird, ist zum Scheitern verurteilt. Da können Sie die Uhr danach stellen. Denn das erleben die Inspektoren der Troika seit Jahren.

Ihr Befund ist: Sparen und stabile Finanzen gehören zum deutschen Produktionsmodell. Nun gibt es in Deutschland den starken Vorhalt der politischen Opposition gegen die Regierung Merkel, sie betreibe eine Austeritätspolitik. Das heißt, sie spare zu rigide, zu streng. Teilen Sie diesen Vorhalt?

Das sehe ich nicht. Für diese Annahme gibt es meines Erachtens keinen Grund. Die Schulden werden ja nicht forciert zurückgezahlt, sondern vor dem Hintergrund von Wachstum und Inflation lediglich die Schuldenlast verringert. Der Sozialstaat expandiert. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand, auch wenn die faktische Arbeitslosigkeit vermutlich höher ist als die offiziell gemessene. Wo also soll diese Austeritätspolitik sein?

Für die Bevölkerungsgruppen, die für das deutsche Produktionsmodell wichtig sind, also qualifizierte Arbeitnehmer aufwärts, gibt es keine Austeritätspolitik.

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Wenn es dafür keinen Grund gibt, wie erklären Sie sich dann diesen langanhaltenden Vorwurf, der ja auch auf hohe Resonanz und Zustimmung stößt?

Ich erkläre es mir so: Es gibt meines Erachtens keine besonders rigide Sparpolitik, welche die breiten Schichten der deutschen Bevölkerung trifft. Es gibt jedoch, so kann man es sehr wohl sehen, ein vergleichsweise strenges Vorgehen gegen besonders schwache Minderheiten. Also wenig Geld und harte Regeln beispielsweise für Hartz IV-Empfänger, für Langzeitarbeitslose, zudem eine strenge Überwachung und harte Sanktionierung von auch kleinen Verstößen. Und es gibt natürlich auch das Beispiel Griechenland, das für diesen Vorhalt spricht: Die deutsche Regierung trägt dazu bei, dass ein bereits armes Land noch mehr sparen muss. Aber für Deutschland gilt: Die Bevölkerungsgruppen, die für das deutsche Produktionsmodell wichtig sind, also qualifizierte Arbeitnehmer aufwärts, sind meines Erachtens in keiner Weise Opfer einer übertriebenen Sparpolitik.

Eine Folge Ihrer Befunde ist auch: Die deutsche Wirtschaft braucht keine geringqualifizierten Arbeitnehmer. Richtig?

Der deutsche Arbeitsmarkt war meistens dreigeteilt. Die Mitte macht etwa 60 Prozent aus: Das sind die qualifizierten Facharbeiter, Meister, Ingenieure. Dann gab es 20 Prozent an der Spitze, das ist die Elite, also Entwickler, Forscher, Manager. Und dann gab es noch 20 Prozent der Weniger- und Geringqualifizierten. Letzteres ist im internationalen Vergleich extrem wenig. Dieser Anteil erhöhte sich nur, weil die deutsche Wirtschaft gezielt in den 1950- und 60er-Jahren geringqualifizierte Arbeiter aus Ländern wie Portugal, Italien und auf dem Balkan angeworben hat. Sie warb sie gezielt an, weil sie dem Irrtum verfiel, im Boom der Massenproduktion von vergleichsweise einfachen Gütern und Produkten der Nachkriegszeit die Zukunft zu sehen. Es war jedoch bald allen Verantwortlichen klar, dass die deutsche Wirtschaft damit ihr Geld nicht wird verdienen können. Die Spezialität der deutschen Produktionsweise ist und bleibt die diversifizierte Qualitätsproduktion, also die nachindustrielle Maßschneiderei. Deutschlands Wirtschaft hat die Rolle des Technik- und Maschinenausstatter der Weltwirtschaft. Deshalb wurden die Millionen angeworbenen Geringqualifizierten bald zur Last. Daraus entwickelte sich meines Erachtens auch die lange Abwehr eines Teils der Deutschen, sich als Einwanderungsgesellschaft zu begreifen. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum die Bundesregierung unter Gerhard Schröder so stolz darauf war, einen riesigen Niedriglohnsektor aufgebaut zu haben. Der passt nicht zu dieser Wirtschaftskultur.

Aber es heißt, wir lebten heute in einer Dienstleistungswirtschaft. Und in der gibt es doch einen hohen Bedarf an Geringqualifizierten, beispielsweise in der Gastronomie, dem Handel, der Logistik, für einfache Dienstleistungen.

Sie geben richtig das Bild wieder, das in der Öffentlichkeit herrscht: Agrarische und gewerbliche Produktion gehen zurück, die Dienstleistungen nehmen immer mehr zu. Aber: Das ist in Deutschland nicht der Fall. Das ist mit Zahlen zu belegen. Zum einen ist der Anteil der produzierenden Wirtschaft noch sehr hoch, vor allem verglichen mit anderen entwickelten Volkswirtschaften, wie der britischen und französischen. Und zum anderen besteht der Dienstleistungssektor in Deutschland in hohem Maße aus sogenannten produktionsnahen Dienstleistungen. Dazu zählen Design, Wartung und Service bis hin zu Finanzdienstleistungen. Diese Dienstleistungen werden zwar rein statistisch zu dem Dienstleistungssektor gezählt. Sie gruppieren sich jedoch alle um Produktion und Verkauf von Maschinen, Autos, Chemieprodukten, Industrieanlagen. Darin besteht übrigens auch einer der großen Wettbewerbsvorteile der deutschen Wirtschaft: Die bauen die komplette Industrieanlage, transportieren sie beispielsweise nach Indien, stellen sie dort auf, warten und modernisieren sie ständig, und im Zweifel stellen sie über ihre Hausbank dem indischen Kunden auch noch eine Finanzierung.

Es wäre ein Fehler der deutschen Autoindustrie, auf die Produktion des technisch vergleichsweise einfachen Elektroautos umzuschwenken.

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Nehmen wir die emotionale Hingebung an die Schwarze Null. Nehmen wir den alltäglichen Begriff der Exportnation anstelle von Exportwirtschaft. Daraus die Frage: Ersetzen heute der Stolz auf Exporte, Wirtschaftserfolge, Wohlstand und stabile Finanzen den Stolz auf die deutsche Nation? Ist also der Wirtschaftswohlstand für die Deutschen die Autorität, die alles fordern kann?

Das kann man so sehen. Aber das war von Anfang an so gewesen, also seit dem 19. Jahrhundert. Damit ließ sich kompensieren, dass Deutschland nie eine richtige Kolonialmacht war. Hieß es in England »Trade follows the flag«, folgte seit dem Kaiserreich der Handel dem Ingenieur. Das war die deutsche Variante der Weltmarktorientierung. Damit war auch von Anfang an klar: Mit Warenverkehr haben wir nichts zu tun. Wir produzieren und verkaufen nachindustrielle Maßschneiderei. Keine Rohstoffe, keine Lebensmittel, keine Gebrauchsgüter. Es geht um Ingenieurleistungen, es geht darum, Ausstatter für die Schwellenländer zu sein. Das funktioniert aber nur, wenn es gelingt, diese Symbiose von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft lebendig zu halten und aus ihr heraus immer wieder neue Produkte und neue Produktionsprozesse zu entwickeln und im Alltag der Unternehmen umzusetzen.

Können Sie anhand eines Beispiels erläutern, was das praktisch heißt.

Ein aktuelles Beispiel: Es wäre ein Riesenfehler der deutschen Automobilindustrie zu glauben, sie könne mit dem technisch vergleichsweise einfachen Elektroauto auch nur einen Blumentopf gewinnen. Das wird vielleicht ein Geschäft für die Chemieindustrie, wenn es der gelingt, den Akku zu revolutionieren. Aber E-Autos zu produzieren, das ist einfach, weshalb es alle können. Will die Autoindustrie den Ansprüchen des deutschen Produktionsmodells gerecht werden, dann sollte sie ein komplett emissionsfreies Auto mit dem technisch anspruchsvollen Verbrennungsmotor entwickeln. Das wäre ein Wettbewerbsvorteil, hohe Ingenieurskunst und sehr attraktiv für den Weltmarkt.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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