Die Eurozone braucht einen gemeinsamen Lohnraum
Wer ist verantwortlich für die Misere der Eurozone? Sind die Löhne zu unterschiedlich? Oder fließt das Kapital in die falschen Länder? Teil 2 der Serie zur Eurozone.
Warum ist die Eurozone in der Krise? Liegt es an den Kapitalbewegungen oder an der sehr ungleichen Entwicklung der nationalen Löhne? Eine These lautet: Kapital aus Deutschland fließt in die südeuropäischen Gesellschaften, insbesondere nach Spanien, erzeugt dort Immobilienblasen und heizt Löhne und Konsum an. Das habe die Krise ausgelöst: diese Fehlverwendung von Kapital und den zu hohen Investitionen vor allem im Immobilien-Sektor. Der prominenteste Vertreter dieser Sicht ist Hans-Werner Sinn, Ex-Präsident des Ifo-Instituts. Aber auch aus Sicht von Marxisten sind unkontrollierte Kapitalströme aus Deutschland in die Südländer der Europäischen Währungsunion (EWU) für die ungleiche Entwicklung verantwortlich. Sie sehen jedoch andere Folgen des Kapitalexports als Sinn. Diese Länder werden als Opfer und nicht als die Nutznießer des deutschen Kapitalexports verstanden.
Was ist die Ursache der Eurokrise?
Gegen diese Erzählungen von Sinn und manchen Marxisten – wissenschaftlich sind sie nicht belegt – ist wiederum eine andere Argumentation gerichtet. Sie sagt, vor allem die Unterschiede in der Entwicklung der nationalen Löhne sind verantwortlich für die ungleiche ökonomische Entwicklung. Der Ausgangspunkt dieser Analyse: In Deutschland gab es viele Jahre nur geringe Lohnsteigerungen und es wurde ein großer Niedriglohnsektor aufgebaut, der zudem die Löhne drückte. Beides habe dazu geführt, dass die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten in Deutschland viel langsamer stiegen als in den meisten anderen Euroländern und damit deutlich niedriger als anderswo blieben. Zur Erklärung: Lohnstückkosten bezeichnen den Anteil der Arbeitskosten, die bei der Herstellung beispielsweise eines Autos anfallen. Um die durchschnittlichen Lohnstückkosten in einer Volkswirtschaft zu errechnen, werden die Arbeitskosten je Arbeitnehmer ins Verhältnis zu der Wirtschaftsleistung gesetzt, die ein Erwerbstätiger erbringt (Produktivität). Was sind die Folgen von niedrigen Lohnstückkosten? Sie führen zu einer niedrigen Konsum-Nachfrage und zu niedrigen Inflationsraten. In den anderen Euroländern führen die entsprechend höheren Lohnstückkosten zu höherem Konsum und höheren Preissteigerungen. Die Folge davon: Die deutschen Exporte – ob Maschinen, Autos oder Dienstleistungen – werden noch billiger, sie werden real abgewertet. Denn niedrige Inflationsraten (in Deutschland) senken die relativen Exportpreise und erzeugen einen für deutsche Exporte günstigen realen Wechselkurs. In einem System fester Wechselkurse, wie es der Euro darstellt, wird dadurch abgewertet; denn die anderen Länder können ja nicht, wie früher mit ihrer eigenen Währung, gegensteuern und ebenfalls abwerten, um so die Importe aus Deutschland teurer zu machen. Also: Diese Abwertung verbessert die deutsche Wettbewerbsposition zu Lasten der Handelspartner. Diese Sicht ist unter dem Begriff des deutschen Lohndumpings in der Eurozone von dem Ökonomen Heiner Flassbeck popularisiert worden. Eine Reihe von keynesianischen Ökonomen, wie beispielsweise Peter Bofinger, einer der fünf Wirtschaftsweisen, aber auch die Ökonomen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) um Gustav Horn folgen im Prinzip dieser Sicht; auch wenn sie dieser These für die Erklärung der Krise eine unterschiedliche Bedeutung zumessen.
Wohin geht Deutschlands überschüssiges Kapital?
Die oben geschilderte Behauptung, der Kapitalexport aus Deutschland in die anderen Euroländer habe – in Verbindung mit der rigiden Sparpolitik des Staates, vor allem in Deutschland — die europäische Krise ausgelöst, überzeugt nicht. Unstrittig ist, dass Länder mit einem Überschuss in der Leistungsbilanz – wie Deutschland – Kapital exportieren müssen, weil sie ihre Profite nicht in Gänze im Inland investieren. Sie müssen Kapital daher im Ausland anlegen. Strittig ist aber, dass der Überschuss an deutschem Kapital in die Südländer der Eurozone transferiert wurde. Das liegt daran, dass beispielsweise die spanischen oder italienischen Geschäftsbanken – wie alle anderen auch – Buchgeld schöpfen und damit Kredite quasi aus dem Nichts schaffen. Sie sind auf einen Kapitalimport aus dem Ausland nicht angewiesen. Beispiel: Wenn Spanier deutsche Maschinen kaufen, dann finanzieren sie das mit dem Kredit einer spanischen Bank. Diese braucht dafür kein deutsches Kapital. Dass in dieser Frage des Kapitalexports Neoliberale und Neomarxisten ähnlich denken, basiert darauf, dass sie diese Geldschöpfung aus dem Nichts nicht kennen oder nicht akzeptieren wollen, weil sie in ihren theoretischen Modellen nicht vorkommt. So spricht viel dafür: Der deutsche Kapitalexport der vergangenen Jahre ging überwiegend in die USA und wurde in dubiosen Wertpapiergeschäften angelegt.
Der Euro braucht nicht nur einen geeigneten Währungsraum, sondern auch einen geeigneten Lohnraum.
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Lohndumping – made in Germany?
Bei der These eines Lohndumpings müssen wir unterscheiden zwischen der Angebotsseite und der Nachfrageseite der Wertschöpfung. Für die Angebotsseite sind nicht die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten entscheidend, sondern die Exportpreise, also der tatsächliche Preis einer Chemieanlage. Unternehmen verkaufen keine Lohnstückkosten. Gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten sind dagegen wichtig für die Fragen: Wie hoch sind die Konsumnachfrage in einer Volkswirtschaft und die Preissteigerungen?
Zurück zu den Exportpreisen: Sie weichen von den Lohnstückkosten zwischen 2000 und 2015 ganz überwiegend nach oben ab. Das heißt, deutsche Unternehmen können es sich leisten, ihre Produkte im Ausland vergleichsweise teuer zu verkaufen; beispielsweise, weil deren Qualität gut ist, weil Service und Wartung stimmen. Es gibt also eine nicht-preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte. Diese Unternehmen sind auf niedrige gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten gar nicht angewiesen. Das heißt wiederum: Die Industrielöhne hätten zwischen 2000 und 2008 erheblich höher sein können, ohne dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gefährdet gewesen wäre. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaften konnten den möglichen Verteilungsspielraum nicht ausschöpfen, weshalb die Export-Unternehmen noch höhere Profite erzielten. Die Industriebranche, also der Sektor der nicht-finanziellen Unternehmen, erzeugte deshalb einen sehr hohen Nettofinanzierungsüberschuss.
Neoliberale Ökonomen hatten Lohnzurückhaltung und Niedriglohnsektor bereits in den 1990er-Jahren gefordert, weil sie darin einen Weg sahen, die internationale Wettbewerbsposition von Deutschland auszubauen und die Arbeitslosigkeit zu verringern. Dieser Weg wurde dann zuerst auch von den beiden rotgrünen Schröder-Regierungen beschritten. Er führte faktisch zu einer Verschärfung der ökonomischen Differenzen in der Eurozone. Die Neoliberalen bestreiten das. Sie behaupten, die tiefer gewordenen wirtschaftlichen Differenzen seien darauf zurückzuführen, dass die meisten Euro-Länder über ihre Verhältnisse gelebt und zu viel konsumiert haben.
Warum Trump TTIP nicht will
Deshalb sagen sie, diese Länder müssten sehr hart sparen – vor allem bei Löhnen und Sozialleistungen. Dass sie damit den Euro an die Wand fahren, sehen sie nicht, weil sie davon ausgehen, dass sich die südeuropäischen Länder diesen Torturen unterwerfen. Wenn nicht, dann werden sie aus der Eurozone geworfen. Den deutschen Weg (möglichst niedrige Löhne, harte Sparpolitik des Staates, hohe Wettbewerbsfähigkeit) halten sie für vorbildlich und für den einzig möglichen. Richtig ist an dieser These der neoliberalen Ökonomen: Weil in Deutschland Lohndumping betrieben wird, sind die Produkte von deutschen Unternehmen nicht nur wegen ihrer Qualität, sondern auch wegen ihrer Preise auf den internationalen Märkten mit oft weitem Abstand wettbewerbsfähig. So ist auch der Euro gegenüber dem US-Dollar unterbewertet. Das hat der ökonomische Berater von Trump, Peter Navarro, klar erkannt und lehnt daher das geplante Freihandelsabkommen TTIP entschieden ab. Aus seiner Sicht ist wegen des Wechselkurses US-Dollar zu Euro die amerikanische Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig.
Wenn die unterschiedliche Höhe der Löhne eine so entscheidende Rolle spielt, dann rücken auch die Tarifpartner, vor allem die Gewerkschaften in den Mittelpunkt: Warum haben diese in der Zeit von 2000 bis 2008 den Verteilungsspielraum (siehe Definition am Ende des Textes) nicht ausschöpfen können? Das hat mehrere Gründe: Die Bindungskraft der Tarifverträge lässt nach. Das heißt, immer weniger Unternehmen sind in den Arbeitgeberverbänden Mitglied; diese Tarifflucht hält seit vielen Jahren an. Und die hohe Arbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren (und später in den 2000er-Jahren) schwächte die Gewerkschaften zusätzlich. Wegen ihrer Schwäche haben die Gewerkschaften, angeführt von der IG Metall, bereits Ende 1995 mit dem Bündnis für Arbeit den Unternehmen ein »Friedensangebot« gemacht und sich bereit erklärt, diesen Verteilungsspielraum nicht für höhere Löhne auszuschöpfen, sondern zu nutzen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Aus der Sicht, Produktion und Nachfrage als Kreislauf zu sehen, war das falsch.
Das Bündnis für Arbeit – Solidarität oder Torheit?
Es war die Lohnformel der neoklassischen Dogmenlehre. Die Gewerkschaften haben das damals nicht verstanden, weil sie in diesem Lohnverzicht einen Akt sahen, mit dem mehr Arbeitslose wieder zu einem Job kommen konnten. Auf einen Lohnzuwachs zu verzichten, damit die Unternehmen mehr Arbeitsplätze schaffen, hielten sie für einen Akt der Solidarität — es war aber eine makroökonomische und politische Dummheit. Denn es gab erst einmal nicht mehr Arbeitsplätze, nur weniger Lohn. In den 2000er-Jahren verschärfte sich die Lage: Die Arbeitslosigkeit blieb erst sehr hoch, die Tarifflucht hielt an, es kam sogar flächendeckend zu spürbaren Reallohnverlusten. Die Unternehmen und ihre Verbände haben die objektive Schwäche der Gewerkschaften konsequent ausgenutzt, zumal die Regierung Schröder sie politisch unterstützte: mit einer Deregulierung des Arbeitsmarkts (Hartz-Gesetze).
Martin Schulz, der neue Kanzlerkandidat der SPD, fordert höhere Löhne in Deutschland. Das ist richtig: Denn der Euro braucht nicht nur einen geeigneten Währungsraum, sondern auch einen geeigneten Lohnraum. Das ist nicht einfach, weil die Systeme der Lohnfindung und der Tarifverhandlungen in der Eurozone unterschiedlich sind. Ausgehend vom aktuellen Stand der nationalen Lohnstückkosten müssen vor allem die Löhne in den Exportüberschussländern wie Deutschland und den Niederlanden kräftig steigen.
Der Euro überlebt nur mit höheren Löhnen
Das wird schwierig, weil beide Gesellschaften traditionell als Exportökonomien organisiert sind und die Gewerkschaften sich diesem Modell eines Handelsmerkantilismus angepasst haben. Es gibt daher eine sogenannte Pfadabhängigkeit, die nicht einfach zu überwinden ist. Die Politik wird deshalb den Gewerkschaften helfen müssen.
Wer hilft den Gewerkschaften?
Die Maßnahmen: Die gesetzlichen Mindestlöhne müssen gezielt erhöht und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen muss ausgeweitet werden. Und: Die Lohnschwäche Deutschlands besteht weniger in der Industrie, sondern in den Dienstleistungssektoren, auch im öffentlichen Dienst. Deshalb müssen Arbeitsrecht und Arbeitskampfrecht verändert werden, um die Gewerkschaften zu stärken. Eine ganze Reihe von Regeln der Hartz-Gesetzgebung, wie die Deregulierung der Zeitarbeit, die Zulassung von Werkverträgen, die Ausweitung von befristeten Arbeitsverträgen, müssen aufgehoben und bessere Regeln erlassen werden. Die SPD muss über die Schatten ihrer jüngeren Vergangenheit springen.
Kurzinfo: Was ist eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik?
Die Löhne werden etwa entsprechend der Steigerung der Arbeitsproduktivität, gemessen am jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Arbeitsstunde, zuzüglich der Inflationsrate erhöht. Wenn das geschieht, wachsen die Kapitaleinkommen mit der gleichen Rate wie die Löhne. Die (bereinigte) Lohnquote (= Anteil der Löhne am Volkseinkommen) bleibt damit stabil. Deshalb wird auch von einer verteilungsneutralen Lohn- oder Tarifpolitik gesprochen.
Teil 1 dieser Serie zur Eurozone
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