Wirtschaft
anders denken.

Friedrich Engels, die Textilbranche und die lange Geschichte der Automatisierung

24.02.2018
GemeinfreiEngels (Vierter von links) im Gasthof zum Löwen in Bendlikon bei Zürich unter anderem mit Bebel, Zetkin, Bernstein

Die Familie Engels gehörte zu den Schrittmachern der Industrialisierung. Bis der globale Kapitalismus dem Unternehmen ein Ende machte. Am Beispiel des Familienunternehmens von Marx‘ Freund Friedrich Engels kann man erzählen, welche Rolle Automatisierung und Niedriglohnkonkurrenz im Ausland spielen. Ein Text aus dem Schwerpunkt der Januar-Printausgabe von OXI.

Im Jahr 1978 machte das Magazin »Spiegel« mit einer Geschichte über die Folgen der Automatisierung und der technischen Entwicklung auf – Titel: »Fortschritt macht arbeitslos«. Auf dem Cover trägt ein ungelenker Roboter einen Arbeiter im Blaumann am Schlafittchen von dannen.

Was man da vor 40 Jahren lesen konnte, klingt aktuellen Debatten nicht unähnlich. »Fast eineinhalb Jahrhunderte war der technische Fortschritt, die Entwicklung neuer Produkte und neuer Fertigungsverfahren ein verläßlicher Antrieb für Wachstum und Wohlstand«, so das Blatt. Nun aber würden »winzige Bauteile« die alte Welt aus den Angeln heben.

Damals nannte man das »dritte technische Revolution«, die Experten stritten darüber, ob durch den Einsatz von Mikroelektronik bereits »in 20 Jahren 80 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet seien« oder »dieses Ergebnis« erst später erreicht würde.

Nicht einmal ein Jahr später vermeldete die »Oberbergische Volkszeitung« am 11. Januar 1979, die Firma »Ermen & Engels sieht sich zur Liquidation gezwungen«. Ein Traditionsbetrieb der Textilindustrie machte da Pleite, eine Firma, die nicht nur Antreiber der kapitalistischen Entwicklung im »deutschen Manchester« war, ein Innovator der Baumwollspinnerei, ein Unternehmen mit englischem Partner und einem berühmten Manager, jedenfalls für gewisse Zeit: Friedrich Engels.

1837 war dessen Vater an der Gründung der Firma in Manchester und Barmen beteiligt, die später unter dem Namen »Ermen & Engels« bekannt werden sollte. Die Geschäfte liefen gut, Sohn Engels wird später an seinen Freund Karl Marx schreiben, dass sich das vom Vater investierte Kapital zwischen 1838 und 1851 mehr als verdoppelt habe. Doch fast 150 Jahre später machten die zunehmende Automatisierung und Niedriglohnkonkurrenz im Ausland die Fabrikschließung unabwendbar.

Kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger Organismus

Was das mit der »Spiegel«-Geschichte von 1978 und den aktuellen Diskussionen über die möglichen Folgen des technologischen Fortschritts zu tun hat, hatte Friedrich Engels schon 1848 in einem mit Marx verfassten politischen Propagandatext aufgeschrieben: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.«

Später arbeitete Marx die dahinter stehenden Überlegungen aus dem »Kommunistischen Manifest« im »Kapital« aus. Er mahnte seine Zeitgenossen, »dass die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist«. Und er schrieb 1867: »In England ist der Umwälzungsprozess mit Händen greifbar. Auf einem gewissen Höhepunkt muss er auf den Kontinent rückschlagen.«

Was längst geschah, und weil es geschah, konnte wohl überhaupt das Buch erscheinen, das der Funktionsweise des Kapitalismus derart schonungslos auf den Zahn fühlt. Dies darf man auch Freund Engels verdanken, dessen finanzielle Hilfen den notorisch klammen Marx über die Runden brachten. Geld, das letzten Endes aus der Beteiligung an der Firma »Ermen & Engels« kam, also aus dem privat angeeigneten Mehrwert abgezogen wurde, den die Arbeiter in Engelskirchen und Manchester geschaffen hatten.

Das erste Spielfeld des aufsteigenden Kapitalismus

Die Textilbranche war das erste wichtige Spielfeld des aufsteigenden Kapitalismus vor allem in England. Schon um 1750 arbeiteten 27 Prozent aller Beschäftigten in dieser Branche. Und dennoch konnte die Nachfrage nach Garnen, Stoffen und Endprodukten kaum gedeckt werden. Das erhöhte den Druck, die Produktivität durch neue Technik zu steigern. Revolutionäre Erfindungen wie die »Spinning Jenny« wälzten die traditionsreiche Produktion um – auch wenn es etwas dauerte, bis die neuen Maschinen, etwa der Webstuhl von Edmund Cartwright, die Qualität der Handweber erreichte.

Die neue Zeit tickte aber nicht nur in England. Der frühere Leiter des Museums Historisches Zentrum in Wuppertal, Michael Knieriem, hat die Geschichte der Firma gründlich studiert. Dass aus der Gegend von Wuppertal stammende Unternehmer in England Fabriken hielten, ist für Knieriem keine Ausnahme. Zwar gaben die englischen Firmen damals den Takt an, »ein Blick in die Firmenadressbücher von Manchester beweist« aber, so der Historiker, wie stark auch deutsche Kapitalisten dort vertreten waren: Allein in Manchester in der Zeit von 1827 bis 1870 habe es »143 Firmen mit deutschen Inhabern beziehungsweise deutschen Beteiligungen« gegeben.

Rationalisierung und billige Arbeitskräfte

Darunter auch »Ermen & Engels«. Ihr anfänglicher Erfolg beruhte auf »Rationalisierung der Produktion in einer großen Fabrik« und dem Zugriff auf »billige Arbeitskräfte«. Das waren auch die Gründe, warum Vater Engels nicht nur in England investierte, sondern auch von Wuppertal-Barmen ins nahe gelegene Engelskirchen an den Fluss Agger übersiedelte. Und er war nicht allein. »Mit Ausnahme einiger englischer Städte mag es vielleicht keinen Raum der Erde geben, auf dem so bedeutende Fabriken und Manufakturen, so viel Gewerbefleiß, ein so bedeutender Handel und eine solche Menschenzahl zusammengedrängt sich findet, als im Wupperthale«, schrieb 1835 der Reisebuchautor Karl Baedeker. Und er meinte die ganze Gegend.

Das Kapital der Familie Engels stammte aus dem Bleichen von Flachsfasern, das in der Familie schon seit dem 18. Jahrhundert betrieben wurde. Die Agger, vom Stammsitz der Familie in Barmen nicht allzu weit, bot noch bessere Voraussetzungen für wachsende Geschäfte. »Mit über 600 Arbeitskräften im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zählte die Fabrik zu den bedeutendsten Schrittmachern der Industrialisierung«, heißt es im Industriemuseum des Landschaftsverbandes Rheinland. 1861 beschäftigte die Niederlassung in Manchester, in der Friedrich Engels zeitweise tätig war, fast 800 Arbeiter. Darunter auch Kinder.

»Die bei Ermen & Engels Beschäftigten kommen nicht alle aus Engelskirchen. Sie nehmen manchmal weite Fußwege in Kauf, um zur Fabrik zu gelangen. Deshalb siedeln sich immer mehr an der Agger an, allein, um solche Wege zu vermeiden. In 30 Jahren verdoppelt sich die Bevölkerung«, schreibt der Historiker Klaus Goebel, der das Museum für Frühindustrialisierung in Wuppertal mitinitiiert hat. Die Qualität der produzierten Garne galt schnell als außerordentlich.

3.072 Drosselspindeln, 1.000 Mulespindeln, 2016 Hilfsspindeln

»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente« ständig zu erneuern, voranzutreiben – das beobachteten damals auch die Konkurrenten von »Ermen & Engels« argwöhnisch. War doch ihre Fortexistenz nicht zuletzt davon abhängig, ob sie konkurrenzfähig blieben, untergingen oder aufgekauft wurden. Staunend zählte der keineswegs unbedeutende Unternehmer Wilhelm Ehrenfest Jung 1838 in seinem Tagebuch die Produktionskapazitäten von »Ermen & Engels« auf: 3.072 Drosselspindeln, 1.000 Mulespindeln, 2016 Hilfsspindeln. Und da war erst ein Flügel der neuen Fabrikbauten bezogen. 1855 zählte man schon über 12.000 Spindeln.

Die Firma lag im Trend. Der internationale Markt hatte Produkte aus Baumwolle zum Renner gemacht. Hinzu kam die massenhafte Verbreitung der Nähmaschine, die wiederum den Absatz des von »Ermen & Engels« produzierten Nähgarns »Diamond Thread« ankurbelte. Marx sprach nicht ohne Grund von einer »revolutionären Maschine«. Politisch befeuert wurde der Prozess durch den Abbau von Zollschranken, die Freisetzung von Arbeitskräften in einer immer produktiver werdenden Landwirtschaft, die Dampfkraft spielte bald auch eine Rolle, und es taten sich mit dem zunehmenden Welthandel auch neue Absatzmärkte auf.

Und was passierte mit den dortigen Textilbranchen? Der Historiker Jürgen Osterhammel hat darauf hingewiesen, dass die Vorstellung, billige Baumwollstoffe aus den damals neuen englischen und auch den deutschen Massenfabrikationen hätte die Spinner und Weber in China und Indien um ihre Existenz gebracht, zu einfach wäre. Aber ohne Auswirkungen blieb der europäische Baumwoll-Boom in der Welt natürlich nicht.

Spätestens seit den 1950er Jahren ritten andere voraus

100 Jahre später lag das Moment kapitalistischer Entwicklung ganz woanders. Und das bekam die deutsche Textilindustrie zu spüren. »Die europäische Textilindustrie war einst eine der Triebfedern der Industrialisierung und eine der bedeutendsten Wirtschaftszweige«, schrieb einmal die »Frankfurter Allgemeine«. Gleichzeitig war »die Branche zum Leidwesen der einfachen Arbeiter aber auch stets ein Vorreiter der Rationalisierung«. Spätestens seit den 1950er Jahren ritten aber andere voraus. Und sei es, weil sie Kostenvorteile geltend machen konnten.

Schon damals war von der »deutschen Textilkrise« die Rede. Die Konkurrenz aus Osteuropa und Asien konnte billiger produzieren.« Die Textileinfuhr – ohne Rohstoffe – hat im Vergleich zu den ersten acht Monaten des Jahres 1957 um 10,2 Prozent zugenommen, die Ausfuhr deutscher Textilien dagegen nahm um 9,5 Prozent ab«, meldete der »Spiegel« im Jahr 1958. Seit Beginn der 1960er erlebe man »einen anhaltenden Schrumpfungsprozess aufgrund der zunehmenden Konkurrenz«, heißt es beim Verband der Nordwestdeutschen Textilindustrie. 1970 zählte die Branche noch etwa eine halbe Million Beschäftigte in Westdeutschland. 2006 waren es noch rund 88.000. Die Zahl der Firmen schrumpfte von 2.500 auf unter 900. Eine der Unternehmungen, die dabei wirtschaftlich Schiffbruch erlitt war »Ermen & Engels«.

Und die Arbeiter? »Fortschritt macht arbeitslos«, hatte der »Spiegel« 1978 getitelt. Das freilich ist kein Naturgesetz. 1992 kam Peter Mühlbeck in einer Studie über »Krise und Anpassung der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie« unter anderem zu dem Ergebnis, dass »die Anpassung an veränderte Markt- sowie Produktionsbedingungen und der Strukturwandel industrieller Produktionsprozesse« in diesem Fall »ohne eine umfassende Requalifizierung der Beschäftigten erreicht« wurde. Für die Spinner von Engelskirchen keine gute Bilanz.

Der Beginn eines fundamentalen Strukturwandels: die 1970er Jahre

Es könnte sich lohnen, die Umwälzungsprozesse der 1970er Jahre genauer zu studieren, um die aktuellen Folgen von Automatisierung und Digitalisierung besser zu verstehen und politisch zu gestalten. »In den Diskussionen über die Ursprünge der sozio-ökonomischen Probleme der Gegenwart geraten die 1970er Jahre immer stärker in den Blick«, hat der Historiker Konrad Jarausch vor einigen Jahren geschrieben. »Im Rückblick erscheint dieses Jahrzehnt als der Beginn eines fundamentalen Strukturwandels, der das Ende der klassischen Industriegesellschaft signalisierte« und auch erhebliche Folgen für die politische Landschaft hatte.

Das Gelände der ehemaligen Spinnerei »Ermen & Engels« in Engelskirchen – der Ortsname hat mit dem Familiennamen nichts zu tun – ist heute ein ziemlich gewöhnlicher Ausdruck der Folgen eben dieses Strukturwandels. Man macht es auch anderswo so: Nach dem Ende der Produktion wurden die Gebäude umgewidmet. Wohnungen, Arztpraxen, Gaststätten, Feuerwehr und das Rheinische Industriemuseum gehören zu den Mietern. Auch das Rathaus der Gemeinde Engelskirchen ist hier untergebracht. Dank Denkmalschutz und einer ausgezeichneten Konzeption zur Umnutzung, erfährt man vor Ort, »konnte die Industrieanlage samt Unternehmervilla am Ufer der Agger vor dem Abriss gerettet werden«.

Die Region um Wuppertal hatte mit den Veränderungen lange schwer zu kämpfen. Veränderungen, die genauso der Ökonomie entsprangen wie der einstige Aufstieg der Gegend zu einem der größten Wirtschaftszentren Europas. Dass die Familie Engels hier einst auch zu den Antreibern kapitalistischer Modernisierung gehörte, war sicher nicht zwangsläufig. Aber von der Firmengründung 1837 bis zum Ende der Produktion 1978/79 kann man in der Unternehmensgeschichte das ganze Panorama kapitalistischer Globalisierung, technischer Umwälzung, grenzüberschreitender Transfers von Know-how, von Aufstieg und Fall von Unternehmen erkennen: Die ganze Welt im Tal der Agger.

Geschrieben von:

Svenja Glaser

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