Wirtschaft
anders denken.

Die historische Zäsur verstehen: Was hinter AfD-Erfolg und Rechtsruck steckt

16.04.2018
Kürschner / Public domainDüsseldorf, Rosenmontag 2016

Männlich, ostdeutsch, Arbeiter? Es greift zu kurz, das Phänomen des Rechtspopulismus auf ihre statistisch auffälligen Stärken zu reduzieren. Auch das Bild von den Kosmopoliten hier und den Kommunitaristen da ist viel zu grob. Thomas Falkner und Horst Kahrs haben viele wissenschaftliche Studien zum Aufstieg der AfD unter die Lupe genommen. Wir dokumentieren die Zusammenfassung ihres 41-seitigen Literaturberichts.

Die aktuellen Studien, Forschungen und Deutungen zur AfD und ihrem gesellschaftspolitischen Hinterland lassen sich zu einem relativ konsistenten, in sich stimmigen Bild zusammenfügen – unterschiedliche Ansätze und Perspektiven können als ergänzend statt als kontrovers gelesen werden.

Aufkommen und Etablierung der AfD, dies zeigt die Auswertung der Studien, sind Ergebnis eines längerfristigen Prozesses, der einerseits durch eine zunehmende Zahl ungelöster zentraler sozial-ökonomischer Probleme, andererseits – und dieser Aspekt sollte in der künftigen Diskussion deutlich stärker gemacht werden – durch eine damit verbundene Delegitimierung der herrschenden politischen Eliten – incl. der Linkspartei – und ihrer ideologischen Deutungsangebote gekennzeichnet ist.

Die Zäsur und ihre Vorgängerin

Die Bundestagswahl 2017 und hier vor allem der erstmalige Einzug einer rechtspopulistischen Partei – noch dazu mit starkem Ergebnis – in das deutsche Parlament war unstreitig eine historische Zäsur für das Nachkriegsdeutschland. Um sie besser zu verstehen, ist es sinnvoll, gedanklich bis zu letzten davor liegenden Zäsur dieser Dimension zurückzugehen: Fall der Mauer, Ende der Systemkonfrontation, deutsche Einheit.

Seither haben sich zentrale politische und gesellschaftliche Erwartungen, Zusagen und Wertefundamente als brüchig oder nicht haltbar erwiesen – man denke nur an

  • das 1990/91 abgegebene Versprechen von »blühenden Landschaften in drei, vier, fünf Jahren«, wobei und wonach es »keinem schlechter, aber vielen besser gehen« sollte;
  • die Spendenaffäre um die CDU und Helmut Kohl Ende der 90er Jahre, die zu einer nachhaltigen Irritation des wertkonservativen Teils der Gesellschaft führte und in der Union die Tür zum Modernisierungskurs von Angela Merkel öffnete;
  • die umstrittenen und tiefgreifenden Sozialstaatsreformen der Ära Schröder/Müntefering, die eine Aufkündigung des alten rheinischen Sozialstaats-Versprechens waren und auch so empfunden wurden;
  • die Banken- und Euro-Krise 2008ff., die das neoliberale Narrativ als Regulationsversagen mit äußerst hohen gesellschaftlichen Kosten entlarvte, ohne ein neues Narrativ hervorzubringen;
  • der externe Schock der dramatischen Flüchtlingsbewegungen ab 2014/15, der aus unterschiedlicher Perspektive zur Befürchtung bzw. zur Deutung als »Staatsversagen« führte und von den einen als Zusammenbruch des gewohnten staatlichen Ordnungsversprechens in Deutschland empfunden, für die anderen als Anlass zu einem breiten solidarischen Aufbruch und zugleich zur Erfahrung mangelnder staatlicher Unterstützung verstanden wurde.

Alle diese Entwicklungen hatten unübersehbare Auswirkungen auf das parteipolitische Spektrum in Deutschland:

  • zunächst in der Etablierung der PDS als ostdeutscher Volkspartei,
  • dann in der Bildung der WASG und deren Fusion mit der PDS zur LINKEN,
  • und schließlich in der Schließung der Ende der 90er Jahre offen aufbrechenden Vertretungslücke rechts – in einem ersten Schritt durch die Lucke-AfD, in einem differenzierten zweiten Schritt durch die Gauland-AfD.

Für Ostdeutsche fanden diese Erfahrungsbrüche noch sehr spezifische Ergänzungen. Sie nährten grundlegende Zweifel

  • an der ökonomischen Zweckmäßigkeit des Wegfalls von Grenzen angesichts des nach 1989 ausbrechenden massiven Wettbewerbsdrucks
  • an der Rechtstreue der die Eliten in West wie Ost dominierenden »Wessis«
  • an der Verlässlichkeit sozialer und sozialstaatlicher Zusagen und Institutionen
  • an der Bereitschaft von Staat und EU zur ausgewogenen und sozial verantwortungsbewussten Verteilung von Ressourcen.

Dies wiederum mag mit erklären, warum es gerade in Ostdeutschland auf der parteipolitischen Ebene zu wesentlich deutlicheren Ausschlägen als im Westen kam.

Eine andere Architektur

Mitgedacht werden sollte auch, dass sich ab 1989/90 die Architektur der gesellschaftspolitischen Kultur in der Bundesrepublik wandelte. In der Nachkriegszeit war es immer wieder gelungen, in der sehr »mittig« orientierten westdeutschen Gesellschaft einen in sich pluralistischen und bemerkenswert integrationsfähigen hegemonialen Block zu konstituieren, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung vertrat und trug, während Milieus bzw. Kräfte tabuisiert und marginalisiert wurden, die rechts und links des demokratischen Spektrums sowie in seinen Grauzonen durchaus bestanden und sich auch wandelten. Mit konstituierend waren externe Faktoren – von der bestimmenden Rolle der West-Alliierten nach 1945 von der dann durchgesetzten Westorientierung und EU-Einbindung der Bundesrepublik bis hin zur Bündnis-Räson und Polarisierung im Kalten Krieg.

Diese Architektur wandelte sich nach 1990:

  • einerseits durch eine kulturelle und politische Gegenströmung gegen die pauschale Abwertung und Dämonisierung in der DDR gelebten Lebens, insbesondere von alltagswirksamen Werten von Solidarität und sozialer Verantwortung;
  • andererseits durch eine massiv aufbrechende Debatte um den Wert von Nation und nationaler Zusammengehörigkeit bzw. Verantwortung vor allem in den 90er Jahren, die nicht nur wertkonservativen und nationalliberalen Kräften Auftrieb gab, sondern generell Tabuzonen nach rechts aufbrach.

Aus den disziplinierenden externen Faktoren war zunächst ein politischer, ökonomischer und kultureller externer Schock durch die Mauer-Öffnung und ihre Folgen geworden. Die Westbindung war nicht mehr defensiv und disziplinierend, sondern zunehmend rückten die Frage nach eigenständiger Verantwortung der größer und zunehmend dominant werdenden Bundesrepublik und die Herausforderungen durch die faktische Expansion des eigenen Modells in den Osten ins Zentrum.

Legitimation des hegemonialen Blocks ist erodiert

Waren die Westbindung im Kalten Krieg und die Öffnung nach Osten in den 90er Jahren zunächst gesellschaftlich und ökonomisch profitabel, so erwies sich die internationale Rolle Deutschlands schon bald als auch sehr kostenintensiv. Gleichzeitig vertieften und weiteten sich die globalen Verflechtungen der deutschen Wirtschaft enorm, und zwar in einer Form, die von Beschäftigten oft nur als verschärfter Standortwettbewerb, zunehmende Verunsicherung und wachsende Konkurrenz durch Entgrenzung des Arbeitskräftereservoirs wahrgenommen werden konnten, weil die gewerkschaftliche Kontrollmacht erodierte und sozialstaatliche Regelungen in nationalstaatlicher Souveränität verblieben und so Teil des Standortwettbewerbs wurden. Alles in allem: Der hegemoniale Block der Bonner Republik, wie er 1989/90 bestand, ist zwar noch existent – aber seine Legitimation ist erodiert, seine Basis deutlich schmaler geworden, seine Integrationskraft gesunken und seine Monopolstellung dahin.

All diese Entwicklungen gehören zum Nährboden der politischen Veränderungen und Umbrüche, die in diesem Bericht untersucht wurden, und zum Problemhorizont für den Umgang damit. »Flüchtlingskrise« und »Flüchtlingspolitik« sind nicht Ursache, sondern eher Auslöser und maximal Beschleuniger dessen, was wir hier vorläufig weiterhin als »rechtspopulistischen« Hype benennen. Die AfD-Wählerschaft tickt nicht »wegen der Flüchtlinge« rechtspopulistisch, sondern die »Flüchtlingskrise« wurde zum politischen Drama, weil sie rechtspopulistischen Einstellungen die Gelegenheit bot, sich zu offenbaren und auszuleben.

Der Rechtsruck und seine gesellschaftlichen Biotope

In diesem Prozess, das zeigt die Auswertung der Studien, sind als (nur) erste Etappe bereits gesellschaftliche Biotope entstanden, in denen sich sozial-ökonomische Abgehängtheit, Abkoppelung von Demokratie und Zivilgesellschaft sowie Akzeptanz und Deutungsmacht rechtsradikaler Positionen miteinander verbunden haben und das gesellschaftliche Mikro-Klima für eine starke und erstarkende AfD schaffen.

Die Formierung solcher sozialräumlich zu identifizierender Biotope kann überdurchschnittliche Zustimmung für die AfD in bestimmten sozialstatistischen, sozioökonomischen Merkmalsgruppen erklären helfen: überdurchschnittlich im Osten Deutschlands, überdurchschnittlich unter Männern zwischen 40 und 60 Jahren mit einer mittleren Qualifikation, überdurchschnittlich unter Befragten, die sich selbst als Arbeiter einstufen, überdurchschnittlich in Einkommensgruppen, die der unteren Mittelschicht zuzuordnen sind, überdurchschnittlich in Regionen, sozialen Nahräumen, die nicht zu den dynamischen Zentren und Vorreitern der Modernisierung zu zählen sind.

Bereits diese Aufzählung der Stärken in der Anhängerschaft verweist auf die Vielschichtigkeit der miteinander verwobenen Ebenen der Motiv- und Handlungsfelder: von materieller Abstiegssorge über ausgeprägte Veränderungsskepsis bis hin zur Krise traditioneller Männlichkeit. Verbindende Faktoren scheinen weniger eine gemeinsame soziale Lage als vielmehr gemeinsame »Erlebniswelten« und ihre Verarbeitung: Zurücksetzung, Ressentiment, Kontrollverlust, Zorn, …

»Rechtspopulismus« als Bewegung, AfD als Ausdruck von ihr

Es greift indes zu kurz, das Phänomen des Rechtspopulismus bzw. des Aufstiegs der AfD auf ihre statistisch auffälligen Stärken zu reduzieren. Zur AfD-Anhängerschaft zählen zu einem Drittel auch Modernisierungsbefürworter, ein erheblicher Teil ihrer Anhängerschaft zählt zum gehobenen konservativen Bürgertum. Abstiegsängste stiegen in der obersten Einkommensschicht wieder an, in allen sozialen Merkmalsgruppen der Wahlforschung erhielt die AfD deutlich mehr als 5 Prozent usw. Allein in der politischen Typologie von Müller-Hilmer/Gagné konnten mit dem »engagierten Bürgertum« und der »kritischen Bildungselite« zwei politische Milieus identifiziert werden, in denen die AfD kaum Rückhalt gefunden hat.

Ebenso wäre es angesichts der empirischen Befunde eine unzulässige Verkürzung, die Anhängerschaft der Partei mit der politischen Formierung der Partei als völkisch-nationalistisch-autoritäre Kraft gleichzusetzen. Aus diesem Grund scheint uns die Verwendung des Begriffs »Rechtspopulismus« bis auf weiteres angebracht, nicht so sehr für die AfD selbst, wohl aber für die soziale und politische Bewegung, deren Parteiform sie aktuell ist. Die AfD ist die rechtspopulistische Protestpartei der sozial-kulturell »Abgehängten« und der sich beruflich-sozial-kulturell bedrängt fühlenden »Mitte« – aber eben nicht nur. Sie ist auch die politische Manifestation eines heimatlos gewordenen wert- und nationalkonservativen ideologischen Milieus. Und diese Bewegung ist nicht allein als Folge erlittener Verluste und Zurücksetzungen zu begreifen, sondern auch als Folge der Ansicht, dass es in Zukunft nicht besser werden wird und das Land ich auf keinem guten Weg befindet.

Befunde, die selbst Teil der Deutungskämpfe sind

Die Bundestagswahl 2017 markiert einen Scheidepunkt, an dem voll wirksam und endgültig unübersehbar wurde, was sich seit langem gesellschaftlich aufgestaut hatte. Das wiederum kam nicht von ungefähr. Mit der Krise der Flüchtlingspolitik 2015 wurden die Themen Migration, Integration und damit verbunden der Sicherheit zu zentralen politischen Konfliktthemen, die die Anhängerschaften aller Parteien durchzogen und zu Neuordnungen im Parteiensystem führten.

Dass an dieser Frage tieferliegende gesellschaftspolitische Richtungsdebatten über die Zukunft des Landes, in dem sich gut leben lässt (CDU-Wahlslogan), geführt werden, machen die Studien auf verschiedene Weise mit der Betonung neuer Konfliktachsen deutlich, wobei sich auf dem einen Pol Kosmopoliten, Liberal-libertäre und Gewinner (von Globalisierung, Modernisierung) und auf dem anderen Pol Kommunitaristen, Autoritäre und Verlierer (von Globalisierung oder Modernisierung) bzw. »Abgehängte« finden. Diese Deutungen haben jeweils einzelne empirische Befunde für sich, sind aber bereits selbst oftmals Teil der politischen Deutungskämpfe.

Uns erscheint daher die Beschreibung einer neuen zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinie: als eine zwischen »Skeptikern« und »Befürwortern« von Modernisierungsprozessen vorerst hilfreicher. Sie verweist darauf, dass die Konflikte um die Frage, wer welche Veränderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft stehen, will und trägt, wer Vorteile daraus erhofft und wer Nachteile befürchtet und erleidet, wer modernisiert und wer modernisiert wird, als grundlegende gesellschaftspolitische Richtungsfragen das Parteiensystem und die demokratischen Institutionen weiterhin in Bewegung halten werden.

Diese Konfliktlinie scheidet einerseits in vielen Fragen die AfD klar von den anderen Bundestagsparteien, andererseits durchläuft sie auch das Lager der anderen Bundestagsparteien. Aus verschiedenen Perspektiven wird deutlich, dass die Zuordnung nicht allein objektiven sozioökonomischen Merkmalen folgt (Verlust von Einkommen, Sicherheit, Status), sondern dem Bild und den Erwartungen, welche man sich von der gesellschaftlichen Entwicklung macht, und wo man den eigenen Platz und die eigenen Möglichkeiten sieht. Skepsis und Befürwortung verteilen sich grundsätzlich quer zu sozialen Schichtungen. Vom Wähler- und Wählerinnen-Potenzial her sind beide Lager etwa gleich groß – jedoch liegt das »Momentum« auf absehbare Zeit eher bei den Modernisierungs-Skeptikern und der AfD. Die AfD könnte auf ihre Anhänger im Lager der Modernisierungsbefürworter verzichten. Keine der Parteien diesseits der AfD könnte derzeit aus dem Lager der »Modernisierungsbefürworter« ausscheiden, ohne wahlpolitisch ihre entscheidende Basis zu verlieren.

Die vollständige Version von Deutungsmuster zum Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017. Ein Bericht zu neueren empirischen Studien ist zuerst bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen und hier als PDF abrufbar.

Geschrieben von:

Thomas Falkner

Horst Kahrs

Sozialwissenschaftler, Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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