Wirtschaft
anders denken.

Die nationale Beschränktheit des Europäers Martin Schulz

28.02.2017
Martin Schulz vor einer EU-FlaggeFoto: Martin Schulz / Flickr CC-BY-NC-ND 2.0 LizenzIn Europafragen genießt der SPD Kanzlerkandidat einen guten Ruf. Zu Unrecht.

Martin Schulz will die Agenda 2010 ein bisschen korrigieren. Für einen Neuanfang müsste er mit Gerhard Schröder brechen: Dessen Politik zwischen 1999 und 2005 war volkswirtschaftlich für Deutschland und die Eurozone ein Desaster. Das anzuerkennen, wird die SPD (noch) nicht schaffen.

Als Martin Schulz zum neuen SPD-Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde, wiesen KritikerInnen sofort daraufhin: Er habe im Jahr 2003 Gerhard Schröders Agenda 2010 unterstützt und anschließend gerechtfertigt. Seine Argumente: Diese Arbeitsmarkt- und Sozialreformen seien die »richtige Antwort auf eine Phase der (wirtschaftlichen) Stagnation gewesen«, sie hätten »Deutschland wieder fit gemacht«. Zugleich gilt Schulz als überzeugter Europäer, der die europäische Einigung vollenden will. Aus dieser Perspektive überrascht die nationale Brille, mit der Schulz die Situation des Standorts Deutschland beurteilt hat.

Exportweltmeister? Aus der Sicht eines überzeugten Europäers ist dieses Ziel grober Unfug.

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Richtig ist, dass Deutschland in der Zeit zwischen 2002 und 2005 ein geringeres Wachstum verzeichnete als der Durchschnitt der Euroländer. Zugleich war nach der Konjunkturkrise 2001/02, die von einem Börsencrash ausgelöst worden war, in Deutschland ebenfalls die Arbeitslosigkeit länger höher als in der Eurozone geblieben. Deshalb wurde damals Deutschland als »kranker Mann« Europas bezeichnet. Was war das damals für eine Stagnation? War das schon eine wirtschaftliche Stagnation, wie sie heute mit dem Begriff der säkularen Stagnation diskutiert wird, also eine anhaltende, eine chronische?

Die deutsche Wirtschaftslaute nach 2001

Das war nicht der Fall. Die damalige Wirtschaftsflaute war das Resultat von schweren wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen der Regierung Schröder. Sie begannen mit der Unternehmenssteuerreform 2000, die das Aufkommen aus Unternehmenssteuern (und damit die Staatseinnahmen) drastisch senkte; vergleichbar sank das Aufkommen aus der Körperschaftssteuer. Auf diesen Rückgang der Staatseinnahmen reagierte die rotgrüne Bundesregierung mit Sparpolitik. Zugleich überschritt Deutschland die Verschuldungsregeln des Maastrichter Vertrags von 1992. Das war ein hausgemachtes Problem: Denn es gab keinen Grund, die Unternehmenssteuern so stark zu senken. Korrekturen am Steuersystem hätten gereicht; der damalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine hatte sogar noch kurz vor seinem Rücktritt im März 1999 eine Erhöhung bestimmter Unternehmenssteuern vorbereitet.

Weltmeister werden statt Stabilität wahren

Auch die mit dem Namen Riester verbundene Reform der gesetzlichen Rente war ein schwerer wirtschaftspolitischer Fehler. Der Grund: Sie verringert die verfügbaren Einkommen von Beschäftigten und RentnerInnen und schwächt damit auf Dauer die konsumtive Nachfrage. Die deutsche »Krankheit« war also das Resultat von wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen, die auf einer nationalistischen Sicht der Wirtschaftslage basiert hatten. Das Ziel von Kanzler Gerhard Schröder: Deutschland sollte wieder die wirtschaftspolitische Spitzenstellung in Europa (und der Welt) erreichen.

Aus der Sicht eines überzeugten Europäers ist dieses Ziel grober Unfug. Die wirtschaftliche Entwicklung in einer Währungsunion muss aus der Perspektive gesehen werden, diesen Währungsraum stabil zu halten: Es darf nie um eine Randordnung von GewinnerInnen und VerliererInnen gehen. Wie viele andere deutsche SozialdemokratInnen scheint auch Martin Schulz diesen Zusammenhang damals nicht verstanden zu haben.

Der zweite Denkfehler der Schröder-Regierung

Der zweite Denkfehler der Sozialdemokratie: Sie glaubte, die Arbeitslosigkeit sei so hoch – damals überschritt die offizielle Arbeitslosigkeit zeitweise die Fünf-Millionen-Grenze –, weil die Regeln auf dem Arbeitsmarkt zu Unternehmer-unfreundlich waren. Aber: Arbeitslosigkeit entsteht nicht auf dem Arbeitsmarkt, sie wird dort nur gemessen.

Die hohe deutsche Arbeitslosigkeit war Anfang der 2000er Jahre auf zwei Faktoren zurückzuführen: Einmal gab es eine Beschäftigungskrise in den neuen Ländern; sie war die Folge des Wirtschaftsschocks, der mit der rigiden und schnellen Durchsetzung des westdeutschen Kapitalismus in der früheren DDR ausgelöst worden war. Der zweite Faktor, bereits oben angedeutet: Auf die Krise 2001/02 hätten Kanzler Schröder und sein neuer Finanzminister Hans Eichel keynesianisch mit einen antizyklischen Konjunkturprogramm reagieren müssen. Sie legten jedoch eine neoklassische Sparpolitik auf. Warum tat die Regierung das? Ihre Analyse war, das Wachstum sei schwach und die Arbeitslosigkeit hoch, weil die Arbeitskosten und die Steuern für die Unternehmen zu hoch seien. Deshalb ging es ihr darum, beides zu senken. Und zwar drastisch. Davon erhoffte sie sich hohe Investitionen von Seiten der Unternehmen.

Die Arbeitslosigkeit ist nach Einführung der Agenda 2010 gesunken. Aber nicht wegen ihr.

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Diese Annahme ist jedoch falsch. Die BefürworterInnen dieser Politik sagen trotzdem bis heute: Nach 2005 sei die Arbeitslosigkeit gesunken. Das sei doch ein Beleg dafür, dass der von der Agenda 2010 ausgelöste Druck auf die Löhne geholfen habe; die Gleichung: niedrigere Löhne führen zu mehr Arbeitsplätzen. Richtig ist: Ab 2006 sank die Zahl der Arbeitslosen. Aber aus zwei anderen Gründen: Zum einen nahm die Nachfrage aus dem Ausland zu, und zum anderen gab es mehr Teilzeitarbeit. Beleg für die Bedeutung dieses zweiten Hinweises: Das Arbeitsvolumen, also die Zahl der Arbeitsstunden insgesamt, ist von 2006 bis 2014 nur gering gestiegen; so kann die Zahl der Arbeitslosen nur wegen der vermehrten Teilzeitarbeit wesentlich abgenommen haben.

Agenda 2010 verlängerte die Wirtschaftskrise

Es ist sogar umgekehrt. Die Arbeitsmarktreformen haben den Aufschwung nach der Krise 2001/02 zeitlich verzögert, wie ein Vergleich mit den vorhergegangenen Konjunkturzyklen zeigt, den das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung vorgenommen hatte. In den früheren Zyklen war die Konjunktur nach dem Tiefpunkt der Krise schneller angesprungen als nach 2002. Diese Untersuchung belegt: Die Maßnahmen der Schröder-Regierung hatten die Effekte der Krise vertieft.

Das Kernproblem: Schröder und die damalige SPD blickten aus Sicht eines Unternehmens auf die gesamte Wirtschaft; deshalb glaubten sie irrtümlicherweise, wenn die Löhne sinken, dann werden die Unternehmen wieder investieren. Ihnen fehlten die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge – oder sie verdrängten sie. Ebenso wie die Mehrheit des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die diese Ideologie vorgegeben hatte.

Die Arbeitsmarktreformen der SPD erzeugten einen riesigen Niedriglohnsektor.

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Die Maßnahmen der Agenda 2010 basierten auf einer primitiven und falschen mikroökonomischen Sicht, die nur die (angeblich zu hohen) Arbeitskosten sieht, und die entscheidenden Bewegungen auf den Finanz- und Gütermärkte verdrängt. Die deutschen Arbeitsmarktreformen erzeugten nach 2003 einen massiven Lohndruck insbesondere im gewerkschaftlich schlecht organisierten Dienstleistungssektor. Und sie vergrößerten und verfestigten den Niedriglohnsektor. Im mikroökonomischen Blick führen sinkende Löhne zu steigender Beschäftigung. In der makroökonomischen Sicht führen sinkende Löhne wegen der damit verbundenen Dämpfung der Nachfrage dagegen zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Die falsche Sicht auf die Arbeitskosten

Die konkreten Effekte damals in Deutschland: In der Summe stagnierten die Lohnstückkosten in der Gesamtwirtschaft und hielten so die deutsche Inflation niedrig. Diese niedrige Inflation machte die deutschen Produkte im Vergleich des Euroraumes dann preiswerter als die Produkte der internationalen Konkurrenz; denn wenn die Wechselkurse fix sind, dann verändert die Höhe der Inflation die realen Kurse. Dadurch vergrößerte sich der deutsche Export- und Leistungsbilanzüberschuss. Und zugleich stieg und steigt unverändert die Verschuldung der anderen Länder aufgrund ihrer Handelsbilanzdefiziten. Das war später ein wesentlicher Faktor für die Euro-Krise nach 2008/09. Eine Lehre aus alldem: In einer Währungsunion ist ein Lohnwettbewerb nach unten grober Unfug.

Deutschland hat seine Arbeitslosigkeit in andere EU-Länder exportiert.

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Jedoch: Deutschland profitiert davon. Was festzuhalten ist: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist gesunken, weil die Weltwirtschaft in einen Aufschwung kam und weil zweitens Deutschland seine potenzielle Arbeitslosigkeit in die EU-Länder mit Außenhandelsdefiziten, wie beispielsweise Frankreich, exportierte, indem es diesen Ländern viel mehr Waren und Dienstleistungen verkauft, als es bei diesen einkauft. Zwischen den sinkenden Arbeitslosenzahlen und der Agenda 2010 gibt es deshalb nur einen zeitlichen Zusammenhang, aber keinen kausalen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Bricht die SPD mit dem Denken von Schröder?

Der aktuelle Vorschlag von Martin Schulz, das Arbeitslosengeld für ältere Erwerbslose länger zu bezahlen, trifft nur ein Detail der gesamten Deregulierung des Arbeitsmarkts. Bereits 2008 hatte die SPD unter ihrem damaligen Vorsitzenden Kurt Beck eine Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose durchgesetzt. Der neue Vorschlag wird zwar als Abkehr von der Agenda 2010 debattiert, bricht aber nicht mit der Sozialphilosophie der Hartz-Reformen.

Vor Gerhard Schröder wurde Arbeitslosigkeit in der SPD als kollektives Schicksal verstanden, nicht als Schicksal und Problem jedes und jeder Einzelnen. Damit waren die Gesellschaft und die Wirtschaftspolitik verantwortlich, mit der Arbeitslosigkeit fertigzuwerden. Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission und ihrer (verschärften) Umsetzung durch den damaligen Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (2002-2005) fand ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik statt. Der Arbeitslose selbst sollte individuell ermächtigt und gezwungen werden, wieder Arbeit zu finden (»Fordern und Fördern«). Arbeitslosigkeit wird dadurch individualisiert. Es wird zum Problem jedes Einzelnen. Und die Wirtschaftspolitik wird von der Verantwortung befreit, für Vollbeschäftigung zu sorgen.

Die SPD versteht die Euro-Krise, für die sie selbst Verantwortung trägt, nur als Ideologie des rechten Populismus.

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An diesem Paradigmenwechsel ändert der Vorschlag von Schulz zunächst nichts. Er signalisiert nur, dass über bestimmte Folgen der Arbeitsmarktreformen in der SPD wieder nachgedacht wird. Schulz hat Reformen im Arbeitsrecht, wie den Wegfall der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen gefordert. Auch sein Plädoyer für höhere Löhne ist ein Fortschritt. Es findet also ein schrittweises Umdenken in der SPD statt. Wie weit dieses geht, ist offen. Ob die SPD zu einer makroökonomischen Sicht auf Politik und Wirtschaft findet und keynesianisch reagiert, ist zweifelhaft. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht waren die Entscheidungen der Jahre 1999 bis 2005 ein Desaster. Das zu erkennen und anzuerkennen, würde die SPD in eine Zerreißprobe führen.

Wird Schulz noch zum Europäer?

Martin Schulz hat in seiner Rolle als Präsident des Europaparlaments im sogenannten Fünf-Präsidenten-Bericht zur »Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion« auch dem Vorschlag einer »Kapitalmarktunion« zugestimmt. In dieser Kapitalmarktunion soll das Instrument der Verbriefung von Kreditforderungen wieder ausgeweitet werden; dieses Instrument war mitverantwortlich für die Finanzmarktkrise 2008 gewesen. Das ist ein Vorschlag, der auf der neoklassischen Theorie des effizienten Finanzmarkts aufbaut.

Dieses Konzept ist mit der Krise 2008 eigentlich schrecklich gescheitert. Trotzdem halten neoklassische ÖkonomInnen daran fest. Warum aber glauben sozialdemokratische PolitikerInnen diesen Modellen? Warum sehen sie nicht, dass dadurch eine neue Finanzblase aufgebaut wird? Es greift zu kurz, das mit der (zweifellos) unzureichenden ökonomischen Bildung sozialdemokratischer PolitikerInnen zu erklären. Die SPD selbst hat die politische Ökonomie einer Währungsunion noch nicht zu ihrer Aufgabe gemacht. In der SPD werden die Vorschläge keynesianischer ÖkonomInnen auch aus der eigenen Parteistiftung weitgehend nicht wahrgenommen, weil die Partei über ökonomische Fragen seit vielen Jahren nicht mehr diskutiert. Sie hält an der europäischen Idee fest und versteht die Euro-Krise, für die sie selbst Verantwortung trägt, als nationalistische Ideologie des rechten Populismus. Sie hat es bisher nur geschafft, Sigmar Gabriel nicht mehr zu trauen und Schulz zum Hoffnungsträger auszurufen.

Geschrieben von:

Michael Wendl
Michael Wendl

Mitherausgeber von »Sozialismus«

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