Wirtschaft
anders denken.

Die neuen Herrscher der Energiewelt

04.05.2023
Ein Solarpark im Landkreis DürenFoto: EnergieAgentur.NRW Grüne Energiesysteme sind schon heute geopolitisch relevant.

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Ein klimaneutrales und klimaresilientes Energiesystem müsste dezentral und möglichst kontinentweit aufgestellt sein

Das Lieblingsargument gegen Windkraft und Solarenergie lautet bekanntlich: Was passiert, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint?

Befürworter grüner Energien geraten da nicht mehr ins Stottern. Sie sprechen dann von großen und kleinen, von kurz- und langfristigen Speichern, von Flexibilitäten, Lastabsenkungen und dergleichen.

Sinn dessen ist es, das schwankende Angebot und den ebenso schwankenden Bedarf an Strom aufeinander abzustimmen. Eine Raketenwissenschaft ist das nur für vernagelte fossile und atomare Fans. Je schneller der Klimawandel aber voranschreitet, desto mehr müssen wir offenbar noch anders auf Wind und Sonne blicken, denn: Auch in einer Welt der Klimakrise wird die Sonne weiter scheinen und der Wind weiter wehen. Anders gesagt: Wetterextreme wie Dürren, Starkniederschläge oder ausgedehnte Tiefs oder Hochs können Windkraft und Solarenergie nicht viel anhaben. Selbst wenn da und dort einige Anlagen regional ausfallen, hat das keine großen Auswirkungen.

Damit heben sich Wind und Sonne von fossilen oder atomaren Kraftwerken ab, aber auch von Biomasse-Anlagen. All diese Kraftwerke sind in verschiedenem Maße auf die sichere und ausreichende Verfügbarkeit von Wasser und/oder Brennstoffen angewiesen. »Im Gegensatz zu fossiler Energie ist die Stromerzeugung mit Wind- und Solarkraft resilienter gegenüber Wetterextremen und damit krisensicherer«, betonen auch Manager des Vermögensverwalters DWS Group. Der Fonds investiert vor allem in nachhaltige Energie und effiziente Energienetze. Die dezentrale Struktur von Wind- und Sonnenenergie habe sich als Vorteil bei Extremwetterlagen erwiesen, loben die Finanzleute. Mit der weitgehenden Umstellung auf Wind und Sonne als wichtigste Energieerzeuger lassen sich also zwei Probleme gleichzeitig lösen: das Klima schützen und das Energiesystem an den Klimawandel anpassen. Grüner Strom, gewonnen im Wesentlichen aus Wind und Sonne, wird die neue Primärenergie werden anstelle von Kohle, Öl, Gas und Atom. Mit dem Ökostrom werden auch alle Bedarfe möglichst direkt elektrisch abgedeckt – der Verkehr, die Industrie, die Gebäude und was zum Funktionieren sonst noch Energiezufuhr benötigt.

Das bedeutet eine nahezu totale Umkehrung heutiger Verhältnisse. Derzeit deckt Deutschland mit Strom nur etwas mehr als 20 Prozent seines Endenergieverbrauchs ab – und davon die Hälfte ist wiederum Strom aus erneuerbaren Quellen, inzwischen prosaisch als »grüne« Elektronen tituliert.

Die anderen 80 Prozent werden in Deutschland durch »Moleküle« abgedeckt, fossile wie Gas, Öl und Kohle vor allem. Nur einen sehr kleinen Teil machen »grüne« Moleküle aus, in erster Linie sind das Biogas oder Biodiesel. Grünen Wasserstoff und E-Fuels gibt es bisher nur fingerhutvoll.

Auch in einem zu 100 Prozent erneuerbaren Energiesystem wird es Elektronen und Moleküle geben – nur kehren sich die Verhältnisse um. So werden ab 2045, wenn die Transformation klappt, »grüne« Elektronen 60 bis 70 Prozent und »grüne« Moleküle 30 bis 40 Prozent des Endenergiebedarfs abdecken. Das erklärte Mario Ragwitz von der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG kürzlich auf einer Konferenz des Verbandes für Energie- und Wasserwirtschaft BDEW im brandenburgischen Cottbus.

Reden Expert:innen über klimaneutrale Energien, nehmen sie die Endenergie als Maßstab. Das ist der Teil der Primärenergie, der nach Abzug der Umwandlungs- und Transportverluste für den Verbrauch real zur Verfügung steht. Bei fossilen und atomaren Kraftwerken gehen auf dem Weg zum Verbraucher bis zu zwei Drittel der ursprünglichen Energie verloren – bei Wind und Sonne ist das anders: Da sind Primär- und Endenergie nahezu gleich. Der Maßstab Endenergie gibt also in einem erneuerbaren System die wahren Verhältnisse viel besser wieder. Die heute noch meist gebräuchliche Größe Primärenergie verzerrt die Bilanz zuungunsten der Erneuerbaren.

Zurück zu Ragwitz: Zusätzlich zum Wechsel von Molekülen zu Elektronen rechnet der Energieexperte auch mit einem deutlich sinkenden Bedarf an Endenergie. Dieser liegt in Deutschland derzeit bei 2.500 Terawattstunden und könnte bis 2030 auf 2.200 bis 1.900 Terawattstunden sinken. Bis Mitte des Jahrhunderts könnten, je nach Entwicklungspfad, sogar 1.800 bis 1.100 Terawattstunden ausreichen. So steht es in der im Februar veröffentlichten Akademie-Studie »Energiesysteme der Zukunft«, an der Ragwitz federführend mitgeschrieben hat. Die Reduktion des Energiebedarfs basiere, heißt es da, maßgeblich auf Effizienzgewinnen. Beitragen könnten aber auch Verhaltensänderungen, beispielsweise bei der Mobilität, sowie eine reduzierte Nachfrage nach Energiedienstleistungen und Konsumgütern. Die Energiebranche sieht sich also einer zweifachen Marktverschiebung gegenüber: Der Energiebedarf schrumpft erstens, und zweitens setzen sich effizientere »grüne« Elektronen gegenüber »grünen« Molekülen durch. Daraus folgt ein doppelter Machtwechsel. Nicht nur, dass die fossile und atomare Lobby ihre Macht an grüne Energien verliert, auch innerhalb der Ökobranche verschieben sich die Verhältnisse. Die Molekül-Branche, die seit Jahrhunderten die Energiewelt beherrschte, muss ihre Vormacht an die Elektronen abgeben.

Die heutige Gas- und Öllobby wird dabei sogar nahezu gedemütigt, denn »grüne« Moleküle wie Wasserstoff und E-Fuels werden in einer klimaneutralen Welt im Wesentlichen auf drei Quellen beruhen: auf Wasser, dem CO₂ aus der Luft oder aus Industrieprozessen sowie dem Strom aus Wind und Sonne. Moleküle werden also eine vom Strom abhängige Größe. Ein Vorbote dessen ist die jüngste Wasserstoffregelung der Ampel-Regierung, wonach an Knotenpunkten des Stromnetzes nur dann grüner Wasserstoff hergestellt werden soll, wenn Ökostrom überflüssig ist, also normalerweise abgeregelt würde. »Grüne« Moleküle entstehen aktuell genau genommen aus Abfallstrom.

Dazu kommt noch der Kostennachteil der »grünen« Moleküle. Denn gegenüber dem Direkteinsatz des Ökostroms in einem E-Auto muss man für dieselbe Fahrleistung auf der Basis von E-Fuels die sechsfache Strommenge hineinstecken. Kein Wunder, dass sich vor diesem Hintergrund schon jetzt ein massiver Kampf um die künftige Herrschaft im Energiemarkt abspielt. Das war auf ebenjener Tagung des BDEW zu spüren. Konventionelle Gasversorger stellten dort ambitionierte Projekte vor, wie sie beispielsweise ganz Brandenburg mit einem Netz von Wasserstoff-Leitungen durchziehen und auch ganz Berlin einkreisen wollen.

Nach den Konzepten soll leitungsgebundener Wasserstoff die Hälfte des künftigen Energiebedarfs von Brandenburg decken. Selbst branchenfreundlich gerechnete Kosten dafür sollen jenseits von 1,1 Milliarden Euro liegen. Um die refinanzieren zu können, schwebt den Fans großer Wasserstoffnetze ein Anschlusszwang für Haushalte und Kommunen vor. So soll verhindert werden, dass Leute auf Wärmepumpen umsteigen oder Unternehmen sich einen eigenen Elektrolyseur zulegen, um grünen Wasserstoff herzustellen. Dafür braucht man dann eben nur zwei weitere Dinge: Strom und Wasser.

Egal aber, ob nun die Elektronen oder die Moleküle den Markt dominieren werden: Die entscheidende Voraussetzung für die schöne neue Energiewelt ist die Verfügbarkeit von riesigen Mengen billigen grünen Stroms. Das ist die Grundlage aller Träume von einer klimaneutralen Wirtschaft und der entscheidende Machtfaktor im künftigen Energiesystem. Wer über genügend grüne Energie disponiert, übt die Macht aus. Grüner Strom, vor allem der aus Sonne und Wind, ist der Herrscher in der neuen Energiewelt – und zwar international.

Die Branche hat auch dies erkannt: Auf der Tagung in Cottbus absolvierte Kirsten Westphal, eine der renommiertesten Energieexpert:innen Deutschlands, ihren ersten Auftritt als neu berufenes Mitglied der Hauptgeschäftsführung des mächtigen BDEW. Die Politologin hatte sich zuvor in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit globaler Energiepolitik befasst. Warum sich ein deutscher Branchenverband eine Energieaußenpolitikerin in die Chefetage holt, stellte Westphal in ihrer Rede klar. Das Energiesystem werde das Fundament für die allseits zitierte Zeitenwende bereitstellen müssen, sagte sie. Diese Wende könne man eben nicht nur militärisch und sicherheitspolitisch denken, sondern auch energiepolitisch: »Wir erleben gerade die erste globale Energiekrise mit Europa im Zentrum«, betonte Westphal weiter. Russland sei der größte Exporteur von Energie weltweit gewesen – nun werde die Welt neu geordnet. Künftig gehe es, führte sie weiter aus, um die Kontrolle von Lieferketten, von Waren, Rohstoffen und Informationen, aber auch von Elektronen und Molekülen sowie um die Kontrolle der »Knotenpunkte«, wo diese Dinge gehandelt und ausgetauscht würden. »Sicherheit der Energieversorgung und Resilienz sind Grundvoraussetzungen für strategische Handlungsfähigkeit und Souveränität«, betonte die Politologin.

Sicherheit bedeutet für Deutschland künftig vor allem auch: sichere Importe von grüner Energie. Nur am unteren Rand der Endenergie-Prognosen, wenn Deutschland möglicherweise mit 1.000 Terawattstunden zurechtkommt, ist so etwas wie eine grüne Selbstversorgung des Landes möglich.

Andere Voraussagen, insbesondere der Molekülwirtschaft, gehen realistischerweise davon aus, dass Deutschland bis zu 80 Prozent der grünen Brennstoffe wie Wasserstoff, Ammoniak und E-Fuels künftig importieren muss – und bei Wasserstoff ist wiederum der Pipeline-Transport bis zu einer Entfernung von gut 3.000 Kilometern effizienter als ein Schiffstransport. Westphal plädierte bei der BDEW-Konferenz entsprechend dafür, die Resilienz über die nationalen Grenzen hinauszudenken, in Energieräumen zu denken. Für die ehemalige Wissenschaftlerin keine neue Idee. Als SWP-Expertin hatte sie maßgeblich an einer Studie mitgearbeitet, die sich mit der »Geopolitik des Stroms« befasst und im September 2021 veröffentlicht wurde. Obwohl Stromnetze Räume konstituierten, werde die geopolitische Bedeutung von Strom unterschätzt, heißt es in der Studie. Netze etablierten neue Einflusskanäle und Machtsphären in politischen Gemeinwesen und über diese hinaus. Dabei erweise sich, schreiben die Autor:innen weiter, die Zugehörigkeit zum europäischen Netzverbund als attraktiv, denn synchrone Netze seien »Schicksalsgemeinschaften«, in denen Sicherheit und Wohlfahrt geteilt würden. In der Studie wird die Forderung vertreten, Deutschland und die EU müssten eine Strom-Außenpolitik entwickeln, um das europäische Stromnetz zu optimieren und zu modernisieren, zu verstärken und zu erweitern.

Da fließt dann nach Ansicht der Studienautor:innen nicht nur Strom hin und her, sondern das europäische Kontinentalnetz bilde ein hoch integriertes und attraktives Zentrum. Die Zugehörigkeit zu diesem Netz binde Nachbarländer an die EU und verbinde sie mit ihr, heißt es. In diesem Licht erscheint beispielsweise die Integration der Ukraine in den westeuropäischen Stromverbund keinen Monat nach Beginn des russischen Krieges nicht nur als Maßnahme, um das Stromnetz der Ukraine zu stabilisieren – hier geht es offenbar auch längerfristig um die Bildung einer »Schicksalsgemeinschaft«. Große Flächenländer wie die Ukraine bieten beispielsweise gute Möglichkeiten, in großen Mengen billige grüne Energie zu erzeugen – und zu exportieren, sei es als Strom oder als Wasserstoff oder andere grüne Derivate. Solche Projekte liegen längst schon in den Schubladen der deutschen Energiebranche. Vordergründig bietet ein möglichst großer, viele Länder übergreifender Stromverbund auch ganz praktische Vorteile – zum Beispiel den, dass die Sonne aufgrund der Vielzahl von Zeitzonen länger scheint und auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass irgendwo immer der Wind weht.

Ein klimaneutrales und klimaresilientes Energiesystem muss offenbar beides vereinen: möglichst dezentral und möglichst kontinentweit aufgestellt zu sein. Erst beides zusammen wird einen neuen Herrscher in der Energiewelt ergeben.

Jörg Staude gehört zum Team des unabhängigen Online-Magazins www.klimareporter.de – ein Projekt des gemeinnützigen Vereins »Klimawissen e. V.«

Geschrieben von:

Jörg Staude

Journalist

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