Wirtschaft
anders denken.

Die Notwendigkeit der direkten Demokratie

01.03.2023
Sitze eines Parlaments in einer Demokratie von oben.Foto: Joakim Honkasalo Demokratie gleich Parlament?

Die direkte Demokratie ist der entscheidende Weg der Auflösung des Kapitalismus. Wie kann sie umgesetzt werden? Kommentar von Alfred Müller.

Die parlamentarischen Demokratien stehen vor großen Herausforderungen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schienen. Der Erfolg populistischer Kräfte, die gestiegene Polarisierung in Politik und Gesellschaft, das Gefühl einer Nichtvertretung durch „die Politik“ und die neue Anziehungskraft direktdemokratischer Systeme führen dazu, dass die parlamentarische Demokratie zunehmend in die Kritik gerät.

Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von der Politik nicht mehr vertreten. Sie wollen mehr mitreden und mitentscheiden.

Diese Kritik ist keineswegs neu. Sie kann aber auch nicht länger ignoriert werden, denn ohne Zweifel gilt: Die parlamentarische Demokratie hat nicht viel mit Demokratie zu tun. Sie ist eine Scheindemokratie, eine Demokratie der wenigen Herrschenden. Die Mehrheit der Bevölkerung hat in ihr nur eine passive Rolle und reagiert nur auf Signale, die man ihr gibt.1

Die erheblichen Mängel der parlamentarischen Demokratie dürfen in der Diskussion über eine Reform der Demokratie nicht in Vergessenheit geraten. Ohne politische Partizipation und Entscheidungsbeteiligung der Bevölkerung kann eine Demokratie im Sinne der Volksherrschaft nicht funktionieren. In der wirklichen Demokratie bestimmen nicht, wie im Parlamentarismus, Wenige über alle anderen, sondern die Menschen entscheiden gemeinsam über die Regeln, nach denen sie leben wollen. Wenn wir eine Demokratie des Volkes haben und die vielfältigen Probleme gemeinsam lösen wollen, ist es unsere zentrale Aufgabe, die direkte Demokratie umfassend einzuführen, auszubauen und zu stärken.2

Mit ihrer breiten Bürgerbeteiligung ist die direkte Demokratie der Garant einer freiheitlichen Gesellschaft, die unterschiedliche Sichtweisen aus der Bevölkerung aufnimmt und daraus Kompromisse formt. Parlamentarische Demokratiemodelle, die vermeintlich dem Volkswillen folgen, sind hingegen keine Antwort auf bestehende Defizite. Daher bedarf es einer kritischen Analyse und neuer Antworten auf die Frage, wie eine direkte Demokratie eingerichtet, verallgemeinert und zukunftsfest gemacht werden kann.

Dabei scheint es um die parlamentarische Demokratie in Deutschland auf den ersten Blick gar nicht so schlecht bestellt zu sein. Die Wahlbeteiligung ist auch bei den jüngsten Wahlen spürbar gestiegen.  Doch die Kritiker und Gegner der parlamentarischen Demokratie gewinnen an Einfluss. Unter der Oberfläche ist ein tiefer gehender Wandel von Bürgerbewußtsein zu beobachten.3

Die Bürgerinnen und Bürger möchten aus ihrer Politikenttäuschung und ihrem Ohnmachtsgefühl gegenüber den Vorgängen in der kapitalistischen Welt und aus ihrer schweigenden Rolle herauskommen. Sie möchten aktiv mitgestalten und mitentscheiden darüber, wie die Ausbeutung abgeschafft, die Armut abgebaut, die Erderwärmung gesenkt, die Ungerechtigkeit behoben und die Macht des Kapitals beseitigt werden kann. Das übliche parlamentarische Verfahren politischer Entscheidungsfindung reicht den Bürgern nicht mehr aus. Parteien und Parlamente sind zwar weiterhin die zentralen Orte, an denen politische Debatten geführt und zusammengeführt werden. Allerdings wächst das Misstrauen gegenüber der Eigenschaft von Parlamenten, die Menschen ausreichend zu repräsentieren.

Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von den Regierungen und Parlamenten bevormundet und entmündigt. Nur alle paar Jahre an den Wahlen teilzunehmen und ein Kreuzchen zu machen, reicht ihnen nicht mehr aus. Schon Tucholsky sagte: Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten.

Die Bürger können zwar ihre Interessen heute sehr direkt, sehr schnell und sehr aktuell in den öffentlichen Raum einbringen, sei es in Form von Arbeitskreisen, Bürgerinitiativen oder Demonstrationen. Das ist gut so. Hiermit wird aus der vorhandenen Passivität konkrete politische Aktivität. Aber es sind nur spontane Initiativen. Sie kommen und gehen. Ihnen fehlen eine dauerhafte und integrierende Plattform und eine systemüberwindende Perspektive.Was ist zu tun?

Auf kommunaler Ebene

Wir brauchen vor Ort öffentliche Einrichtungen für Debatten und Entscheidungen. Die Gesellschaft muss Räume finden, an denen unterschiedliche Meinungen diskutiert und ausgetauscht werden können; an denen Menschen ihre Fähigkeiten einbringen, über Politik sprechen und entscheiden können, wie die vielfältigen Probleme gelöst werden sollen.

Um dies zu erreichen, sind in Städten und Gemeinden Bürgerversammlungen einzurichten. Hier treffen sich die Bürgerinnen und Bürger, bilden sich zu wichtigen politischen und örtlichen Themen und Problemen eine Meinung und leiten diese zur verbindlichen Übernahme an die verantwortlichen Gremien (wie Orts-, Stadt-, Kreis-rat) weiter. So werden im Laufe der Zeit die kommunalen Entscheidungsbefugnisse schrittweise von der Minderheit an die Mehrheit übertragen.

Es geht darum, den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Wo immer gute, attraktive Räume entstehen, in denen Menschen interagieren und mitentscheiden können, zieht es sie an und sie fühlen sich wohl. Bürgerversammlungen schaffen eine politische Kultur, die von Transparenz, Respekt, Verständnis und Verantwortung geprägt ist. Dadurch werden die Kommunen lebendiger, lebenswerter und die großen Aufgaben können, wie die klimagerechte nachhaltige Kommune, von allen gemeinsam bewältigt werden. Langfristig ist eine direktdemokratische kommunale Verfassung zu entwickeln, in der die kommunalen Partzipationsmöglichkeiten und basisdemokratischen Organisationsformen der Bevölkerung festgehalten werden. Aus der Sicht der Direktdemokratie gilt das kommunale Subsidaritätsprinzip. Übergeordnete Einheiten haben nur solche Aufgaben zu übernehmen, die von den unteren nicht bewältigt werden können.

Auf wirtschaftlicher Ebene

Die kommunale Direktdemokratisierung muss gleichzeitig in den Unternehmen mit der Einführung der Arbeiterselbstverwaltung erfolgen. In den Unternehmen sind die kapitalistischen Machthierarchien umzukehren und vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nicht die Eigentümer, die Vorstände und die Aktionärsversammlungen, sondern die Betriebsversammlungen fällen in direktdemokratischen Unternehmen die Hauptentscheidungen. Sie bestimmen die Leitung und die entscheidenden W-Fragen (Was – Wie – Wo – Wann – Woher und Wer) jedes Unternehmens. Der Weg dorthin führt über die Ausdehnung der Entscheidungsgewalt der Arbeiterversammlungen, wodurch die Mitbestimmung zur Selbstbestimmung wird.
Die direkte Demokratie beginnt und endet nicht in den Unternehmen. Sie umfasst ebenfalls die Verflechtung zwischen den Unternehmen und zwischen den Unternehmen und den Konsumenten und damit die gesamtwirtschaftliche Koordination. Diese Koordination übernehmen gesellschaftliche Räte, die auf lokaler, landes- ,bundes- und europaweiter Ebene aufzubauen sind und die schrittweise in einer umfassenden gesellschaftlichen Räteorganisation die nachhaltige Wirtschaftsstruktur und -entwicklung festlegen. Es war die Schwäche der deutschen Rätedemokratie 1918/1919, dass sie wesentliche Organisationsgrundsätze, wie die Abstimmung von Legislative, Exekutive und Judikative, die vertikale Gewaltentrennung und die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Räteebenen, nicht geklärt hatte und so ein Rätesystem mit vielen Mängeln präsentierte.4 Diese Defizite sind in der Zukunft zu beheben.

Auf der institutionellen Ebene

Die Direktdemokratie hat in den Kitas zu beginnen. Sie setzt sich in den Schulen und Hochschulen fort, umfasst die militärischen Einheiten, den öffentlichen Dienst, die Medien und endet in den Pflegeheimen. Wer den Kapitalismus überwinden will, kommt nicht umhin, schon von klein an und in allen gesellschaftlichen Einrichtungen direktdemokratische Verhältnisse einzuführen. Demokratie ist ein Lernprozess. Sie ist nicht angeboren und muss schon in der Kindheit durch demokratisches Handeln erlernt werden.5 Da die Medien und die militärischen Einheiten Herrschaftsinstrumente des Kapitals darstellen, sind sie in den Demokratisierungsprozess einzubeziehen und so der Herrschaftsgewalt des Kapitals zu entziehen.

Diktatur des Proletariats als Herrschaft der Bevölkerungsmehrheit

Der Prozess der direkten Demokratisierung ist ein Prozess der zunehmenden Teilhabe der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen. In diesem Partizipationsprozess erwerben die Menschen demokratische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine selbstbestimmte und menschenwürdige Gesellschaft unerlässlich sind. Gleichzeitig überwinden die Lohnabhängigen und ihre Angehörigen mit der Teilhabe an den Entscheidungsprozessen ihre kapitalistische Unterwürfigkeit, befreien sich von den vielfältigen Krisen der kapitalistischen Marktwirtschaft und entwickeln sich zu selbstbewussten Individuen.

Die direkte Demokratie ist die Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Sie ist der entscheidende Weg der Kapitalismusauflösung.  Mit ihrer Realisierung wird die Kapitalherrschaft, die Herrschaft der Minderheit, in eine Herrschaft der Bevölkerungsmehrheit umgewandelt. Engels und Marx nannten diese Herrschaft: die Diktatur des Proletariats.6 Erst auf dieser Grundlage können die elementaren wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme gelöst und ein friedliches, umweltfreundliches, solidarisches und selbstbestimmtes Leben hergestellt werden.

Literatur

  1. Vgl. Crouch, Colin (2022): Postdemokratie revisited, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
  2. Vgl. Müller, Alfred (2019): Eine Wirtschaft, die tötet. Über den Kapitalismus, seine Überwindung und die Zeit danach, PapyRossa Verlag Köln, S. 190ff
  3. Vgl. Roth, Roland (2011): Bürgermacht. Eine Streifschrift für mehr Partizipation, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn
  4. Vgl. Arnold, Volker (1978): Rätetheorien in der Novemberrevolution. Eine systematisch ideengeschichtliche Darstellung und Analyse der unterschiedlichen Rätekonzeptionen, SOAK – Verlag Hannover, S.178ff
  5. Vgl. R.Hansen/R.Knauer/B.Sturzenhecker (2011): Partizipation in Kindertageseinricthungen. So gelingt Demokratisierung mit Kindern!, Bundeszentrale für politischen Bildung Bonn
  6. Vgl. Marx/Engels: MEW 7/32, MEW 17/433, MEW  22/199
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