Wirtschaft
anders denken.

Die Outsider, die Gewerkschaften, die Betriebsräte: Zur Interessenvertretung atypisch Beschäftigter

28.08.2018
Mathias Bigge , Lizenz: CC BY-SA 3.0

Fast 8 Millionen Menschen sind hierzulande atypisch beschäftigt – als Minijobber, Teilzeitler, Leiharbeiter. Ihre Interessen sind bisher nur sehr unzureichend vertreten, lautet das Ergebnis einer aktuellen Studie. Ein Problem: Gewerkschaften vertreten immer noch vorrangig die Interessen der Insider – der Kernbelegschaften.

Die Zahl der atypisch Beschäftigten ist 2017 abermals angestiegen und liegt nun bei rund 7,7 Millionen. Die Zahl ist leider keine Überraschung, ein beträchtlicher Teil der »guten Lage auf dem Arbeitsmarkt« hat auch mit der Zunahme von Leiharbeit, befristeten Jobs, Werkvertragsbeschäftigten oder Minijobbern zu tun. Frauen sind weit häufiger darunter als Männer. Dass der prozentuale Anteil der atypisch Beschäftigten an allen Erwerbstätigen nahezu unverändert blieb, hängt mit der insgesamt gestiegenen Gesamtzahl zusammen.

»Die negativen Folgen und Auswirkungen, die diese Beschäftigungsform mit sich bringt, sind zweifellos unbestreitbar und bekannt«, weiß die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung – und hat eine Studie des Arbeits- und Sozialpolitikexperten Berndt Keller veröffentlicht, die sich mit dem Zustand der Interessenvertretung atypisch Beschäftigter befasst. Sein Befund im Kern: Ihre Interessen sind bisher nur unzureichend vertreten, Gewerkschaften und Betriebsräte nutzen schon existierende Handlungsspielräume zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen atypisch Beschäftigter nicht konsequent und es fehlt an politischen Instrumenten, die dabei helfen könnten. 

»Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben Gewerkschaften und Betriebsräte auf Umfang, Entwicklung und Struktur atypischer Beschäftigung? Welche Rolle wird diesen Beschäftigungsformen in Arbeitnehmervertretungen zugesprochen? Was können sie tun, damit die Gruppe atypisch Beschäftigter zukünftig besser vertreten ist?«, so fasst die Otto-Brenner-Stiftung die Fragen zusammen, die der Studie vorausgingen. »Der Einfluss der Interessenvertretungen als wichtige ›Rahmenbedingung‹ des Arbeitsmarktes steht im Mittelpunkt unserer Übersicht«, so formuliert es Keller – der darauf verweist, dass es zu dieser Thematik bisher nur sehr unzureichende Literatur für die Bundesrepublik gibt.

Keller verweist unter anderem auf das »Dilemma exklusiver versus inklusiver Solidarität«, das in Betriebsräten wie Gewerkschaften herrscht: Einerseits gibt es den gesellschaftspolitischen Anspruch, »die Interessenvertretung aller Arbeitnehmer, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in Gewerkschaften und unter Einschluss der atypisch Beschäftigten sowie der Arbeitslosen« zu sein, de facto gelte jedoch, dass sich die Industriegewerkschaften »betriebs- und tarifpolitisch auf gut qualifizierte Beschäftigte« konzentrierten, ver.di mache darüber hinaus auch Politik für prekär Beschäftigte. Der Konflikt zwischen einer Interessenvertretung, die sich um Kernbelegschaften kümmert, und den bisweilen mit diesen konkurrierenden Belangen von Leiharbeitern, Werkvertraglern etc., prägt die tarif- und betriebspolitische Lage recht deutlich – die atypisch Beschäftigten fallen dabei oft hinten herunter.

Worauf Kellers Studie verweist: Das müsste nicht so sein. »Die gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretungen haben den in den vergangenen Jahrzehnten eingetretenen deutlichen Wandel der Beschäftigungsformen nicht initiiert, müssen aber mit seinen erheblichen Folgen umgehen, die weit über den Arbeitsmarkt hinaus bis zur Zunahme sozialer Ungleichheit reichen«, schreibt er. Dabei gebe es aber durchaus Spielräume und Instrumente, »allerdings ist eine notwendige Voraussetzung, dass sie zur Verfügung stehende Maßnahmen auch ergreifen – was empirisch eher selten der Fall ist«. Hinzu kommt, dass atypisch Beschäftigte zu größeren Teilen in Sektoren arbeiten, in denen es weniger Betriebsräte gibt, die Tarifbindung gering ist und der gewerkschaftliche Organisationsgrad unterdurchschnittlich.

Dennoch können Gewerkschaften die individuellen Arbeitsbedingungen, vor allem die Entgelte, atypisch Beschäftigter beeinflussen – etwa indem sie Tarifverträge über Branchenmindestlöhne abschließen. Keller nennt weitere Hebel, etwa die Möglichkeit, Höchstgrenzen zu vereinbaren oder gesellschaftspolitisch Druck zu machen. Betriebsräte können die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften und tariflicher Vereinbarungen kontrollieren oder Betriebsvereinbarungen anpeilen, die den Status von Leiharbeitern und anderer verbessern. 

Warum passiert das dann eher selten? Keller ist hier mit Antworten vorsichtig, eine verweist auf die Tatsache, dass Betriebsräte taktisch agieren könnten, also Ziele verfolgen, die für die Beschäftigten mit höherer Wahlbeteiligung relevanter sind – die Kernbelegschaften. Keller will auch Überspitzungen in Richtung »union bashing und/oder Larmoyanz« vermeiden, skizziert aber abschließend zwei Interpretationen seiner Untersuchung.

Die eher »gewerkschaftsfreundliche« laufe daraus hinaus, dass Beschäftigtenvertretungen heute »im Gegensatz zu früheren Zeiten« durchaus versuchten, »die weitere Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse und die mit diesen verbundenen Prekaritätsrisiken zu verhindern oder zumindest zu begrenzen«. Hier stelle sich aber die Frage, »ob frühere Interventionen – in Zeiten mit geringerer Verbreitung dieser Formen – nicht eher Aussicht auf Erfolg gehabt hätten«, Keller stellt zur Diskussion, dass hier möglicherweise ein günstiges Gelegenheitsfenster verpasst wurde. 

Die andere »Interpretation der empirischen Befunde« lautet: »Gewerkschaften vertreten nach wie vor vorrangig die Interessen der ›Insider‹. Die atypisch Beschäftigten gehören in ihrer überwiegenden Mehrzahl zu den ›Outsidern‹ bzw. allenfalls, vor allem als befristet Beschäftigte, zu den ›Entrants‹ und werden deswegen nicht gehört«.

Wie käme man auf ein anderes Gleis? Keller ist skeptisch, »die deutlichen Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene lassen sich durch Theorien unterschiedlicher Provenienz und Reichweite erklären, aber in der Praxis kaum schließen. Die Handlungsoptionen verbessern würde eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen der Betriebsratsarbeit«, doch auch hier sieht der Konstanzer Emeritus weitere Probleme: »Selbst bei Durchsetzung dieser Forderungen bliebe das quantitativ erhebliche Problem betriebsratsloser Betriebe ungelöst.« Eine grundlegende Alternative lasse sich nur politisch realisieren – etwa durch verpflichtende Interessenvertretung »wie sie im öffentlichen Dienst sowie bei der Unternehmensmitbestimmung besteht«, davon »würden atypische Beschäftigte häufiger profitieren«. Hier wieder sind die politischen Hürden hoch, aktuell stehen Mehrheiten für eine solche Politik in den Sternen.

Und so bleibt unter dem Strich laut Keller vor allem eins: Um uns selber müssen wir uns selber kümmern. Gründungen von Betriebsräten, Aufbau von Vertretungsstrukturen, Unterstützung durch Branchengewerkschaften – was auf Seiten der Gewerkschaften heißen würde: »Einsatz umfangreicher Ressourcen, die Erhöhung der geringen Konfliktbereitschaft der Betroffenen und die Überwindung des (mehr oder weniger heftigen) Widerstands der Arbeitgeber«. 

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