Wirtschaft
anders denken.

Kapital und Arbeit, die SPD und die Sache mit der »Erneuerung«

22.04.2018
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Andrea Nahles oder Simone Lange? Man sollte das nicht für die wichtigste Frage der SPD halten. Die liegt woanders – und die Sozialdemokraten haben selbst die Spur dorthin gelegt. Aber hat die Partei das überhaupt bemerkt?

Die SPD wählt erstmals eine Vorsitzende und die Geschichte, die man kurz vor dem Parteitag in Wiesbaden darüber lesen kann, geht ungefähr so: »Parteikreise« erwarten, dass Andrea Nahles »mindestens 75 Prozent erreicht«, ihre Kontrahentin Simone Lange habe zuletzt mit ihren Positionen »im Parteivorstand nicht überzeugen« können. Dass es eine »Kampfkandidatur« gibt, wie hierzulande gern genannt wird, wenn demokratische Auswahl möglich ist, sei aber natürlich eine gute Sache, nicht so gut aber offenbar, dass man Lange ein bisschen bei ihrem Wahlkampf hätte helfen wollen. 

Aus dem Lager von Nahles wird im Gegenzug darauf verwiesen, dass dies nicht stimme und die Flensburger Oberbürgermeisterin nichts gegen Ausfälle unternommen hätte, die Teile der Basis aus Unmut über die SPD-Spitze formuliert hatten. »Sie versuche einen Konflikt unter dem Motto ›die da oben, wir da unten‹ zu inszenieren«, kolportiert eine Zeitung aus denselben Parteikreisen, die auch von einem 75-Prozent-Ergebnis ausgehen, worin nicht zuletzt die Botschaft steckt: eine Stimme für Lange ist verschenkt. 

Dass Lange kurz vor dem Wiesbadener Delegiertentreffen noch einmal eine »180-Grad-Kehrtwende« bei den Agenda-Reformen und Hartz IV zum Ziel ausgab, entspricht zwar einem durchaus verbreiteten Bedürfnis in der sozialdemokratischen Basis, stößt allerdings an eine Art Mauer: die SPD hat ja einen Erneuerungsprozess eingeleitet, da komme auch das Thema Sozialpolitik auf den Tisch, am Ende soll es sogar ein neues Parteiprogramm geben. 

»Was will die SPD eigentlich?«

Hinzu kommt, dass Kevin Kühnert, der talentierte Jusochef, der in manchem Beobachterkopf schon zu einer Hoffnungsfigur enormer Größe gewachsen war, selbst seine Stimme für Nahles geben will, wurde von links der SPD bisweilen hämisch kommentiert und von konservativen Sozialdemokraten ebenso hämisch eingemeindet: Kühnert sei eben »einer von uns«. Auch der zur SPD-Linken gerechnete Ralf Stegner setzt auf Nahles, sie bringe »alles mit, um im Führungsteam der SPD die Partei wieder zum Erfolg zu führen: Kompetenz und Erfahrung, sozialdemokratische Ideen, Power und Leidenschaft«. 

Hier taucht das Wort »Ideen« auf, und das führt direkt zu einer guten Frage, welche die »Frankfurter Allgemeine« so formuliert: »Was will die SPD eigentlich?« Es sei kaum klar, wohin sich die Sozialdemokraten »in der Wirtschafts- und Sozialpolitik während der kommenden vier Jahre« orientieren werden. Es läuft zwar eine Debatte über das Hartz-System, die aber über einen umstrittenen ABM-Versuch und Umbenennungsgedanken nicht groß hinauskommt. Was europäische Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik angeht, hat die SPD das Feld der Union überlassen, die tatkräftig versucht, Emmanuel Macrons Vorstöße zu Änderungen auszubremsen. Der neue Finanzminister macht die alte Politik. 

Also: »Was will die SPD eigentlich?« Im Leitantrag der Vorstandes an das Wiesbadener Delegiertentreffen ist neben viel Wortgeklingel unter anderem zu lesen, »im Zentrum unserer Debatte muss der noch immer – und mittlerweile wieder stärker – bestehende Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit stehen«. Dieser zeige sich »insbesondere durch die zunehmende Ungleichverteilung des Wohlstands«. Das wäre freilich erst einmal nur eines der Resultate eines Gegensatzes, aber noch nicht dessen Substanz: die privatkapitalistische Aneignung des gesellschaftlich erarbeiteten Produkts, das also, »aus dem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt«, wie das ein gewisser Friedrich Engels mal formuliert hat. 

»Nicht reinen Profitinteressen dienen«?

Die Frage taucht in dieser Form im Leitantrag nicht weiter auf, immerhin gibt es einen eigenen Abschnitt über »Wachstum, Wohlstand und Wertschöpfung im 21. Jahrhundert«. Hier nun macht sich die SPD ein »inklusives Wachstum« zum Ziel, das »nicht reinen Profitinteressen dienen« dürfe. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit soll eingehegt und überbrückt werden – durch öffentliche Investitionen, durch Regulierung. Zudem soll »eine gerechtere Finanzierung der staatlichen Aufgaben« die »Korrektur der sozialen Ungleichheiten« ermöglichen. Weshalb »Einkommen, Vermögen und Erbschaften angemessen« besteuert werden wollen. 

Erst nach der Sekundärverteilung taucht im Leitantrag die  Primärverteilung auf, die SPD will »neue Instrumente« suchen, die Einkommen aus Lohnarbeit »gerechter zu gestalten«. Da ist er wieder, der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, man darf auf die »sozialdemokratischen Ideen« gespannt sein, mit denen hier mehr Gerechtigkeit geschaffen werden könnte. Zumal es an anderer Stelle heißt, man wolle auf europäischer Ebene eine neue wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung anstreben, »damit Europa seine vollen Wachstumspotenziale entfalten kann, denn davon profitiert auch die deutsche Wirtschaft«. 

Das marktsozialdemokratische Denken, das den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufgelöst hat zugunsten einer Theorie, laut der bei ausreichender Förderung der Interessen von Unternehmen genug übrigbleibt, damit Löhne steigen und auch etwas politisch umzuverteilen sein könnte, ist also immer noch lebendig. Was man in Ansätzen in dem Leitantrag finden kann, ist eine kleine Weiterentwicklung aber kein Bruch mit diesem Denken.

Wer produziert, wer schafft Werte?

Über Regulierung will die SPD »die belohnen und fördern, die in saubere und moderne Arbeits- und Produktionsmittel investieren, die forschen und entwickeln, die ein Risiko eingehen, um gesellschaftlich sinnvolle Investitionen zu fördern, die gut bezahlte und abgesicherte Arbeitsplätze schaffen und soziale Standards wahren wollen. Nicht die, die aus reinem Selbstzweck Gewinne abschöpfen, sondern die, die produzieren und Werte schaffen, wollen wir fördern.« 

Aus dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist hier einer zwischen gutem und schlechtem Kapital geworden – und ein Ausweis, wie es um das ökonomische Denken der SPD bestellt ist. Natürlich mag es sinnvoll sein, darüber nachzudenken, bestimmte Geschäftsmodelle, Produktlinien, Dienstleistungen zu bevorzugen und dabei soziale und ökologische Maßstäbe zu beachten. 

Den Gegensatz zwischen privater Aneignung und gesellschaftlicher Produktion wird man damit aber so wenig aufheben können, wie es kein Kapital gibt, das produziert und Werte schafft – das nämlich tut die Arbeit, was mit dem zentralen Gegensatz zu tun hat der bei der SPD ja nun wieder »im Zentrum unserer Debatte« stehen soll, weil er »mittlerweile wieder stärker« geworden sei.

Die ökonomische Debatte neu ausrichten

Zum Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit hat man vor dem Parteitag weder von Nahles noch von Lange viel gehört, für die wahrscheinlich kommende Vorsitzende spricht, dass sie schon zu ihrer Zeit als Arbeitsministerin ein paar Anläufe unternommen hat, die Primärverteilung wieder politisch zum Thema zu machen, als dieses Wort noch gar nicht aus dem SPD-Geschichtsschrank wieder herausgeholt worden war. 

Dass man damit nun wieder hantiert, könnte helfen, die ökonomische Debatte in der Sozialdemokratie doch wieder auf ein paar grundlegende Fragen auszurichten. Ist das wahrscheinlich? Nun, es ist eine seltsame Mode, wenn von links immerzu gerufen wird, die SPD solle doch bitte dies und jenes ändern, und wenn es dann ein kleinstes Anzeichen dazu gibt, sogleich zu rufen, dies sei weder ernst gemeint noch könne es überhaupt sowas wie eine sozialdemokratische Erneuerung geben. 

Ok, ok: Eine Antragszeile mit den Worten »Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit« macht noch keinen Frühling. Wenn die SPD allerdings wirklich so etwas wie eine Wende hinbekommen will, liegt hier ein Schlüssel: »Demokratische Wirtschaftspolitik macht sich die Entwicklungsbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung zu eigen. Dies bedeutet gegenwärtig vor allem, für die Durchsetzung für die Durchsetzung des Rechts auf Arbeit für alle, für die Humanisierung des Arbeitslebens und die Sicherung einer angemessenen Reproduktion sowie für die Herstellung ökologisch vertretbarer Lebensverhältnisse aktiv zu werden«, hat Rudolf Hickel Anfang der 1980er Jahre einmal in einer Debatte über Spielräume und Grenzen einer anderen Wirtschaftspolitik formuliert. 

Objekt normativ orientierter Transformationen

Man wusste damals auch: »Unter kapitalistischen Systembedingungen« würden diese Ziele »systematisch verfehlt«. Ein Argument gegen eine Politik, der es darum geht, das Feld der Profitlogik zu Gunsten der gesellschaftlichen Interessen auch unter kapitalistischen Bedingungen wirksam einzuhegen, ist das nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man offen auch die Begrenztheit und die dabei auftretenden Widersprüche politisiert. 

Hans-Jürgen Urban hat den Gewerkschaften unlängst empfohlen, sich einmal bei Marx erkundigen, was es mit der Besonderheit der Ware Arbeitskraft auf sich hat: »Sie vermag ein höheres Wertprodukt zu erzeugen, als ihre Reproduktion kostet. Und dieses Mehrprodukt eignet sich der Kapitalist, getrieben durch das Zwangsgesetz der Konkurrenz, an, um es immerfort als Kapital zu akkumulieren.« 

Der Rat gilt für die Sozialdemokratie ebenso, und man könnte sie mit Blick auf den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ein bisschen zuspitzen. Noch einmal Urban: »Die Interessen von Kapital und Arbeit materialisieren sich in der kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung. Diese Struktur stellt eine Dynamik auf Dauer, die den Reproduktionsinteressen der Arbeit (sowie der Gesellschaft und Natur) entgegensteht und erzielte Erfolge stets zum Gegenstand neuer Kämpfe werden lässt. Sollen die Ideen von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und Humanität nicht an dieser Struktur zerschellen, muss sie selbst früher oder später zum Objekt normativ orientierter Transformationen werden.«

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