Wirtschaft
anders denken.

Die Tagebücher eines Ungehorsamen

09.03.2017
Wald, Blick auf See durch BaeumeFoto: Miguel Vieira / Flickr CC-BY 2.0 LizenzDie Gedanken sind frei

Henry David Thoreau (1817-1862) lebte zurückgezogen und schrieb Tagebuch über seine Beobachtungen. Man kann seine Texte als Kritik an der modernen Zivilisation lesen. Eine Empfehlung des Buchladens Amarcord in Berlin.

Schwer zu glauben, dass jemand die Natur so lieben kann. So sehr, dass er in sie eintaucht und sie zu seiner eigenen macht. Als ob es sich um den edlen Wilden von Rosseau handelte, der von der Natur umgeben aufwächst, sich mit ihr verbindet, und darin auflöst. Ein solches Leben ist es, von dem Henry David Thoreau (1817-1862) in seinen Tagebüchern, die den Zeitraum von 1837 bis 1861 umfassen, erzählt.

Matthes & Seitz

Nachdem er im Alter von 20 Jahren von seinem Studium in Havard an seinen Geburtsort, in eine kleine Stadt in Massachussets zurückkehrt, taucht Thoreau in die Welt des Tagebuchschreibens ein. In Concord bezieht er eine selbstgebaute Blockhütte im Wald und füllt unter Eulenrufen und der Raserei der Eichhörnchen 14 Hefte mit fast 7.000 Seiten. Thoreau spricht über Wälder, über Seen und Bäche, Bäume und Tiere. Im Ton gerät das Tagebuch zu einer Enzyklopädie der Farben und Formen, Sonnenaufgänge und Mondphasen, des Geschmacks der Beeren, aller Arten Vögel und auch der beim Landvolk beliebten Lieder.

Wenn der poetische Bann uns auf der einen Seite auf eine Weise in die Erzählung zieht, die unsere Phantasie deutlich das Knistern der trockenen Blätter unter den Füßen spüren lässt, oder das Murmeln des fließenden Baches, so wird die lyrische Verzückung durch die Natur auf der anderen Seite von einer Kritik an der modernen Zivilisation und dem Übel der Industrialisierung begleitet, von einem Denken, das die fortschrittskritischen Thesen vorwegnimmt, die später von Autoren wie Lewis Manford, Günter Anders, Jacques Ellul oder Ivan Illich ausgesprochen werden.

Inmitten seines Vergnügens an der Schönheit und der Einfachheit des Alltäglichen, gelingt dem Essayisten, brennende Fragen zu berühren. Wenn wir das Lesen für einen Moment der Reflektion in der heutigen Welt unterbrechen, werden wir vom Widerspruch überfallen, den die gegenwärtige, vom Autor vorausgeahnte Realität der Hyper-Industrialisierung bildet. Wir vergegenwärtigen den Widerspruch, den die Verwässerung der Demokratie (wohlgemerkt der repräsentativen) zu einer bloßen, immer mehr ausgefeilten und verfestigten Herrschaft bedeutet (Jorge Luis Borges sagte, die Demokratie sei ein »weit verbreiteter Aberglaube, ein Missbrauch der Statistik«).

Auf diesem Flug begegnen wir auch dem philosophischen Beobachter, der das Sklaventum und die Zerstörung der Welt verurteilt, einem Literaturschaffenden, der sich den individuellen und den Menschenrechten verpflichtet hat. Und wenn wir bei dem Bild des Fliegens bleiben, wachsen uns Flügel und wir sehen auf der anderen Seite der Erde – nicht mehr in den Wäldern von Concord, sondern in den Wäldern und Seen von Yasnaya Polyana – Tolstoi, der das Sklaventum verurteilte, das sich dort Leibeigenschaft nannte, und der ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur predigte. Durch diese Gemeinsamkeiten wurden beide Autoren zu Bezugsfiguren für Gandhi oder Martin Luther King und zu Vorläufern des Tiefenökologismus, die bis heute die Avantgarde der Degrowth-Bewegungen beeinflussen.

Als grundlegender Autor des modernen Denkens, ob in der Philosophie, der Politik oder der Ökologie, ging Thoreau als Theoretiker des zivilen Ungehorsams in die Geschichte ein. Nicht zufällig betrachtete Hannah Arendt den zivilen Ungehorsam als einen wesentlichen Bestandteil des US-amerikanischen politischen Systems – dank des einflussreichen Essays Civil Disobedience. Diesen libertären Klassiker verfasste Thoreau nach einem Gefängnisaufenthalt aufgrund seiner jahrelangen Weigerung, Wahlsteuern zu zahlen, da er den Krieg mit Mexiko und die Billigung der Sklaverei durch die Regierung ablehnte.

Denn Thoreau war nicht nur ein Theoretiker, der verkündete, dass die Gerechtigkeit über den Gesetzen stehe. Seine Worte stimmten stets mit seinen Taten überein. Zeit seines Lebens behielt er eine militante Haltung gegenüber der Sklaverei, wie seine Tagebücher dokumentieren, durch die wir auch erfahren, wie er entflohenen Sklaven half, des Land zu verlassen. Eine Militanz, die sich mit dem Fugitive Slave Act, der die Jagd auf entflohende Sklaven legalisierte, noch verstärkte und den Autor dazu brachte, sich energisch für die Verbindung Underground Railroad – ein Netz von sicheren Routen und Unterbringungen für die auf der Flucht befindlichen Sklaven – einzusetzen.

Insoweit sich das Denken und die Praxis von Thoreau mit der Geschichte des zivilen Ungehorsams der modernen Zivilisation verflicht, bedeutet seine heutige Lektüre, ein Wandern hin zur Klarheit über den historischen Moment, den wir erleben. Die Sklaven von gestern, könnten die Flüchtlinge sein, die heute versuchen, die Grenzen zu überwinden. Der Fugitive Slave Act könnte das Anti-Migrations-Dekret von Ronald Trump sein.

Letztlich führen uns die tiefgründigsten Widerklänge von Thoreaus Denken nicht nur dazu, zu fragen, welche Gesellschaft die Wahl eines Trump ermöglicht, sondern zu der Frage, warum eine Gesellschaft einen einzelnen Mann (oder eine Regierung) wählt, und sich dabei die Möglichkeit versagt, frei über die sie betreffenden Bereiche des Lebens zu entscheiden. Eine Gesellschaft, die nicht nur auf die Fähigkeit der Selbstverwaltung ihrer Freiheit verzichtet, sondern sich sogar Erlösung von bürokratischen Apparaten erhofft, die sie nicht kontrolliert und die, schlimmer noch, Millionen von Individuen unterdrücken und, wenn nicht zu Objekten, so doch zu bloßer Statistik werden lassen. Um es auf andere Weise zu sagen, bringen uns die Lehren, von denen wir in Thoreaus Tagebüchern lesen, zur Auffasung, dass der Ungehorsam gegenüber Trump ohne den Ungehorsam gegenüber dem politischen System, das ihn eingesetzt hat, eine Form sehr viel größerer Entfremdung ist, als die bloße Wahl des Magnaten oder einer Le Pen in Frankreich.

Júlio do Carmo Gomes (aus dem Portugiesischen von Camilla Elle)

Henry D. Thoreau: Tagebuch I. Matthes & Seitz, Berlin 2016, 326 Seiten, 26,90 €

Im Jahr 2007 gab der Autor Júlio do Carmo Gomes den Journalismus 2007 auf, um in Porto mit dem Gato Vadio eine Buchhandlung und gleichsam einen Raum für soziale Intervention zu schaffen. Er ist Mitbegründer des Verlages 7 Nós und organisiert die Jornadas da Soda Caústica, eine Konferenzreihe zu Theorie und Praxis revolutionärer Perspektiven.

Dieser Text ist eine Empfehlung des Buchlandens Amarcord International in Berlin, bei dem auch die Monatszeitung OXI käuflich zu erwerben ist.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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