Wirtschaft
anders denken.

Die Theoretikerin der »Dritten Welt«

10.08.2017
Rosa Luxemburg NahaufnahmeFoto: Rosa Luxemburg Stiftung / flickr CC BY 2.0

Die Wirtschaftswissenschaftlerin, Politikerin und Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871-1919) gilt Linken weltweit als Ikone. Sie wird heute aber fast ausschließlich in Lateinamerika rezipiert. Ihre Maxime, Freiheit sei immer die Freiheit des Andersdenkenden, ist dagegen in beinahe allen politischen Lagern zum geflügelten Wort geworden.

Ihren eigenen Berufsstand überflüssig zu machen, war die Absicht von Rosa Luxemburg: Wenn die Warenproduktion überwunden sei, werde die politische Ökonomie enden; nichts Geringeres hatte sie im Sinn. Politisch wie wissenschaftlich kam Rosa Luxemburg aus der Schule von Karl Marx, wurde allerdings nicht zu einer der vielen Epigonen des Denkers aus Trier. Ganz im Gegenteil.

Um die kapitalistische Mehrwertproduktion — zu deren DNA (um den Preis des Untergangs) das Wachstum, die ständige Ausweitung gehört — analysieren zu können, hatte sich Marx entschlossen, mit einem vereinfachten Modell zu arbeiten. Er unterstellte eine Gesellschaft, die lediglich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht; eine Gesellschaft also, die es so nie gegeben hat, was Marx selbst immer wieder betonte. Doch nur unter diesen »Laborbedingungen« war es ihm möglich, die Zusammenhänge dieser Produktionsweise freizulegen. Er konnte zeigen, wie der Mehrwert entsteht, wie er nicht konsumiert, sondern in die Produktion eingespeist (akkumuliert) wird, um noch mehr Waren herzustellen und noch mehr Mehrwert zu erzielen. Jeder Kapitalist, der sich diesem Spiel verweigere, so Marx, werde über kurz oder lang niederkonkurriert.  Rosa Luxemburg glaubte, Marx habe keine triftige Antwort auf die Frage, woher das Wachstum, woher der ständig steigende Absatz, also die gewinnbringende Rückverwandlung des in Waren angelegten Kapitals in mehr Kapital, komme.

Wenn die Warenproduktion überwunden sei, werde die politische Ökonomie enden; nichts Geringeres hatte sie im Sinn.

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Hier setzte Rosa Luxemburg an. Sie ging von der Annahme aus, dass in einer Gesellschaft, die nur aus Kapitalisten und Lohnarbeitern bestünde, eine Ausdehnung des Absatzes unmöglich sei. Sie verwarf Marx aber deshalb nicht, sondern nahm seine Erkenntnisse und begab sich auf den Rückweg — vom Modell zur Wirklichkeit. Dort glaubte sie einen Ausweg entdeckt zu haben: die nichtkapitalistischen Absatzmärkte. Ihre Erkenntnis: »Die kapitalistische Produktion ist als echte Massenproduktion auf Abnehmer aus bäuerlichen und Handwerkskreisen der alten Länder sowie auf Konsumenten aller anderen Länder angewiesen, während sie ihrerseits ohne Erzeugnisse dieser Schichten und Länder (sei es als Produktions-, sei es als Lebensmittel) technisch gar nicht auskommen kann.« So musste sich von Anfang an zwischen der kapitalistischen Produktion und ihrem nichtkapitalistischen Milieu ein Austauschverhältnis entwickeln, bei dem das Kapital die Möglichkeit fand, den eigenen Mehrwert zu verwirklichen, sich mit nötigen Waren zur Ausdehnung der eigenen Produktion zu versorgen und neue Arbeitskräfte zu gewinnen, indem sie diese nichtkapitalistischen Produktionsformen zersetzte. In der Akkumulation und der Ausdehnung der Absatzmärkte erkannte Rosa Luxemburg das eigentliche Geheimnis des Imperialismus ihrer Zeit.

Diese Auffassung hatte Rosa Luxemburg 1913 — episch lang — in ihrem Werk Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus entwickelt. Sie hoffte auf einen großen Erfolg, er blieb allerdings aus. Außer ihrem Verbündeten Franz Mehring (1846-1919) — Publizist, Historiker und einer der ersten Marx-Biografen —, der den mehr als 70 Zeitungen der SPD eine positive Rezension kostenlos zur Verfügung stellte, reagierte das SPD-Establishment auf die an der Parteibasis beliebte radikale Genossin eher verschnupft. Vor allem wegen der Angriffe von Rosa Luxemburg auf die immer halbherzigere Politik der SPD-Führung, die am 4. August 1914 schließlich in die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten mündete. Unter diesem Konflikt litt eben auch die Resonanz auf ihr Werk.

Ihr Buch war übrigens wirklich nicht gut geraten: Über weite Strecken lesen sich die ersten 200 Seiten wie eine Selbstverständigung, teilweise wie ein Rohentwurf. Ganz anders fallen nur die sieben historischen Kapitel über Akkumulation, Imperialismus und Militarismus am Ende des Bandes aus.

Wie oft in der Wissenschaftsgeschichte begann auch hier der Fortschritt nicht mit den richtigen Antworten, sondern mit klugen Fragen.

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Nach ihrem Misserfolg antwortete Rosa Luxemburg ihren Kritikern in einem weiteren Werk, das unter dem Titel Antikritik in die Literatur eingegangen ist. Diese Arbeit verfasste sie 1915, als sie wegen ihrer kompromisslosen Antikriegspolitik eine einjährige Gefängnisstrafe im »Weibergefängnis« in Berlins Barnimstraße abzusitzen hatte. Da niemand wagte, von der Ausgestoßenen etwas zu drucken, erschien das Buch erst 1921 bei Frankes Verlag in Leipzig, zwei Jahre nach der Ermordung der Autorin.

Der Fortschritt in der Antikritik lag weniger im Dargelegten als in der Darlegung. Denn hier gelang Rosa Luxemburg eine schlüssige Analyse auf sprachlich hohem Niveau.  Allerdings wies auch die Antikritik theoretische Schwächen und empirische Fehler auf. Erst Fritz Sternberg (1895-1963), Ökonom und sozialistischer Politiker, überwand einige dieser Defizite in seinem Buch Der Imperialismus (1926). Wer sich mit Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie beschäftigen will, sollte daher am besten mit Sternberg beginnen. Wie oft in der Wissenschaftsgeschichte begann auch hier der Fortschritt nicht mit den richtigen Antworten, sondern mit klugen Fragen. Die hat Rosa Luxemburg gestellt, aber nur zum Teil auch richtig beantwortet.

Weiter denken -Anregend für eine Politik der Ökologie

Der marxistische Kunstkritiker Mario Pedrosa (1900-1981) führte in den 1940er-Jahren das Denken Rosa Luxemburgs in Brasilien und später in ganz Lateinamerika ein. Er nahm Ende der 1970er-Jahre den Faden noch einmal auf, indem er an Rosa Luxemburgs Theorem von der Beseitigung aller nichtkapitalistischen Produktionsweisen anknüpfte und dieses im Lichte der damals aktuellen Entwicklungen betrachtete: »Die Grenzen des tropischen Afrika, die Wälder des Amazonas …, Lateinamerikas Gebirge …, die imperialen Mächte suchen schlau in den Meeren, in den Wüsten, unter der Erde, alles das, was für ein zukünftiges Monopol brauchbar ist.«

Rosa Luxemburg hat in der Unterwerfung nichtkapitalistischer Produktionsweisen unter die Logik der Kapitalverwertung noch einen einmaligen Vorgang gesehen. In den Jahrzehnten danach zeigte sich, dass es sich in Wirklichkeit um eine immer tiefere Durchdringung aller gesellschaftlichen Beziehungen handelt. Ihre Vorstellung, die Durchkapitalisierung der Welt werde an eine ökonomische Grenze stoßen, war also zu kurz gedacht.

Der Humangeograf, Sozialtheoretiker und Marxist David Harvey (geb. 1935) zeigte bereits vor Jahren, wie die Akkumulation durch Enteignung – so der deutsche Untertitel seines wichtigsten Buches (2003) – nun auch auf öffentliche Güter übergreift: beispielsweise in Form der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, von Bildung und Kultur.

Auf andere Weise taucht Rosa Luxemburgs theoretisch falscher, aber politisch sehr wohl sinnvoller Gedanke von den Grenzen der Durchkapitalisierung – darauf hat jüngst Isabel Loureiro, brasilianische Historikerin und Luxemburg-Biografin, aufmerksam gemacht – im ökologischen Diskurs wieder auf: »Das aktuelle Modell der >Akkumulation durch Expropriation< ist … mit landwirtschaftlichen Problemen verbunden, die nicht nachhaltig sind: Expansion von Monokulturen, Anwendung von Pestiziden, Bodendegradation, Entwaldung, Zerstörung der Biodiversität …« Das Kapital, so Isabel Loureiro, könne nicht ewig akkumulieren: »Allerdings nicht, weil die gesamte Welt einst durchkapitalisiert sein wird, so dass der Kapitalismus«, wie Luxemburg fälschlicherweise annahm, »seine logische und historische Grenze finden würde, sondern wegen der natürlichen Grenzen unseres Planeten.«

Leben

Rosa Luxemburg stammte aus einer bildungsbürgerlichen jüdischen Familie aus Zamosc, Polen. Dort wurde sie am 5. März 1871 als Tochter eines Holzhändlers geboren, sie wuchs in Warschau auf. 1889 ging sie zum Studium der Botanik nach Zürich.

Dort verliebte sie sich in Leo Jogiches, den Spross einer litauischen Bankiersfamilie, der wegen revolutionärer Aktivitäten Russland hatte verlassen müssen. Jogiches sah in der Hochbegabten nicht nur seine Geliebte, sondern auch ein Werkzeug für seine politischen Absichten. Sie war in Wort und Schrift brillant und beherrschte mehrere Sprachen. Ihm zuliebe wechselte sie zur Wirtschaftswissenschaft; ihre Schriften werden auch noch hundert Jahre nach ihrem Tod verlegt – weltweit.

Zusammen mit Jogiches gründete sie 1893 die Sozialdemokratie des Königreichs Polen. 1898 übersiedelte sie nach Deutschland und rückte dort schnell in die erste Reihe der europäischen Sozialdemokratie auf.

Da Rosa Luxemburg an der revolutionären Ausrichtung der Sozialdemokratie festhielt, isolierte sie sich zunehmend. Während des Ersten Weltkrieges war sie die meiste Zeit in Haft. Bei der Revolution 1918 galt sie neben Karl Liebknecht als Kopf der deutschen Linken. Beide wurden am 15. Januar 1919 ermordet.

Weitere Werke

Die industrielle Entwicklung Polens (1898)

Sozialreform oder Revolution? (1899)

Die russische Revolution (1922)

Dieser Beitrag erschien zuerst in der März2017-Ausgabe von OXI.

Geschrieben von:

Jörn Schütrumpf

Leiter Fokusstelle Rosa Luxemburg der Rosa Luxemburg Stiftung

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