Die #unten-Kampagne und eine Tagung: Klasse neu denken
Eine Zeitung startet eine Aktion, bei der Menschen über Diskriminierungserfahrungen in der »Klassengesellschaft« reden sollen. Aber was ist das: Klasse? Eine Tagung in Jena sucht nach Antworten und will bei vergessenen Erkenntnissen anknüpfen.
Die vom »Freitag« nach Art von ähnlichen Twitter-Kampagnen gestartete Aktion, unter dem Hashtag #unten über seine »Erfahrungen mit sozialer Abwertung« zu sprechen, hat auch in anderen Medien ein Echo gefunden. »Die Betroffenen müssen sich zu Wort melden«, hatte Christian Baron zu Erfahrungsberichten aufgefordert. »Empfinden Sie Angst vor sozialem Abstieg? Wann spürten oder spüren Sie die Unsicherheit als soziale Aufsteigerin beziehungsweise sozialer Aufsteiger? Welche Erniedrigungen erleben Sie durch Ihre Vorgesetzten am Arbeitsplatz? Wo begegnen Sie im Alltag den Vorurteilen gegen ›die Unterschicht‹?«
Unter anderem hier wurde dann dem Appell gefolgt. Onlineportale griffen die auf Twitter veröffentlichten Geschichten »über ständige Vorverurteilung, von Ausgrenzung« auf, und kopierten »die emotionalsten Tweets«. Die Praxis, über Twitter solche Kampagnen zu starten, hat allerdings auch andere Seiten. »Wieder einmal machen Menschen mit Tweets eindrucksvoll Diskriminierungserfahrungen sichtbar«, schreibt Teresa Bücker. »Und wieder setzt sich die Abwertung und die Ausgrenzung fort, indem andere versuchen, #unten zu kapern.«
Politische Begrenztheit der Kampagne kritisiert
Es gab aber auch Kritik an der Aktion: »Unsere gesamte Redaktion besteht aus Leuten aus ärmeren Familien, einige mit migrantischem Hintergrund. Und Leuten, die bis heute allesamt entweder in prekären Jobs oder beim Amt sind. Wir könnten hier jetzt Twitter vollschreiben, wie schlimm das alles ist«, so das linksradikale Lower Class Magazine: »Warum tun wir’s nicht?« Die Begründung: Die Zeitung versuche auf diese Weise »in der Clickökonomie Aufmerksamkeit« zu erzeugen, zudem sei Twitter »das Medium eines bestimmten Milieus«, die »Klasse« sei auf dem »Spielplatz von Aktivist*innen, Journos, Funktionär*innen irgendwelcher Parteien, Künstler*innen, Intellektuellen« kaum vertreten. Zudem wird die politische Begrenztheit der Kampagne kritisiert, in der es darum gehe, »›Anerkennung‹ zu kriegen, die den ›Klassismus‹ ausgleichen soll«. Das linksradikale Kollektiv will einen anderen Weg gehen: »Klassenverhältnisse umzustürzen«,das finde nicht auf Twitter sondern »in realen Kämpfen statt, in denen sich Menschen organisieren, zusammentun, austauschen, kämpfen. Irgendwelche Hashtags können das nicht ersetzen«.
Eine Eigentümlichkeit der Twitter-Aktion ist es, dass an vielen Stellen auf »Klassenunterschiede« hingewiesen wird, welche »Biografien und Bewusstsein« prägten und die Kampagne unter anderem mit der Frage begonnen wurde, »wie macht sich die Klassengesellschaft in eurem Alltag bemerkbar?« Die Antworten und Schilderungen individueller Herabsetzung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position aber in aller Regel Diskriminierungserlebnisse zeigen, die von Menschen aus »derselben Klasse« zugefügt werden, und eben nicht als verbale oder symbolische Gewalt über Klassengrenzen hinweg.
Grundprinzip: Bourgeoisie und Proletariat
Jedenfalls, wenn man dem klassentheoretischen Raster folgt, das im »Freitag« zum Start der Kampagne in einem Text von Sebastian Friedrich skizziert wird: Der schilderte »das Grundprinzip« so: »Die Bourgeoisie, heute bizarrerweise Arbeitgeber genannt, besitzt die Produktionsmittel und schöpft Profite aus der Arbeit der von ihnen abhängig Beschäftigten – weshalb sie eigentlich die Arbeitnehmerseite ist. Ihr gegenüber steht die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter im weiten Sinne. Sie haben keine Produktionsmittel und müssen sich beim Bourgeois verdingen. Die durch dieses Ausbeutungsverhältnis definierte Klasse der Lohnabhängigen ist sehr divers in ihrer Gestalt: hochqualifizierte Angestellte, ungelernte Hilfsarbeiter_innen, Reinigungskräfte, Fahrradkuriere«. In einem anderen Text in der Ausgabe des »Freitag«, mit der die Kampagne ins Rollen gebracht werden soll, heißt es mit Blick auf ähnliche Twitteraktionen, »wahr ist aber auch, dass Stimmen mit direkten Bezügen zu unteren Klassen dort systematisch unterrepräsentiert sind«. Hier taucht der definitorische Bezugsrahmen im Plural auf.
Fraktionierungen innerhalb der ökonomischen Klasse
Man könnte das als Ausdruck einer allgemeineren Tendenz ansehen, die zu einer am Freitag startenden Konferenz in Jena Anlass gab. Begriffe wie »Klasse« und »Klassenpolitik« seien zwar »mit Wucht in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt«, heißt es in der Einladung. Es falle aber auf, dass vieles, »was im Gefolge der 1968er-Bewegung wissenschaftlich wie politisch an klassenanalytischem Erkenntnisfortschritt erreicht worden war«, seither wieder »in Vergessenheit geraten oder gänzlich verloren gegangen« ist. Auch aus wissenschaftlicher Perspektive werde die aktuelle Klassendiskussion heute »oftmals oberflächlich und mitunter in geradezu vulgärer Weise geführt«. Die Sozialwissenschaften verfügten aktuell nicht einmal über einen »Begriff zum Verständnis der Klassengesellschaften des 21. Jahrhunderts. Damit reproduzieren und verdoppeln sie in ihren Gesellschaftsdeutungen lediglich, was sich real ohnehin abspielt«.
Die Konferenz »Klasse neu denken« knüpft hier an. Mit Blick auf die gegenwärtige Lage heißt es: »Einerseits nehmen sowohl vertikale als auch horizontale, klassenspezifische Ungleichheiten in nahezu allen Gesellschaften des globalen Nordens wie des Südens zu, andererseits sind um den Gegensatz von Kapital und Arbeit gebaute politische und gewerkschaftliche Organisationen so schwach, wie es nach 1949 wohl noch nie der Fall gewesen ist.« Unter solchen Voraussetzungen machten sich auch »Differenzen und unterschiedlicher Interessen von spezifischen Interessen einzelner Gruppen« stärker bemerkbar, die »zu Gegensätzen und Fraktionierungen innerhalb der ökonomischen Klasse« der Lohnarbeiterschaft führten. Diese würden sich zum Teil in Scheingegensätzen wie jenem zwischen »Identitätspolitik« und »Klassenpolitik« ausdrücken, die vor allem die Unfähigkeit zeigen, etwa »geschlechtliche Ungleichheit und Rassismus, die Krise der Reproduktion und die ökologische Krise als integrale Momente der sozialen Frage, als ›Klassenfragen‹ zu lesen und zu formulieren«.
Zwei Bücher zur »neuen Klassenpolitik«
»Die Klasse ist in permanenter Veränderung, immer schon«, daran zu erinnern scheint nötig, so sehen es auch die Organisatoren der Jenaer Tagung, die vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstaltet wird. Die Konferenz wird kein Einzelfall bleiben, »zukünftig sollen einmal im Jahr neue klassenanalytische Arbeiten vorgestellt« werden. Es geht unter anderem um »Neuzusammensetzung und Vielfalt der Klasse«, darum, »wie bunt« sie heute ist und was das für Folgen für die politische Bearbeitung der Widersprüche ist. Und mit dem Linkspartei-Politiker Bernd Riexinger wird über dessen Buch »Neue Klassenpolitik« diskutiert.
Passend zur Konferenz und zur Twitter-Aktion wäre eine weitere Neuerscheinung anzuzeigen: Im Verlag Fischer + Bertz ist nun eine Sammlung von Texten herausgekommen, die »ein breites Spektrum der aktuellen Diskussionen um eine Neue Klassenpolitik« abdecken und in den vergangenen Monaten in der Zeitung »analyse & kritik« erschienen sind. Georg Seeßlen beschreibt darin, was sich wohl auch die Initiatoren der Twitter-Kampagnen #unten als wünschbares Ergebnis vorstellen: »Was aber wäre«, heißt es da im Anschluss an eine Anekdote über einen Popkritiker, eine Aushilfsverkäuferin und eine Küchenhilfe, »wenn sich das Prekariat, statt sich in seinen Segmenten gegenseitig zu bekämpfen, zu verachten und zu misstrauen (einer der Gründe, warum der Rechtspopulismus Erfolg hat), als Klasse zu betrachten begänne…?«
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