Wirtschaft
anders denken.

Die Verlassenen, ihre Alltagsprobleme und die Abwertung anderer: zu einer neuen Studie

15.03.2018
Ausriss aus dem Cover der besprochenen Studie

Was sind die Gründe für den Rechtsruck? Eine neue Studie meint, Alltagsprobleme wie unsichere Arbeitsbedingungen und der Wegfall von sozialer Infrastruktur sind die Auslöser, die grassierende Abwertung von Migranten und Geflüchteten sei erst »eine Folge einer eigenen Abwertungserfahrung«.

Man weiß inzwischen eine ganze Menge darüber, wo und wie sich rechte Deutungsmuster in Wahlverhalten niederschlagen, darüber, wie Rechtsradikale Stimmung in sozialen Netzwerken machen, auch darüber, wie rechtspopulistische »Argumentationen« funktionieren und wie schwierig es ist, dem mit aufgeklärter Gegenrede beizukommen. Worüber man bisher nicht übermäßig viel weiß, ist die konkrete Erfahrungswelt der als »Abgehängte« oder »Globalisierungsverlierer« bezeichneten, sind die Gründe, warum sie aus einem Gefühl von Wut, Ängsten und Verlassenheit dazu bereit sind, rechten Parteien ihre Stimme zu geben oder sich diffamierend über Geflüchtete und Migranten zu äußern.

Einige Untersuchungen, die das detaillierter und differenzierter angegangen sind als einfache repräsentative Umfragen, sind bereits erschienen und waren hier auf schon Thema – etwa hier und hier. Nun gibt eine neue qualitative Studie, die auf Haustürgesprächen in strukturschwachen Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler basiert, weitere Antworten. Unter der Überschrift »Rückkehr zu den politisch Verlassenen« wird darin von Autor Johannes Hillje für »Das Progressive Zentrum« nachvollzogen, »welche Herausforderungen die Befragten in ihrem Alltag haben und warum oftmals die sozialpolitischen Bedingungen – und nicht etwa Fremdenfeindlichkeit – Grund ihres Unmuts und ihrer Zukunftsängste sind«.

Unsichere Arbeitsbedingungen, Wegfall von sozialer Infrastruktur

Zu den »wichtigsten Ergebnissen für Deutschland« zählt Hillje eben diese »Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen als ›größtes Problem‹ des Landes« ansehen – nämlich die Migration – und das, was im eigenen Alltag als Hauptsorge gesehen wird – nämlich unsichere Arbeitsbedingungen, Wegfall von sozialer Infrastruktur und so fort. Da Letzteres zu wenig von Politik und Medien aufgegriffen werde, entstehe »ein Gefühl der Benachteiligung«, das dann auf andere übertragen wird. »Die Abwertung Anderer, insbesondere von Migranten«, sei »eine Folge einer eigenen Abwertungserfahrung«, so die Studie. Manifester Rassismus habe sich dagegen in den Gesprächen »nicht als Muster« gezeigt.

»Wenn die Menschen politische Zusammenhänge mit ihren eigenen Worten schildern, spielen Islamisierung, Europaskepsis, pauschale Medienkritik oder die Betonung der nationalen Identität kaum eine Rolle«, heißt es in der Kurzzusammenfassung der Untersuchung. Auch würden »Forderungen nach einem nationalistisch orientierten Kurs« im Wesentlichen auf dem Gefühl beruhen, »dass die Politik die falschen Prioritäten setzt«. So würden »Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise oder außenpolitisches Engagement nicht grundsätzlich falsch« eingeschätzt, es wird aber die Überzeugung formuliert, dass dagegen »Anstrengungen und Investitionen vor Ort ausbleiben, um handfesten Herausforderungen im Alltag, wie dem steigenden ökonomischen Druck auf Geringverdiener oder Lücken in der Daseinsvorsorge, zu begegnen.«  Viele Befragte würden zudem glauben, »dass sozial und geographisch Gesellschaftsräume entstanden sind, aus denen sich die Politik zurückgezogen hat. Es herrscht ein Gefühl des Verlassenseins«.

Nahverkehr läuft schlechter als Migrationspolitik

Die Studie wird noch durch eine repräsentative Befragung beim Umfrageinstitut Civey ergänzt, in der unter anderem die Frage »Wenn Sie an Ihr Lebensumfeld denken, was würden Sie sagen, welcher Bereich läuft an Ihrem Wohnort schlecht?« gestellt wurde. Dazu sagten mehr Befragte, dies sei der öffentliche Nahverkehr (25 Prozent), lediglich 17 Prozent meinten, dies sei die Migrationspolitik. Und 15 Prozent erklärten: »Es läuft nichts schlecht.«

Die qualitative Studie hat »Das Progressive Zentrum« mit dem französischen Partner »Liegey Muller Pons« möglich gemacht, die 500 Haustürgespräche fanden in strukturschwächeren Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler statt – in Frankreich waren das Calais-Matisse-Toulouse-Lautrec, Loon-Plage-Les Kempes, Tournehem-sur-la-Hem im Norden und  Marseille 14-Centre Urbain, Marignane-La Calagovière-Parc Camoin und Arles-Mas-Thibert im Süden. In der Bundesrepublik wurden Gesprächspartner im Berlin Bezirk Marzahn-Hellersdorf, in Eisenhüttenstadt  und in Fürstenwalde-Molkenberg im Osten sowie im Westen in Duisburg-Neumühl, Gelsenkirchen-Ost und Datteln-Meckinghoven gesucht.

Schlussfolgerung der Studie: Es sind in den vergangenen Jahren Räume entstanden, in denen ein Gefühl der »politischen Verlassenheit« dominiert. Wiedergewinnung von Vertrauen setze lokale Präsenz sowie Anerkennung und Lösung der vorliegenden Probleme voraus. In der Studie wird dies anhand von fünf Handlungsfeldern veranschaulicht: »Solidarität nach innen als Voraussetzung für Solidarität nach außen, Stärkung von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur zur Förderung von Chancengerechtigkeit, gesellschaftsverträgliche Gestaltung des Strukturwandels, zivilgesellschaftliches ›Nützlichmachen‹ von Parteien auf lokaler Ebene sowie mehr Selbstbewusstsein gegenüber rechtspopulistischen Narrativen«.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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