Wirtschaft
anders denken.

Die Welt mit den Augen des Anderen betrachten

26.06.2018
Weltkarte von Claudius Ptolemäus

In den Debatten nicht nur der Linken hat Kritik an »Kosmopolitismus« und linksliberalem »Moralismus« wieder große Konjunktur. Eine Widerrede von Horst Kahrs und Tom Strohschneider.

Es ist, zumal in Debatten im linken Spektrum, zur Mode geworden, einen linken oder linksliberalen Kosmopolitismus als moralische Überheblichkeit zu geißeln und zum Trojanischen Pferd des Neoliberalismus im Lager der Progressiven zu erklären. Linker »Kosmopolitismus« und linksliberaler »Moralismus« verschmelzen in manchen Debattenbeiträgen zu einer Art Irrlehre, die sich nur Besserverdienende leisten können, die klassenpolitisch auf die andere Seite der Barrikade führt und die von Überheblichkeit gegenüber den arbeitenden Klassen gekennzeichnet ist.

Den Gegenpol zum Kosmopolitismus oder Weltbürgertum bilden in den aktuellen Debatten Kommunitarismus oder Gemeinschaftsgrenzen. Bezug wird unter anderem gerne auf Wolfgang Merkel genommen, der an dieser neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, unter Politikwissenschaftlern auch Cleavage genannt, Widersprüche erkennt, die gesellschaftspolitisch an Bedeutung gewinnen und alte Konfliktlinien, an denen die Parteienlandschaft sich strukturiert hatte, überlagern, so dass es zu einer Neuordnung der politischen Kräfte quer durch die meisten Parteien kommt. Dabei, so heißt es dann meist, werden in der Strukturierung des politischen Raumes die vertikalen Pole »liberal – autoritär« durch die neuen Pole »kosmopolitisch – kommunitaristisch« ersetzt. Die Horizontale Achse bliebe hingegen weiterhin mit den Polen »Staat – Markt« beschrieben.

Eine Theorie, die selbst Teil der politischen Deutungskämpfe ist

Was als wissenschaftlicher Erklärungsversuch durchaus neue Sichtweisen ermöglichen kann, bekommt in jener öffentlichen Auseinandersetzung leicht eine Schieflage, in der es um Ein-Eindeutigkeiten, Polarisierungen und Provokationen geht, nicht mehr um engagiertes Begreifen und Denken in Widersprüchen. Die Deutung der politischen Verwerfungen mittels der neuen Konfliktlinie Kommunitarismus vs. Kosmopolitismus vermag jeweils einzelne empirische Befunde für sich ins Feld führen, ist aber bereits selbst Teil der politischen Deutungskämpfe und der Strukturierung des Politischen.

Weiter: Beim »Übergang« von der sozialwissenschaftlichen Kritik zur öffentlichen Debatte wird zum Teil grob vereinfacht, was zwei Folgen haben kann: Erstens verlieren die Begriffe und Kategorien ihren kritischen Gehalt und werden zu bloßen Formeln. Zweitens können sich dann diese Formeln mit Bedeutungen aufladen, die nicht mehr viel mit der ursprünglichen sozialwissenschaftlichen Kritik zu tun haben, sondern den aufgeregten Schwingungen politischer Resonanzräume entsprechen. Aus der Kategorie »kosmopolitisch« kann so ein Schlagwort werden, das für sich genommen nichts mehr »erklärt«, sondern dazu dient, eine andere Position zu diskreditieren.

(Es ist ein bisschen wie beim Begriff »bürgerlich«, dessen eher freihändige Benutzung hier einer Betrachtung unterzogen wurde. Und weil die Frage der Definition wichtig ist, kann die Anmerkung nicht unterlassen werden, dass es auch eine furchtbare Geschichte des Anti-Kosmopolitismus gibt, bei der die pejorative Bedeutung des Begriffs »Kosmopolitismus« sehr weit gedehnt wurde, ja sogar zum Banner für die Verfolgung anderer wurde.)

Eine eher deprimierende Debatte

Eher deprimierend gestaltet sich die neue Kosmopolitismus-Debatte im linken Diskursfeld. Wird nach Gründen für die Schwäche der Linken und den Aufstieg der Rechten auch bei Arbeitern gesucht, gedeihen der neue Anti-Kosmopolitismus und eine angeblich neue Teilung der Welt in zwei konträre Lager: »auf der einen Seite der neuen Konfliktlinie die Kosmopoliten, die gebildeten, urbanen ›frequent travellers‹, die der Globalisierung aufgeschlossen gegenüberstehen und überdurchschnittlich verdienen. Auf der anderen Seite stehen die Kommunitaristen, die weniger gebildet sind, weniger verdienen und nicht so mobil sind. Sie haben ›ein besonderes ökonomisches wie kulturelles Interesse an der Erhaltung nationalstaatlich eng kontrollierter Grenzen«, wie das unlängst Lev Lhommeau formuliert hat.

Wenn Franz Walter im »Spiegel« von einem »libertären Schein einer sich kosmopolitisch gerierenden Lifestyle-Linken« schreibt, wird nichts mehr analysiert, es werden Noten verteilt, es wird geurteilt, es wird ein Ressentiment bedient. Ob und in welcher Ausprägung es einen »Konflikt zwischen kosmopolitischen, libertären, menschenrechtlichen Linken hier und prekär beschäftigten, um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze fürchtenden, weitere Einwanderung billiger Arbeitskräfte ablehnenden Lokalisten ohne akademischen Hintergrund« gibt, muss dann gar nicht erst durch empirische Untersuchung bestätigt werden, weil ein mögliches, zu ziehendes Urteil ja bereits getroffen wurde.

Wolfgang Streeck hat in der »Zeit« ein Hoch auf die »Lokalpolitik« gesungen und schreibt da unter anderem über »die kosmopolitisch fühlenden Universalisten«. Wer nicht die Notwendigkeit »verorteter Gemeinschaften« anerkennt, wer nicht begreifen wolle, dass »die gerechte Ordnung eines Ganzen« nicht auf globaler Ebene möglich sei, weil die Welt »kein solches Ganzes sein« könne, der habe nichts begriffen. Streeck bejaht hier das Diktum von Theresa May, die einmal gesagt haben soll, »ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger«. Und wer diese Sicht nicht teilt, der wird in die Ecke verwiesen.

Moral! Neoliberalismus! Thatcher!

Dieser Anti-Kosmopolitismus kennt dann nur »kosmopolitisch fühlende Universalisten«, wobei die Betonung hier zunächst auf »fühlen« liegt, der Universalismus wird von Streeck später abgefertigt. Wer von weltgesellschaftlichen Verhältnissen und also auch Handlungsspielräumen ausgeht, stehe dem Denken Margaret Thatchers nahe – »There is no such thing as a society«. Und an anderer Stelle wird ein Ressentiment bedient, das man inzwischen auch aus Politikerreden kennt: »Die meisten selbsterfühlten ›Kosmopoliten‹ kennen andere Länder bestenfalls von Gebirgstouren in Nepal oder einer Shopping-Woche in New York.«

Nils Heisterhagen schreibt, »kosmopolitischen Linken – die mittlerweile auch in einem ökonomischen Sinn neoliberal denkende Menschen sind – ging und geht es dabei oft einfach nur darum, ihr eigenes Gewissen zu beruhigen«. Soll heißen: Wer in sozialen Netzwerken für Toleranz und Vielfalt wirbt, betreibe einen »linken Moralkonservatismus: Die ökonomischen Verhältnisse sollten bitte so bleiben, wie sie sind«.

Bernd Stegemann und Sahra Wagenknecht beschäftigte vor ein paar Wochen in der »Zeit« ebenfalls ein behauptetes »Zusammenspiel zwischen linker Moral und neoliberalen Interessen«, das zwei unterschiedliche Freiheitsbegriff verquicke: »Unter den Schlagworten Grenzenlosigkeit und Diversität haben sich die Widersprüche inzwischen zu einem Komplex aus Moral, Interessen und Herrschaftstechnik verquickt. Grenzenlosigkeit ist die Geschäftsgrundlage, mit der multinationale Konzerne demokratische Regeln umgehen, Steuern vermeiden und die heimischen Arbeitsmärkte unter Druck setzen. Und Grenzenlosigkeit ist für ein bestimmtes Milieu in den Wohlstandszonen eine moralische Pflicht und ein konkreter Genuss.« Aus der »Fülle dieser Privilegien« entspringe eine bestimmte Sicht auf die Welt, die in einem Akt »der moralischen Überheblichkeit der Privilegierten« allen anderen aufgedrückt werden solle. »Was übersehen wird, sind die materiellen Bedingungen einer solchen Moral«, etwa der Grenzenlosigkeit, des Kosmopolitismus oder auch nur des ökologisch korrekten Verhaltens: »Man muss sich ein solches Leben leisten können«.

Ist Moral etwas, das man sich leisten können muss?

Bereits Anfang 2017 hatten Dirk Jörke und Nils Heisterhagen in der FAZ vorgelegt: »Antidiskriminerungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch korrekte Sprache wurden zum politischen Fokus einer von Akademikern geprägten Linken, die glaubt eine zivilisatorische Avantgarde zu bilden. Doch ihre Anliegen vertragen sich wunderbar mit dem Neoliberalismus, insofern die Rechte des Marktes und die Rechte des Individuums sich ergänzen.« Und weiter: »Menschen, die postmaterialistisch eingestellt sind, weil sich für sie subjektiv die soziale Frage erledigt hat, da sie zu den Globalisierungs- und Modernisierungsgewinnern gehören, können es sich leisten, tolerant und weltoffen zu sein.«

Ein immer wiederkehrender Debattenkern ist die Behauptung, »Moral«, also hier Toleranz, Weltoffenheit, Menschenfreundlichkeit, muss man sich erstmal materiell leisten können. Wer sie einfordert, kann daher nur zu den Gewinnern der Verteilungskämpfe zählen, die er wiederum dann anschließend als »Ausdruck von schlechtem Charakter abqualifiziert«, so Stegemann und Wagenknecht. Selbstverständlich fühlen sich »Verlierer«, »Schwache«, »Arbeiter« von einer solch moralinsauren akademischen Linken dann nicht mehr repräsentiert, so dass ihnen nichts anderes übrigbleibt, als in einer Art politischer Notwehr nationalpopulistische Parteien zu wählen. Die einen können sich Moral leisten, die anderen stecken in Verteilungskämpfen fest – eine übersichtlich geordnete Welt.

Man könnte noch viele weitere Beispiele hier anführen. Drei allgemeine Motive werden aber schon sichtbar, sie kehren in unterschiedlichen Formen in den Debatten über Rechtsruck, Populismus und Klassenpolitik wieder.

Der Kosmopolitismus, um den es da gehen soll, wird erstens als »Gefühl«, als bloßes »sich Gerieren« dargestellt – was ihn gegenüber einer sich wissenschaftlich gebenden Kritik vor jedem Argument entwertet. Kosmopoliten – in der Regel ist das keine Selbstbeschreibung, sondern eine Plakette, die man von Kritikern aufgeklebt bekommt – genießen ihre Privilegien und »moralisieren«. In zugespitzter Form ist inzwischen sogar von einem angeblichen »Hyper-Moralismus« die Rede. Mit dem Anti-Kosmopolitismus werden zugleich moralische Fragen entsorgt.

Nach welchen Regeln soll Gesellschaft funktionieren?

Moral, sagt Wikipedia, »bezeichnet zumeist die faktischen Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen«. Der Kant’sche Kategorische Imperativ wäre als solches Normativ zu verstehen, ebenso das marktradikale »Bereichert euch!« oder die Aufforderung »Proletarier-aller-Länder-vereinigt-euch!« Der Vorwurf des Moralismus entsorgt unter der Hand fix die Frage, nach welchen Regeln die Gesellschaft funktionieren sollte – eine Frage, die nach zwei Jahrzehnten Dominanz neoliberaler Regelwerke, die die Freiheit des Marktes zugleich als Urform demokratischer Bürgerfreiheit ausgaben, und nach der Implosion der meritokratischen Ordnung der Leistungsgesellschaft virulenter denn je ist. Gerade auch in den neuen Verteilungskämpfen.

Der Kosmopolitismus wird zweitens als neoliberal charakterisiert – in zwei miteinander korrespondieren Weisen. Die eine unterstellt, dass offene Grenzen unterm Strich ein Ziel kapitalistischer Verwertung sei, weil so der Preis der Ware Arbeitskraft dadurch, das Lohnabhängige in Konkurrenz zueinander gesetzt werden, gedrückt werden kann. Die andere nimmt das auf, erweitert aber den Gedanken um eine Pointe: Wer also für offene Grenzen eintritt, bezeuge damit dann auch, dass er an der kapitalistischen Globalisierung ja gar nichts ändern wolle.

»Überheblichkeit der kosmopolitischen Klasse«

Gern wird das dadurch unterstrichen, indem das Wort mit anderen Begriffen kombiniert wird, die heutzutage als Schlagworte benutzt werden. Bei Heisterhagen etwa ist an einer Stelle von der »Überheblichkeit der kosmopolitischen Klasse« die Rede, die als negativ beschriebene Eigenschaften werden hier sogar »klassentheoretisch« geadelt. An anderer Stelle schreibt er gemeinsam mit Dirk Jörke »von einer tonangebenden akademischen Klasse«, die »in letzter Zeit immer mehr moralisch« auf andere hinabblicke, zudem hört man da von einem »von dieser Klasse getragenen kosmopolitischen Liberalismus«.

Auch hier schneidet das schnelle Urteil jeglicher Analyse den Weg ab. Man könnte zum Beispiel zunächst feststellen, dass in den westlichen Gesellschaften die klassische Industriearbeiterschaft und ihre Berufswelt infolge kapitalistischer technologischer Neuerungen – Rationalisierung, Automatisierung und neuer globaler Arbeitsteilung – dramatisch geschrumpft ist, dass daneben neue und alte Dienstleistungsberufe aufgekommen sind und insgesamt eine Akademisierung der Berufswelt auf Kosten der klassischen Fachberufe stattgefunden hat. Damit haben aber auch deren Lebensführungsmodelle, Werte und Moral an Bedeutung und normsetzender Kraft verloren, andere hingegen gewonnen.

Weiter könnte man der These nachgehen, dass infolge der gravierenden Umwälzungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Verlust- und Deklassierungserfahrungen nicht notwendig (nur) einen materiellen Ausdruck haben. Oder weiter: Dass die Auseinandersetzungen eben nicht schnurstracks entlang der Linie Akademiker-Nichtakademiker stattfinden, sondern zum Beispiel auch zwischen dem alten, wert- und nationalkonservativen Bildungsbürgertum, welches überdurchschnittlich die AfD wählte, und dem neuen grün-links-liberalen Bildungsbürgertum.

Grenzen und Grenzenlosigkeit

Wer von einer Klasse spricht, meint immer auch eine andere und also einen Konflikt zwischen beiden, wobei hier dann, und das ist das dritte wiederkehrende Motiv des Anti-Kosmopolitismus, der Kosmopolitismus als die den Interessen und Bedürfnissen der Beschäftigten entgegengesetzte Denkweise hingestellt wird. Der Fehler der Kosmopoliten, der angeblichen »Gewinner der Globalisierung«, so die Behauptung, sei es, so etwa Heisterhagen, dass diese »nur noch Toleranz und Weltoffenheit gepredigt haben und alles andere darüber vergaßen«.

Grenzenlosigkeit, schrieben die Anti-Kosmopoliten, sei die »Geschäftsgrundlage der multinationalen Konzerne« (Stegemann/Wagenknecht). Sie ermögliche ihnen Steuervermeidung und andere Bereicherungstricks. Ist es indes nicht gerade umgekehrt, sind es nicht gerade die nationalstaatlichen Grenzen, die Wettbewerb um niedrigste Steuersätze ermöglichen, deren Existenz die Voraussetzung für internationale Steuertricks ist, die, gäbe es zum Beispiel eine europäische Besteuerung für Unternehmen, die in mehreren Ländern tätig sind, ausgeschlossen werden könnten? Und ist nicht gerade die Affirmation nationalstaatlicher Grenzen der beste Garant für die Fortexistenz sozialer Ungleichheit zwischen verschiedenen Volkswirtschaften und Sozialstaaten?

Sicherlich, das Kapital will sich frei bewegen können. Doch mit der kurzschlüssigen Argumentationsfigur, dass deshalb offene Grenzen neoliberal sind, hätte man gegen die Öffnung der DDR-Grenze mobilisieren müssen. Der Fall der Mauer war ein entscheidender Durchbruch für den neoliberalen Kapitalismus. Das global verfügbare Arbeitskräftepotenzial verdoppelte sich schlagartig und erhöhte den Konkurrenzkampf auf den nationalen und internationalen Arbeitsmärkten enorm.

Kritisches Hinterfragen

Es soll hier für kritisches Hinterfragen und Bedenken der Widersprüchlichkeiten geworben und keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass es von jener sozial-kulturellen Figur, die da an die Wand gemalt wird, sogar ein paar lebende Exemplare gibt. Die Frage ist, ob auch das ganze Bild eine empirische Prüfung übersteht, ob hier mit klaren Begriffen agiert wird, mit Kategorien der Kritik. Und vor allem: Ist denn wirklich schon so umfassend in Vergessenheit geraten, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine Debatte über Kosmopolitismus gab, in dem die dialektische Beziehung zwischen weltgesellschaftlicher Utopie und den unterschiedlichen Existenzweisen eines Kosmopolitismus schon ausführlich Thema war?

Wolfgang Fritz Haug hat 2009 einen Vorschlag gemacht. »Angesichts der realen Verhältnisse ist der Gedanke einer Weltbürgerschaft, die tatsächlich ihrem Begriff entspräche, auf den Status des virtuellen Gegenstandes eines idealistischen Diskurses verwiesen«, hieß es damals durchaus skeptisch. Denn »als real praktizierte ist Weltbürgerschaft gespalten – hier der gut gepolsterte partikulare Kosmopolitismus des transnationalen Kapitals, dort der Notkosmopolitismus der migrierenden Arbeitskräfte und der politischen Flüchtlinge«, so Haug.

Aber das sei ja noch kein Argument gegen Kosmopolitismus. Richtig sei zwar, dass jede zur Herrschaft drängende Klasse »nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft« auftritt, wie es in der »Deutschen Ideologie« heißt, daran erinnert Haug. Weshalb also auch »die Machtelite des transnationalen Kapitalismus nicht als das« auftritt, »was sie ist, sondern als Vertreterin der ganzen Menschheit«.

»The great civilising influence of capital«

Doch dies »ideologiekritisch festzustellen, heißt keineswegs, den Kosmopolitismusdiskurs für dummes Zeug zu erklären. Sein idealistischer Überschuss tendiert über seine ideologische Funktion hinaus. Das Ringen darum, den ›Weltbürgerrechten‹ des globalen Proletariats Realität zuwachsen zu lassen und das Imperium zu zivilisieren, findet in diesem Überschuss Ansprüche, die das Imperium nicht negieren kann, ohne seine hegemoniale Bindekraft aufs Spiel zu setzen.«

Und weiter: »Die weltbürgerliche Idee geht daher ein Stück weit mit einem epochal herrschenden Interesse, dem des transnationalen Kapitals, konform. Ihr Idealismus entgeht nicht dem Widerspruch, auf kapitalistischer Welle möglichem Wirklichkeitsgewinn entgegenzureiten, doch das muss ihn nicht desavouieren. Wie, wenn nicht über die Nationalstaaten, soll ein, sei es auch schwaches, Weltbürgerrecht vordringen? Und welche Macht soll den kosmopolitischen Idealismus auf ihrem Rücken tragen, wenn nicht das transnationale Kapital in dem Maße, in dem es sich systemisch festsetzt und politisch-juristisch einbettet? Kosmopolitismus oder Weltbürgertum ist die Idee, der fragmentierte Kosmopolitismus der partiellen Globalisierung die Realität. In der Wechselwirkung der beiden ungleichen Instanzen wirkt sie, bei aller Zweideutigkeit, weiter, »the great civilising influence of capital«, wie es bei Marx heißt.«

Widersprüchlichkeit des real existierenden Kapitalismus

Was hier gesagt wird, steht sozusagen quer zum Anti-Kosmopolitismus, weil man sich nicht mit der schönen Einfachheit einer »neuen« Konfliktlinie begnügt, die schnell selbst zur Waffe in politischen Deutungskämpfen wird. Sondern es wird eine Widersprüchlichkeit des real existierenden Kapitalismus zur Kenntnis genommen, der man ohnehin nicht entfliehen kann – eben weil die bestimmenden ökonomischen Verhältnisse global sind und sich nicht auf die Lokalität einhegen lassen, die Streeck beschwört.

Zu Haugs partikularen Kosmopolitismus des transnationalen Kapitals auf der einen und dem Notkosmopolitismus der migrierenden Arbeitskräfte auf der anderen Seite könnte man noch eine dritte Daseinsweise des Kosmopolitismus hinzufügen: die – wenn man so will – »objektive« weltgesellschaftliche Existenz der Lohnabhängigen, die von den Kritikern des Kosmopolitismus als diesem entgegengesetzte Interessensgruppe hingestellt werden. Stehen sie wirklich auf einer »anderen Seite«? Gibt es die Barrikade überhaupt?

Wenn man das, was aktuell als das Kommunitaristische gilt (auch hier wäre eine kleine Reise durch die Geschichte des Begriffs erhellend), als »ein besonderes ökonomisches wie kulturelles Interesse an der Erhaltung nationalstaatlich eng kontrollierter Grenzen« beschreibt, wäre doch mindestens zu fragen, inwieweit das ökonomische Interesse überhaupt nationalstaatlich bearbeitet werden kann.

Solange aber kein Weltstaat existiert…

Es geht also um die Dialektik politischer Handlungsfähigkeit im globalen Kapitalismus – und man kann hier Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt aus ihrem neuen Buch »Gescheiterte Globalisierung« zitierten: »Es gibt keinen Mechanismus«, schreiben sie gleich zu Beginn, »der dafür sorgen könnte, dass die auf nationaler Ebene gefundenen Preise, Löhne und Zinsen sich so ergänzen, dass schwere Konflikte zwischen den Staaten verhindert werden können. Daher ist die internationale Koordination der Politik unumgänglich, wenn eine Weltordnung angestrebt wird, die den intellektuellen und kulturellen Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, den Handel mit Gütern und Dienstleistungen zum Vorteil aller daran Beteiligten und die Bewegungsfreiheit des Einzelnen über die nationalen Grenzen hinweg ermöglicht.«

Und weiter schreiben Flassbeck und Steinhardt: »Solange aber kein Weltstaat existiert – und der ist mindestens so weit von seiner Realisierung entfernt wie eine totale dezentralisierte Organisation des Gemeinwesens –, muss es zwischen beiden eine Ebene geben, auf der die Entscheidungen getroffen werden, die nicht einem einzelwirtschaftlichen Interesse entspringen, sondern der Einsicht, dass ein arbeitsteiliges Wirtschaftssystem nur dann funktionieren kann, wenn gesamtwirtschaftliche, also nur für eine regionale Einheit existierende Zusammenhänge bei der Entscheidungsfindung angemessen berücksichtigt werden.«

»Keynesianismus in einem Land« wird scheitern

Die Pointe wäre also nicht ein »Keynesianismus in einem Land«, der so scheitern muss wie der historische Sozialismus in einem Land, wäre nicht, sich zwischen den angeblichen Lagern »kosmopolitisch« versus »kommunitaristisch« zu entscheiden, sondern die gegenseitige Durchdringung, die Wechselseitigkeit zur Kenntnis zu nehmen, den darin enthaltenen Widerspruch zu bearbeiten.

Wer sich die wirtschaftspolitische Einhegung auf der Ebene des Nationalstaats vornimmt, wofür es gute Gründe gibt, kommt nicht umhin, die globale Form der Ökonomie mitzudenken, auf die progressive Veränderung abzielt. Das nicht zuletzt deshalb, weil linkes Agieren auf der nationalstaatlichen Ebene nicht davon absehen kann, dass die Spielräume, die man dort nutzen will, zu einem großen Teil aus der Aneignung eines globalen Reichtums resultieren, der woanders produziert wird, dessen Produktion woanders schwere ökologische, soziale und politische Folgen hat.

So könnte am Ende auch Wolfgang Streeck zu dem ihm gebührenden »Recht« kommen. Wendet sich seine Kritik doch auch gegen eine mit dem selbsthaupteten Weltbürgertum von Individuen einhergehende Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber konkreten politischen Gemeinschaften, etwa wenn es um die Bekämpfung des Nationalpopulismus geht: »Politisches Handeln ist an verortete Gemeinschaften gebunden – Verständigungs-, Verantwortungs-, Verpflichtungs- und Praxisgemeinschaften.« Darin steckt ja irgendwie auch: Global denken – lokal handeln.

Die Unaufhebbarkeit von Näheverhältnissen

Oskar Negt hat sich immer mal wieder mit den Problemen des »proletarischen Internationalismus« beschäftigt, dabei das widersprüchliche Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen, von universellem Anspruch und konkreter Mannigfaltigkeit betont: »Doch die konkrete Alltagsarbeit im sozialen Kampf, die sich ja nur auf einen eindeutig benennbaren Gegner ausrichten lässt – an Ort und Stelle und im Maßverhältnis der gegebenen Machtkonstellationen -, war aus guten Gründen sehr stark durch nationale Traditionen, durch Sprache und Kultur eines Landes und durch die unterschiedlichen geschichtlichen Kontexte bestimmt«.

Und weiter schreibt Negt in »Der Politische Mensch«: »Das Besondere, die konkreten Erfahrungen der Menschen hier und heute, rückt in den Vordergrund. In allen sozialen Bewegungen steckt diese hohe Wertigkeit des Besonderen, auch wenn sie, wie die deutschen Gewerkschaften beispielsweise mit Flächentarifverträgen, am Universalismus von Kampfresultaten festhalten wollen. Aber in der Sache liegen eindeutige Grenzen für Abstraktionen und Verallgemeinerungen, deren Verbindlichkeit und Lebensfähigkeit nur dann gesichert ist, wenn die Mannigfaltigkeit des Besonderen dabei gewahrt bleibt. Die Unaufhebbarkeit von Näheverhältnissen macht die länderübergreifende Zusammenarbeit wesentlich komplizierter, was nicht an der Borniertheit oder Traditionsversessenheit der Akteure liegt, sondern in der Sache begründet ist.«

Die »Unaufhebbarkeit von Näheverhältnissen« als »in der Sache begründet« zu begreifen, stellt den entscheidenden Unterschied zu jeglichem Ethnozentrismus oder Nationalismus dar. Denn sie schließt die Fähigkeit und Offenheit für Empathie auf der Basis des universellen Gleichheitsversprechens nicht aus, im Gegenteil.

Unverzichtbare moralische Grundsätze linken Handelns

Die Welt mit den Augen des Anderen betrachten zu können und zu wollen, macht den eigentlichen Kern jeglichen kosmopolitischen Denkens aus. Wer etwa die europäische Krise und die nationalpopulistischen Erfolge in vielen Ländern verstehen will, muss sich nicht zuletzt auch damit beschäftigen, wie Deutschland die aus seiner ökonomischen Stärke folgende europäische Führungsrolle mit dem Durchsetzen eigener Ordnungsvorstellungen verwechselt hat, seit 2010 bei der Asylpolitik wie bei der Austeritätspolitik, und wie dies wohl auf Spanier, Griechen, Portugiesen, Italiener wirkte, die ihre Arbeitsplätze infolge der Sparpolitik verloren oder sich mit »den Flüchtlingen« allein gelassen fühlen, aber die deutschen Regierungsmitglieder, die diese Politik in Brüssel durchsetzen, nicht belangen können – oder eben bestenfalls indirekt, indem nationalistische, antieuropäische Parteien im eigenen Land gestärkt werden.

Aus solcher Art Blickwechsel würde für linkes Handeln zum Beispiel folgen können, dass – auch im wohlverstandenen nationalstaatlichen Interesse – die Antwort in einer qualitativen Stärkung einer europäischen Ökonomie des Teilens bestehen kann. Oder zumindest ein politisches Handeln, dass sich immer wieder selbst kritisch befragt, ob es den unverzichtbaren moralischen Grundsätzen linken Handelns genügt: der Anerkennung der Gleichheit aller Menschen und ihres gleichen Rechts auf ein besseres Leben.

Geschrieben von:

Horst Kahrs

Sozialwissenschaftler, Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Tom Strohschneider

Journalist

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