Wirtschaft
anders denken.

Und »die Westdeutschen«? Eine Umfrage aus dem Sommer 1989

16.06.2019
Ildigo, pixabay.com

Man redet gern über »die Ostdeutschen« – Rechtsruck, Wahlen und Wende-Jubiläum geben ein Raster vor. Aber wie tickten die »Brüder und  Schwestern« im Westen 1989?

»Die Ostdeutschen« sind derzeit ein Lieblingsgegenstand gefühlssoziologischer und hobbyethnologischer Betrachtungen. Es gibt dafür weniger gute Gründe, eher nachvollziehbare Anlässe – diese lassen sich als Eckpunkte eines medialpolitischen Dreiecks beschreiben: AfD-Umfragewerte, Wende-Jubiläum, Herbst-Landtagswahlen.

Man redet viel darüber, ob das eine (Rechtsruck) mit dem anderen (Transformationsprozess) irgendwie zu tun haben könnte. Was treibt »die Ostdeutschen«? Die einen warnen davor, alles mit den Vereinigungsfolgen zu er- bzw. zu verklären; die anderen erinnern daran, dass 13 Umfrageprozent für die AfD in Hessen von 18 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern auch nicht gerade weit entfernt liegen. 

Betrachtungen über die Altländerseele findet man weit weniger oft, kaum jemand scheint auf die Idee zu kommen, analog zur Nachwende-Zwangskollektivierung »die Ostdeutschen« auch »die Westdeutschen« als monolithische Großgruppe unters Gesellschaftsmikroskop zu legen. An 1989ff werden sie noch seltener gemessen, die Ost-Wende erscheint als für die kollektiven BRD-Gemütszustände unmaßgeblich.

Das wiederum stärkt und hat etwas mit den blinden Flecken eines Geschichtsbildes zu tun, in dem der historische Vorgang zwar vom gemeinsamen Ende her erzählt wird (Vereinigung), die »anderen« Brüder und Schwestern aber in dem Panorama fehlen oder höchstens als schlecht singende Politikerstaffage auf Berliner Balkonen drapiert sind. Wer auf die Wende zurückblickt, sieht eigentlich nur einen Westdeutschen: Helmut Kohl. 

Was dachten die »die Westdeutschen« 1989?

Aber hatte der nicht wenigstens einen Koch dabei, könnte man mit Brecht fragen. Und was wissen wir über all die Leute »in der Westküche« damals, was dachten sie von der Welt?

Zum Beispiel dies: Im Juni und Juli 1989 wurden im Auftrag von ForscherInnen der Gießener Uni Westdeutsche über ihre politische und wirtschaftliche Lage befragt, darüber, was sie besorgt, was sie erwarten, was ihnen wichtig ist. Die Befragten sollten angeben, ob sie Sätzen wie »Es wird gelingen die Umweltprobleme zu lösen« oder »Es wird immer weniger Arbeitsplätze geben, noch mehr Menschen werden arbeitslos werden« zustimmen oder nicht. Gefragt wurde auch nach Meinungen über Erwerbslose, über die Umweltbewegung, über Lobbyismus, Armut und die Gewerkschaftspolitik. 

Zum Befragungszeitraum im Frühsommer 1989 hatte niemand den bevorstehenden Aufbruch in der DDR auf der Rechnung. Das Bild, dass sich in den Antworten zeigt, ist also noch Wende-unbefleckt, wir schauen direkt in den Kopf der alten BRD. Wie sah es dort damals aus?

»Insgesamt überwiegen die pessimistischen Aussagen«, so werden die Ergebnisse in einem 1995 erschienenen Sammelband zusammengefasst. Mehrheitlich hoffnungsvoll waren »die Westdeutschen« damals »nur in der Meinung, dass die Welt nicht in einem Atomkrieg untergehen wird und dass wir den Kampf gegen die AIDS-Krankheit gewinnen werden«.

Die Umweltbewegung kann viel bewirken

Und sonst? Die negativen Zukunftserwartungen seien »am ausgeprägtesten in den Bereichen Umweltzerstörung und Arbeitslosigkeit zu finden«. Stärkste Zustimmung »erfahren die Aussagen, dass aus Profitinteresse viel Schädliches produziert wird sowie dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Viel Zustimmung erfahren auch die Aussagen, dass wir uns auf dem Weg in eine totale Ellenbogengesellschaft befinden, dass der technische Fortschritt immer mehr Arbeitsplätze kaputt macht, dass die entstandene Armut zu großen sozialen Spannungen führen wird, aber auch«, dass unter anderem die Umweltbewegung »viel bewirken könnte«. Stark abgelehnt werde »die Aussage, dass unsere Wirtschaft eine wesentliche Verringerung der Rüstungsaufgaben (sic) überhaupt nicht verkraften könnte«.

Einerseits: »Die Bundesbürger zeigen mehrheitlich eine kritische Haltung gegenüber der ökonomischen Entwicklungslogik; sie sehen eng damit verbunden soziale und ökologische Folgeprobleme.« Andererseits war die Haltung verbreitet, dass es »wirksame Handlungsmöglichkeiten« dagegen gebe, etwa »in der Demokratisierung des Wirtschaftslebens«. Den Befragten »erscheinen die alten Ideologismen des Wirtschaftsliberalismus« mehrheitlich »als obsolet«. 

Zur Erinnerung, die Umfrage ist von Sommer 1989 – und wie aktuell doch all das erscheint. Technologisch getriebener Wandel der Arbeitswelt, soziale Spaltung und deren politische Folgen, ökologische Krise und die Hoffnung auf eine grüne Bewegung… Viele der damals verbreiteten positiven Erwartungen, die Hoffnung auf einen gesellschaftspolitischen Kurswechsel, die Lösung zentraler ökonomischer und ökologischer Herausforderungen haben sich nicht oder nur teils erfüllt.

Die Entsolidarisierung der Westdeutschen

Was dies mit dem politischen Denken der Leute heute zu tun haben könnte, ist mit Kurzschlüssen nicht herauszufinden. Aber öfter einmal den Blick zu richten auf den Westen am Vorabend der Wende, darauf, was »die Westdeutschen« bewegt hat, mag dabei helfen, die politischen Folgen von Enttäuschung zu verstehen. Und es lenkt die Perspektive auf die langen Linien, die man von sozialen und ökonomischen Widersprüchen bis dorthin ziehen kann, wo sie in der Politik ihren Ausdruck finden.

Der Sammelband, herausgegeben von Elmar Brähler und Hans-Jürgen Wirth, trägt den schlichten Titel »Entsolidarisierung«. Die Texte folgen einem Anspruch, der auch ziemlich aktuell erscheint – auch für die Debatte über »die Ostdeutschen«. Es sei »üblich geworden«, heißt es in der Einleitung, »einen großen Teil der gesellschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Phänomene in den alten Bundesländern als Folge der Vereinigung zu beschreiben«. Der Westen sei »durch die latente«, »nur mühsam verborgene Fremdenfeindlichkeit in der ehemaligen DDR gleichsam infiziert worden«.

Solchen Zuspitzungen, heißt es dann weiter, liege »die Überzeugung zugrunde, dass es durch die Wiedervereinigung zu einer Überforderung der Westdeutschen gekommen sei« – unter anderem durch Transferleistungen in den Osten. Dadurch habe sich auch im Westen Solidarität »aufgelöst«. Dem wollen die AutorInnen eine gut begründete These entgegenstellen: »dass die Entsolidarisierung der Westdeutschen nicht erst nach der Wende stattgefunden hat«. 

Elmar Brähler, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende und danach, Opladen 1995. 

Foto: Ildigo, pixabay.com

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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