Wirtschaft
anders denken.

»Die Wirtschaft hat sich entschieden«: Rassismus, Klassenfrage und die Stichwahl in Brasilien

28.10.2018
Marcelo Camargo/Agência Brasil ,Lizenz: CC BY-SA 3.0 BRJair Bolsonaro

In Brasilien machen bereits »Einladungen zum ›letzten Rave vor Beginn der Diktatur‹« die Runde: Der Rechtsradikale Jair Bolsonaro könnte nächster Präsident des fünftgrößten Landes der Erde werden. Was treibt den Rechtsruck? Ein Oxi-Überblick.

Der letzte Stand der Dinge vor der Stichwahl am Sonntag ist hier bei der »Welt« zusammengefasst: Es gebe bereits »Einladungen zum ›letzten Rave vor Beginn der Diktatur‹«, heißt es dort unter anderem. Im Deutschlandfunk wird Bolsonaros Drohung gegen Linke in Brasilien geschildert, der Rechtsradikale kündigte am vergangenen Wochenende »eine große Säuberung« an und warnte, »diese linke Clique wird sich unseren Gesetzen unterwerfen müssen, wenn sie hierbleiben will. Sie müssen das Land verlassen oder sie werden in den Knast wandern«. Die Ausfälle hätten Bolsonaro zwar geschadet, auch wirke der Kandidat der linken Arbeiterpartei, Fernando Haddad, »plötzlich wesentlich angriffslustiger«. Doch die Trendwende, die Medien verkündeten, wird wohl zu spät kommen. 

In einem gemeinsamen Appell haben Intellektuelle, Politiker und Aktivisten wie José Bové, Noam Chomsky, Benoît Hamon, Naomi Klein und Chico Whitaker »die internationale Gemeinschaft, insbesondere Frankreich und die Europäische Union« aufgerufen, Maßnahmen zu ergreifen und brasilianische Demokraten zu unterstützen, »unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen. Dies gilt umso mehr, als die Ideen von Bolsonaro eine tödliche Bedrohung für Freiheit, Grundrechte, das Erreichen eines Gleichgewichts der Erde mit dem Klimawandel und der jungen brasilianischen Demokratie darstellen«. Der Appell findet sich hier im »Guardian«.

Bei der Grünen-nahen Heinrich Böll-Stiftung gibt es einen guten Überblick über den ersten Wahlgang inklusive einiger Hintergründe, wie es zum Aufstieg eines aggressiven, rechtsradikalen Hinterbänklers kommen konnte. Auch einige der rassistischen, frauenverachtenden, homophoben, gewaltverherrlichenden, gegen Ökologie und Menschenrechte gerichtete Ausfälle des Kandidaten einer sich »Sozial-Liberale Partei« nennenden Organisation sind hier gesammelt. Zum Stand nach der ersten Wahlrunde heißt es: »Weite Teile des Landes sind weit nach rechts gerückt. Mehr als 49 Millionen Menschen, 46 Prozent der Wahlberechtigten«, hätten Bolsonaro ihre Stimme gegeben. »Es war nicht ganz die absolute Mehrheit, und so wird er in drei Wochen noch einmal zur Stichwahl antreten müssen. Gegner ist Fernando Haddad von der Arbeiterpartei (PT) der 29 Prozent der Stimmen erhielt.«

Die faschistoide Rhetorik Bolsonaros spielt in den meisten Hintergrundberichten zur Lage in Brasilien eine hervorgehobene Rolle. In der »Süddeutschen« hat Sérgio Costa, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Sprecher des Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America, eindringlich das Paradigmatische daran geschildert: »Im neuen Format des Wahlkampfs geht es nicht mehr um politische Argumente, sondern, aus Sicht der Wähler, um die eigene Existenz in ihrer Gesamtheit. Eine parallele Wirklichkeit wird konstruiert, in der ganze Lebensformen – als Christ, als Kernfamilie, als Heterosexuelle, als Mitglied einer Nation – endgültig bedroht sind. Die Menschen – vor allem die männlichen Wähler, die ins Zentrum dieser Narrative rücken – werden zu Helden stilisiert, die mit ihrer Stimme und ihrer offensiven Haltung im Alltag die Bedrohungen bannen können.« Und weiter: »So zeigt dieser Wahlkampf, wenn auch in dramatisierter Form, woher der Rechtsruck in Brasilien und anderswo seine Triebkraft nimmt. Anstelle von Argumenten, Gerechtigkeitsmodellen und Konzepten für eine gemeinsame Zukunft bietet die Politik nun Emotionen, Desinformation, Rezepte für ein ›gutes Leben‹ und Auswege aus angeblich existenziellen Bedrohungen. Auf diesem Feld kann Bolsonaros Herausforderer, der nüchterne Politologie-Professor Haddad, die Stichwahl nicht gewinnen.«

Wenn Costa den Vergleich bemüht, Brasilien befände »sich heute in einer Situation, als würden wir in Deutschland plötzlich aufwachen und feststellen, dass die NPD die zweitstärkste Fraktion im Bundestag ist und Lutz Bachmann, der Pegida-Chef, kurz davor ist, der nächste Bundeskanzler und Bundespräsident in einem zu werden«, wird man aber über Wahlkampf-Zuspitzungen hinaus nach den materiellen Ursachen des Rechtsrucks suchen müssen.

In der Schweizer »WOZ« macht das Raul Zelik: »Auch in Brasilien sind Rassismus, die Klassenfrage und der Aufstieg der extremen Rechten eng miteinander verknüpft«. Zwar tauge die Migration für die brasilianische Rechte kaum als Mobilisierungsthema, statt der Flüchtlinge werde »die Funktion der ›äußeren Gefahr‹, die Wohlstand und Sicherheit bedroht, den FavelabewohnerInnen zugewiesen«. Das Elend der Favelas, »die vielerorts in die reicheren Viertel hineinreichen, soll mit Waffengewalt in Schach gehalten und räumlich zurückgedrängt werden. Am brasilianischen Fall lässt sich gut erkennen, worum es eigentlich auch im europäischen Grenzregime geht: Man will sich diejenigen vom Leib halten, die vom Wirtschafts- und Entwicklungsmodell zu Überflüssigen gemacht werden.«

Das ist die eine Seite der rechtsradikalen Seite, die andere markiert den ökonomischen Prozess, der diese Dynamik »durch Privatisierungen und neoliberale Reformen noch weiter beschleunigen« will. Es geht hier einerseits darum, Errungenschaften früherer Regierungen im Sozial- und Bildungsbereich zurückzudrehen. Zelik dazu: Der sozialdemokratische »PT habe unter den PräsidentInnen Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff zwar das Bildungswesen ausgebaut und Sozialprogramme durchgeführt. Aber diese Politik habe immer auf einem Klassenkompromiss beruht: Bausektor, Agrarbusiness, Bergbaukonzerne und andere Grossunternehmen wurden vom Staat enorm unterstützt, dafür bekämpfte er mit Sozial- und Wohnungsbauprogrammen die absolute Armut. Über einen sozialliberalen Ansatz reichte diese Politik nicht hinaus, eine Umverteilung des Reichtums oder Landbesitzes stand nicht auf der Tagesordnung. Politisch erkauft wurde der Pakt zudem durch Korruptionsangebote an die mit dem PT verbündeten Parteien der politischen Mitte, die sich in den letzten fünfzehn Jahren schamlos bereicherten.« Zudem war das sozialdemokratische Projekt des PT auf Extraktivismus gegründet – einerseits zu sehen an den ökologischen Folgen, andererseits an der Krise des Modells: »Zum Todesstoss für den PT wurde aber der Fall der Rohstoffpreise. Als Brasilien nicht mehr so viel Geld mit dem Export von Rohstoffen verdiente, haben die Großunternehmen das Bündnis mit dem PT aufgekündigt«, zitiert Zelik die linke Sozialwissenschaftlerin Camila Pereira.

Ein weiterer Punkt, der auf materielle Ursachen des Rechtsrucks verweist, schließt hier an: »Die Wirtschaft hat sich entschieden«, schreibt Carl Moses in der »Frankfurter Allgemeinen«. Noch schwer von der Wirtschaftskrise gezeichnet findet die Stichwahl statt – und von Kapitalseite wird Bolsonaro unterstützt, hofiert, erwartet: »Da die eigentlichen Favoriten der Märkte und der Unternehmerschaft bei dieser Wahl keine Chance mehr haben, freundet sich die Wirtschaft offenbar mit den Aussichten auf eine Regierung unter Bolsonaro an. Auf jede Umfrage, in der Bolsonaro vorne liegt, reagiert die Börse mit Kurssprüngen für brasilianische Aktien«; so Moses. Den Grund sieht er unter anderem darin, dass Bolsonaro »die Wirtschaftspolitik in die Hände des erfolgreichen Investmentbankers Paulo Guedes legen will. Dieser ultraliberale Chicago-Ökonom möchte am liebsten alle Staatsunternehmen veräußern und damit die Rentenkasse sanieren.« Moses erinnert daran, dass Bolsonaro allerdings früher erklärt habe, »man solle die Politiker erschießen, die in den neunziger Jahren die Privatisierung des Bergbaukonzerns Vale verantwortet hatten«. Ob der Rechtsradikale also solche »Reformen« mitmacht, steht durchaus dahin.

Interessant ist, was Moses in seinem schon etwas älteren Beitrag aus deutschen Unternehmenskreisen zitiert. Ein für Brasilien zuständiger, namentlich nicht genannter Manager eines hier beheimateten Konzerns, habe zur Wahl zwischen Bolsonaro und Haddad erklärt: »›Bei der PT weiß man schon, was auf einen zukommt, das ganze alte System von Korruption, Verschwendung und staatlicher Gängelei der Unternehmen.‹ Bei Bolsonaro gebe es zumindest Hoffnung auf eine positive Überraschung. ›Bolsonaro ist eine Wundertüte, bei der man nicht weiß, was für einen drin ist.‹«

In der selben Zeitung ist Dennis Kremer der Frage nachgegangen, warum die Börsen auf den rechtsradikalen Kandidaten so positiv reagieren. Dazu müsse man »verstehen, wie insbesondere die professionellen Anleger dieser Welt ticken. Täglich wägen sie ab, wie sich neue Informationen wie beispielsweise die Wahl eines neuen Präsidenten auf die wichtigste Kennziffer auswirken, die es an den Aktienmärkten gibt – die Entwicklung der Firmengewinne. Hat die neue Regierung ein ähnliches Programm wie die alte, passiert an den Märkten so gut wie gar nichts. Anders ist es dann, wenn das Programm des neuen Regierungschefs positive Auswirkungen auf die Firmengewinne erwarten lässt. Dann steigen die Kurse. ›Marktteilnehmer wissen, dass es einen perfekten Zustand ohnehin nicht geben kann‹, sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank. ›Ihnen reichen darum verhältnismäßig kleine, relative Veränderungen zum vorherigen Zustand für eine positive Reaktion.‹« Auch Kremer verweist auf Guedes, dieser wolle »beispielsweise Staatsunternehmen privatisieren und öffentliche Ausgaben kürzen. In der Sprache des Marktes ausgedrückt: Guedes will das Investitionsklima verbessern«.

Ebenfalls in der FAZ hat Tjerk Brüh­wil­ler die direkte Hilfe von Unternehmen für Bolsonaro geschildert. So seien »spezialisierte Firmen mit der massenhaften Verbreitung von Nachrichten und Falschmeldungen beauftragt« worden, um der Kampagne des Rechtsradikalen »Auftrieb zu geben. Die Aufträge im Wert von fast drei Millionen Euro sollen von Unternehmern bezahlt worden sein, die Bolsonaro nahestehen. Falls die Aufträge aus der Unternehmenskasse bezahlt wurden, hätten diese unmittelbar eine politische Kampagne finanziell unterstützt. Das ist im Gegensatz zu früheren Wahlen in Brasilien heute nicht mehr erlaubt und somit strafbar.«

Im »nd« schreibt Niklas Franzen mit Blick auf die ökonomische Lage Brasiliens und politische Umstände, die bei der Erklärung des Rechtsrucks helfen könnten: Das Land befinde »sich seit 2012 in einer schweren Wirtschaftskrise. Millionen von Brasilianern sind wieder auf Suppenküchen angewiesen, in den Krankenhäuser fehlen Medikamente, Beamte warten seit Monaten auf ihre Löhne. Symbolhaft für den brasilianischen Abstieg steht der Brand im Nationalmuseums von Rio de Janeiro. Das geschichtsträchtige Bauwerk brannte Anfang September komplett aus, weil es kein Geld für die Instandhaltung gab. Die Wut der Bevölkerung auf die politische Klasse ist nach spektakulären Korruptionsskandalen groß. Die Hälfte der 594 Kongressmitglieder steht unter Verdacht, sich bereichert zu haben.«

In einer Kurzanalyse für die Linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung verweist Franzen auch auf weitere Unterstützer Bolsonaros: »Der Reservist genießt auch die Unterstützung der mächtigen Agrarlobby, welche die größte überparteiliche Fraktion im brasilianischen Kongress stellt. Bolsonaro hat angekündigt, «keinen weiteren Zentimeter» für indigene Territorien auszuweisen, den Amazonas weiter abzuholzen und Greenpeace aus dem Land zu werfen. Der Klimaskeptiker will außerdem aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen und das Umweltministerium dem Agrarministerium unterstellen, wo reaktionäre Agrarmultis den Ton angeben. Mit seinem bunten Potpourri an umweltfeindlichen Positionen hat Bolsonaro treue Verbündete in der Hauptstadt Brasília und auf den fazendas im brasilianischen Hinterland gefunden. Für UmweltschützerInnen und Indigene könnte der Schulterschluss fatale Folgen haben. Brasilien ist bereits jetzt die tödlichste Region für UmweltaktivistInnnen. Mit einer Präsidentschaft Bolsonaros könnten Landkonflikte und Menschenrechtsverletzungen noch weiter zunehmen.«

In der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung heißt es mit Blick auf den PT-Kandidaten Haddad, dieser verspreche »die Rückkehr zu einem glücklicheren Brasilien – gemeint sind die Jahre des Rohstoff-Booms. Damit appelliert die PT an die positiven Erinnerungen vieler Millionen Brasilianer, die unter der Regierung Lula einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebten. Eine Antwort darauf, wie eine Neuauflage der damals so beliebten und mitunter auch erfolgreichen Sozialprogramme nach dem Ende des Booms, so kurz nach der Wirtschaftskrise und angesichts des horrenden Haushaltsdefizits finanziert werden sollen, bleibt die PT schuldig.«

In der »Frankfurter Allgemeinen« ergänzt Paul Ingendaay zu den klassenpolitischen Hintergründen des Rechtsrucks: »Trotz des Erstarkens der Mittelklasse in den Lula-Jahren bleibt Brasilien scharf in soziale Lager geteilt. Man spricht von den Klassen A bis E. Während A einen Gutteil des Vermögens kontrolliert, nagt E am Hungertuch, und die Klassen dazwischen rangeln verzweifelt um die besseren Plätze. Auch das Rassismusproblem ist nicht gelöst. Gerade in der Krise erweist sich die Erzählung von der brasilianischen Toleranz als Fiktion: Wie die großen Ballungsräume zeigen, verschanzt sich das weiße Brasilien in klimatisierten Einkaufszentren und überlässt die Straße, die von 18 Uhr an im Dunkeln liegt, dem ›Volk‹. Um dabei zu sein, wenn der Umschwung kommt, werden viele aus der Mittelklasse ihre Stimme Bolsonaro geben.«

Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil / CC BY 3.0 br

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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