Wirtschaft
anders denken.

Die Zukunft lässt sich nicht er-warten

06.04.2020
degrowthFoto: Paul Sableman / CC BY 2.0

Nicht gescheitert, aber falsch erzählt. Was Degrowth vom Demokratischen Sozialismus von Corbyn und Co. lernen kann.

„Statt einen leckgeschlagenen, zunehmend manövrierunfähigen Tanker umlenken zu wollen, sind autonome Rettungsboote, die sich unterhalb des politischen Radars dezentral und kleinräumig entfalten können, die effektivere, erst recht verantwortbarere Strategie.“ Interview mit Niko Paech

Es gibt kein endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten. Wachstumskritik, besonders unter dem Begriff „Postwachstum”, ist in Deutschland im Laufe der vergangenen Jahre in bestimmten Kreisen zunehmend anschlussfähig geworden. Erzählt wird diese Botschaft häufig als Mahnung, dass „wir“ über unsere Verhältnisse und auf Kosten anderer leben. Individuelle Suffizienz, also ein Weniger an materiellem Wohlstand, wird als Pfad zu einer Gesellschaft jenseits des zerstörerischen Wachstums formuliert. Davon fühlen sich vor allem ökologisch besorgte und materiell gut abgesicherte Menschen angesprochen, sodass sich „bewusster“ Konsum, Veganismus und kleine alternative Projekte wie Solidarische Landwirtschaften und Repair Cafés wachsender Beliebtheit erfreuen. Dabei neigt Postwachstum aufgrund eines mangelhaften Verständnisses der Ursachen der gegenwärtigen Krisen (Ja, der Kapitalismus!) und einer Verengung auf die Wachstumsfrage dazu, sich auf den Aufbau von Freiräumen, Kleinstprojekten oder „suffizienten Halbinseln“ (Niko Paech) zu beschränken. Diese sollen als Rettungsboote dienen, wenn der Tanker Gesellschaft in absehbarer Zukunft untergeht. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und auch die gegenwärtige Corona-Pandemie sollte uns jedoch als Mahnung dienen: Krisen sind nicht automatisch Befreiungsmomente. Vielmehr ist dieser Ansatz zynisch und geht auf Kosten der Schwächsten. Dass die politisch erfolgreiche Alternative („für Deutschland“) Klimakrise in Leugnung und soziale Härte in Abschottung und Gegeneinander kanalisiert zeigt, dass mit Wachstumskritik allein keine linke Politik zu machen ist. Auf viele Menschen wirkt Postwachstum unattraktiv und arrogant statt ermutigend und aktivierend.

Degrowth: Ein Ansatzpunkt für Kapitalismuskritik?

Über den Appell an den individuellen Lebensstil hinaus geht die radikalere – häufig ebenfalls akademisch, weiß und bürgerlich geprägte – Degrowth-Bewegung. Etwa mit dem Aktionsbündnis Ende Gelände blockiert sie symbolisch fossile Infrastrukturen und fordert lokal gerechte Übergänge für die Beschäftigten in der Kohleindustrie sowie globale Klimagerechtigkeit. „System Change not Climate Change“ ist ihr wichtigster Slogan. Degrowth soll als Einstieg in eine umfassendere Kapitalismuskritik dienen. In der Realität werden jedoch auch hier seit Jahren die immer gleichen Diskussionen um die Vor- und Nachteile des wachstumsfokussierten Begriffs De-Growth und um die individuelle Verantwortung für die Krise und deren Lösung geführt. Allzu häufig bleibt es bei der (notwendigen) Blockade fossiler Infrastruktur, der (notwendigen) Verteidigung von Freiräumen sowie eher realitätsfernen wissenschaftlichen Detaildiskussionen. Obwohl in jüngster Zeit erste ermutigende Schritte getan werden, wie die Erstellung eines „Klimaplans von unten“ oder die Ausrichtung der Degrowth-Konferenz auf die Frage nach Strategien, bleibt die Frage nach einer machbaren Gesellschaftsvision und nach dem Pfad zum geforderten System Change offen. Ohne ein politisches Projekt formulieren zu können, das an den Sorgen und Nöten der Vielen ansetzt, wird Degrowth politisch nicht erfolgreich sein. Dafür aber muss es über Wachstumskritik und die Ablehnung des Status Quo hinausgehen und greifbare, umsetzbare politische Maßnahmen für den Weg in eine postkapitalistische Zukunft formulieren, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Die richtigen Fragen stellen

Viel lernen kann und sollte die Degrowth-Bewegung aus dem Aufflammen radikaler, linker Politik in der Labour Partei in England, bei Bernie Sanders oder in den verschiedenen Bewegungen rund um den Green New Deal. Utopische Visionen, wie post-work-Narrative (zum Beispiel bei Nick Srnicek) oder der provokativ formulierte vollautomatisierte Luxuskommunismus (Aaron Bastani) leiden zwar an übersteigertem Technikoptimismus, stellen aber wichtige kritische Fragen, die auch für die Degrowth-Bewegung relevant werden müssen: Wie kann linke Politik im Kontext des neoliberalen Kapitalismus schlagkräftig werden? Welche Angebote kann sie den Menschen machen, die unter dem Status Quo leiden? Welche Rolle spielt der Staat und wie lassen sich Mehrheiten für einen gesellschaftlichen Wandel finden? Dabei muss ein linkes Projekt im Hier und Jetzt ansetzen. Mit Marx lässt sich feststellen, dass Menschen Geschichte machen – aber immer unter gegebenen Umständen. Staat und Markt lassen sich auf absehbare Zeit nicht einfach ignorieren, auch und gerade wenn perspektivisch ihre Überwindung das Ziel ist. Vielmehr gilt es, mit Rosa Luxemburg gesprochen, „die politische Kleinarbeit des Alltages“ – auch in den Parlamenten – „zum ausführenden Werkzeug der großen Idee“ zu machen.

Linke Perspektiven auf den Staat

„Das Projekt des vollautomatisierten Luxuskommunismus muss sich […] in die Mainstream-Arena der parlamentarischen Politik begeben“: „Eine gute Karte muss ihrer Nutzerin die nächsten Schritte weisen und diese genauso klar und deutlich aufzeigen wie das anvisierte Ziel.“ Aaron Bastani, „Fully Automated Luxury Communism – A Manifesto“

Linke Versuche, den Staat als Terrain für gesellschaftlichen Wandel zu erobern, werden mit Recht kritisch gesehen. Ob der grüne Marsch durch die Institutionen oder der real-existierende Sozialismus – die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von gescheiterten Versuchen, den Staat als Vehikel für emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung zu nutzen. Dies und die scheinbar nicht zu brechende Hegemonie des Neoliberalismus haben dazu geführt, dass linke, so auch die Degrowth-Bewegung, sich aus der etablierten Politik weitgehend heraushalten. Doch ohne oder nur gegen den Staat geht grundlegender gesellschaftlicher Wandel auf absehbare Zeit eben auch nicht. Zudem zeigen die gegenwärtigen Reaktionen auf die Corona-Pandemie einmal mehr, dass der Staat nach wie vor handlungsfähig ist und sich auch jenseits neoliberaler Sparzwänge bewegen kann. Der Staat kann, muss und wird aktiv gestalten. Deswegen sollten auch wir den Staat gestalten – auch aber nicht nur, um ein weiteres Abdriften ins Autoritäre zu verhindern. Wenn Agieren in institutionalisierter Politik hier hervorgehoben wird, so bedeutet das keinesfalls, dass dies auf Kosten anderer Taktiken einseitig priorisiert werden sollte. Besetzungen, direkte Aktionen und der Aufbau von Orten der Ruhe und Solidarität wie Nachbarschaftsgärten, Kulturkollektive, Repair Cafés und andere nichtkommerzielle Orte gehören alle zu einer erfolgreichen linken Strategie. Hier werden Solidarität, politische Handlungskraft und Mobilisierungspotential von unten aufgebaut. Um linker Politik eine konkrete Transformationsperspektive zu geben, von der sich viele Menschen begeistern lassen braucht es jedoch auch Politik, die sich in die Parlamente traut.

Die Utopien des demokratischen Sozialismus

Der Aufstieg des Rechtspopulismus und das Zerbröckeln des neoliberalen Narrativs führen derzeit andernorts dazu, dass linke Bewegungen sich wieder jenseits von lokaler Basisdemokratie, Widerstand und Verteidigungskämpfen ernsthaft und mit neuer Dringlichkeit mit Machtperspektiven im Bestehenden auseinandersetzen. Am offensichtlichsten ist dies in Großbritannien und den USA, den Mutterländern des Neoliberalismus. Der Aufstieg der Bewegung um Jeremy Corbyn als Parteivorsitzendem der Labour Partei hat jüngst gezeigt, dass radikal linke Ideen auch in der institutionalisierten Politik erfolgreich sein können. Trotz der im Dezember 2019 verlorenen Wahl ist die Idee des demokratischen Sozialismus nicht gescheitert. Im Gegenteil: Unter Corbyn ist die Parteibasis durch die Beitritte vor allem von jungen Menschen auf 500.000 angewachsen, während in nahezu allen anderen europäischen Staaten die Mitgliederzahlen sozialdemokratischer und anderer linker Parteien schwinden. Die Debatte um konkrete Politiken, wie die Vergesellschaftung der öffentlichen Daseinsvorsorge konnte die Bewegung den Umfragen nach gewinnen. Zudem hat sich ein reichhaltiges Ökosystem an aktivistischen Gruppen, linken Medien und Think Tanks um das Corbyn-Projekt entwickelt, das auch weiterhin auf eine Regierungsübernahme hinarbeitet. Auch in Bezug auf das Wahlergebnis erreichte die Labour Partei Werte, von denen die politische Linke in Deutschland nur träumen kann. Labour hat eine reale Machtperspektive, die die Umsetzung von radikalen Politiken, wie einen ernstzunehmenden Green New Deal, kostenfreies Internet für alle und die 30-Stunden-Woche greifbar macht.

Vollautomatisierter Luxuskommunismus als Zukunftsversprechen

Die Politik des demokratischen Sozialismus um Corbyn, Sanders und Co. ist inspiriert von Erzählungen und Theorien wie Post-Work-Narrativen oder der Kritik am Plattformkapitalismus, in dem Konzerne wie Amazon oder AirBnB selbst einen Markt besitzen und an jedem Verkauf verdienen ohne etwas zu produzieren. Besonders provokant ist dabei der Entwurf eines vollautomatisierten Luxuskommunismus, der, vereinfacht gesagt, davon ausgeht, dass die Automatisierung Lohnarbeit überflüssig machen wird und damit dem Kommunismus den Weg bereitet. Zwar ist die Annahme fortlaufender Automatisierung in allen Bereichen aus Degrowth-Perspektive frag- und kritikwürdig, doch der Gedanke dahinter ist einleuchtend: Technische Innovationen, wie zum Beispiel die globale Bereitstellung mobilen Internets sind als öffentliche Güter besser beim Staat aufgehoben. Wenn die Produktion von Laptops und Elektrobussen vollautomatisiert wird, braucht es keine entfremdete Arbeit in Fabriken und Minen mehr. Die Erkämpfung von Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel werden damit zu naheliegenden Leitzielen der Politik.

Diese neuen linken Narrative bieten einerseits scharfe Analysen des Status Quo und eine utopische Vision einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit. Zugleich warten sie mit direkt umsetzbaren, realen Politiken auf, die auch jetzt schon das Leben der Mehrheit der Menschen verbessern könnten. Im Gegensatz zum Degrowth-Diskurs gelingt es, machbare Politiken wie die Reduzierung der Wochenarbeitszeit, die Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge und ihre entgeldfreie Bereitstellung für alle als zusammenhängendes linkes Programm und greifbare Alternative zum Rechtspopulismus und zum neoliberalen Status Quo in Stellung zu bringen.

Eine greifbare Machtoption entwickeln

Die internationale, linke Bewegung setzt auf die Verbindung einer konkreten Utopie, „eines Sozialismus, den wir noch erleben“, mit einer realistischen Strategie im Hier und Jetzt (alle Zitate in diesem Absatz stammen aus der Ankündigung der Neuerscheinung des Jacobin Magazins auf Deutsch). Mit der Perspektive einer „gerechteren, freundlicheren Gesellschaft“, der klar formulierten Benennung des Gegners und detailliert ausgearbeiteten politischen Schritten knüpft sie an die Lebensrealität „der Vielen“ an. „Mit Sinn für die Dringlichkeit“ und „ohne Phrasen und internes Hickhack“ wird eine „pragmatische, radikale Politik für die Masse der Menschen“ entwickelt. Dabei handelt es sich um „ein ebenso einfaches wie ehrgeiziges Programm: Die Macht den Vielen. Der großen Mehrheit derer, die von Lohn, Gehalt oder Leistungen leben, statt von Eigentum und großen Erbschaften, das heißt: den Arbeiterinnen.“ Die Strategie ist, „eine greifbare Machtoption“ zu benennen und zu verfolgen – etwa in Form einer Regierung Labours mit Corbyn oder von Bernie Sanders als Präsident in den USA – die wiederum „Disziplin und Realismus schafft und zugleich anfeuert, radikale Pläne auszubuchstabieren.“ Denn zur Umsetzung des Projektes „braucht es Diskussionen über konkrete Politikvorschläge und das Wissen, wie gesellschaftliche Gleichheit und eine ökologisch nachhaltige Lebensweise zu organisieren sind“. Dabei spielt die Eroberung der staatlichen Institutionen durch die Parlamente eine entscheidende Rolle. Zugleich ist klar, „dass keine Regierung allein etwas verändern wird. Um sich mit den Mächtigen anzulegen, müssen wir wissen, wie wir aus den Betrieben und von der Straße aus Druck aufbauen.“

… unterdessen in der Degrowth-Bewegung: System Change, aber wie?

Postwachstum, wie es von Paech & Co vertreten wird, fehlt eine sozial-emanzipatorische Perspektive meist komplett, weshalb sich jenseits von wohlstandsgesättigten Bildungsbürger*innen auch keine Bewegung und erst recht kein linkes Programm entwickeln lassen. Es bleiben nur der entpolitisierte Konsumverzicht und das Warten auf die Katastrophe als Handlungsoptionen. Degrowth, als linke Bewegung, formuliert zwar explizit die Forderung nach „System Change“, bleibt dabei jedoch weitgehend planlos. Trotz einiger Aufrufe, kohärentere Transformationsstrategien zu entwickeln, etwa bei D’Alisa & Kallis (2020) oder bei Schmelzer & Vetter (2019), bleiben die unterschiedlichen Ansätze bisher weitgehend unvermittelt nebeneinander stehen. Im Angebot sind Widerstand gegen fossile Industrien, liberale Realpolitiken, um durch Wachstumsunabhängigkeit den Kapitalismus auf eine Zeit nach dem Wachstum vorzubereiten, Suffizienzpredigten und der Aufbau katastrophenresistenter Alternativprojekte. Die vor allem im deutschen Sprachraum wenig rezipierten radikal-realpolitischen Vorschläge (etwa bei Kallis, Wachstumswende Bremen  oder „Klimaplan von unten„) könnten interessante Ansatzpunkte bieten, stellen aber bisher keine zusammenhängende und attraktive Erzählung dar. Ob die Degrowth-Konferenz, die in diesem Jahr unter der Überschrift „Strategien für Degrowth“ in Wien bzw. wegen Corona online stattfinden wird über akademische Diskussionen hinausweisen kann, bleibt abzuwarten.

Die Sache mit der Technologie

Von Corbyn & Co lässt sich viel lernen. Hier wird eine konkrete, umsetzbare Erzählung eines Guten Lebens für Alle angeboten, das auch die Degrowth-Bewegung sich auf die Fahnen geschrieben hat. Linke Wachstumskritiker*innen täten daher gut daran, sich mit den Projekten des demokratischen Sozialismus wohlwollend auseinander zu setzen und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Dabei geht es nicht um ein unkritisches Übernehmen aller Annahmen und Schlussfolgerungen.

Aus wachstumskritischer Perspektive irritiert insbesondere der unumschränkte Technikoptimismus, der besonders im Ansatz des vollautomatisierten Luxuskommunismus Ausdruck findet. Materieller Durchsatz, Energieverbrauch und Emissionen müssen insbesondere im Globalen Norden massiv sinken, um innerhalb ökologischer Grenzen ein selbstbestimmtes Gutes Leben für alle Menschen zu ermöglichen und historische sowie aktuelle Ungerechtigkeiten zu berichtigen. Das funktioniert selbstverständlich nicht allein über technische Innovation und Effizienzgewinne. Und auch eine Automatisierung der Fabriken in den reichen Ländern oder eine Verlagerung der Produktion an Orte mit niedrigeren Lohnkosten reicht nicht aus. Es braucht eine postkoloniale Perspektive, die globale Ausbeutungsverhältnisse benennt und deren gerechte Überwindung vorantreibt. Insofern Automatisierung zu einer weiteren Verschärfung des zerstörerischen Ressourcenextraktivismus im Globalen Süden führt, genügt sie nicht den Anforderungen der Klimagerechtigkeit.

Ein Gutes Leben für wen? Luxuskommunismus wo? Diese Fragen sind bisher noch nicht eindeutig genug mit: „nur für alle, nur überall!“ beantwortet. Dass (öffentlicher) Luxus für alle mit einer erheblichen Reduktion der weltweiten Produktion (insbesondere für die Reichsten) einhergehen muss, wird von Luxuskommunist*innen noch nicht ausreichend reflektiert. Hier braucht es die Degrowth-Perspektive.

Doch auch der weitverbreitete Technik-Pessimismus der wachstumskritischen Bewegung greift zu kurz. Technik ist weder neutral noch gut oder böse. Welche Technologien von wem, wozu und wie eingesetzt werden, wird gesellschaftlich entschieden, hängt also von Machtverhältnissen ab. Angestrebt werden muss also, ganz im Sinne eines vollautomatisierten Luxuskommunismus, eine demokratische Kontrolle der Verwendung von Technologie. Statt privatem Profit und Wettbewerb müssen Gemeinwohl, globale Bedürfnisbefriedigung und ökologische Verantwortung diese Entscheidungen lenken.

Der wichtigste Wachstumstreiber ist die kapitalistische Logik selbst. Eine Vergesellschaftung und Demokratisierung von Produktion und Verteilung ist also auch für Degrowth ein notwendiges Ziel.

Auch in einer nicht durch das Wachstum angetriebenen Gesellschaft werden, in geringerem Umfang, technisch komplexe Produkte hergestellt werden. Die tendenziell stark entfremdete und häufig gefährliche Arbeit in Industrie und Ressourcengewinnung in (immer weniger) Minen und (immer mehr) Recyclingstationen, die trotz Wirtschaftsschrumpfung, Teilen und Reparatur zur Herstellung von Solarzellen, Insulin und dreifach verglasten Fenstern notwendig sein wird, wäre besser von Maschinen erledigt. Es muss also um eine clevere und verantwortungsbewusste Teilautomatisierung gehen, die nicht darauf abzielt, weiteres Wachstum der Produktion zu erzeugen sondern im Gegenteil die Schrumpfung der Wirtschaft in eine Strategie der radikalen Verkürzung der Lohnarbeit einbettet. Die dadurch gewonnene Zeit muss – gerade auch aus Degrowth-Perspektive – Raum für bedeutsame Beziehungen etwa in Sorgearbeit, Politik, Landwirtschaft, Tausch und Pflege von Kleidung oder Werkzeugen eröffnen.

Was Degrowth vom demokratischen Sozialismus lernen kann

„Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ Otto Neurath

Wachstumskritik, sowohl in ihrer Ausprägung als Postwachstum als auch als Degrowth, hat sich in den vergangenen Jahren als attraktiv für Menschen erwiesen, die dem bestehenden Wirtschaftssystem gegenüber ein Unwohlsein erfahren, wenn auch meist kaum materielles Leiden. In der Form von Degrowth bietet die wachstumskritische Diskussion einen Einstieg in grundsätzlichere Kapitalismuskritik an. Heute steht die wachstumskritische Bewegung jedoch an einem Scheidepunkt. Durch ihre Engführung bleibt Wachstumskritik sowohl für Rechtsextreme als auch zur extremen Mitte hin offen. Bei Degrowth-Konferenzen und in zahllosen kleineren Veranstaltungen werden die ständig gleichen Diskussionen um die politische Bedeutung individueller Suffizienz und „rebellischer Kaufentscheidungen“ geführt, während radikalere Akteur*innen sich von politischen Realitäten losgelöst in die Utopieplanung vertiefen. Während die einen für das Umweltbundesamt kapitalismuskompatible Entkopplungsphantasien entwerfen, leisten die anderen bis zur Erschöpfung Widerstand gegen die Kohleindustrie. Für die allermeisten Menschen aber bleibt Wachstumskritik in ihrer aktuellen Form von der eigenen Lebensrealität entkoppelt und damit unattraktiv.

Wenn die wichtigen Gedanken, die die Degrowth-Diskussion hervorgebracht hat weiter relevant sein sollen, wird es Zeit, wachstumskritische Positionen als Teil einer größeren, linken gegenhegemoniellen Vision zu positionieren. Ein solches linkes Projekt muss das Ziel einer global solidarischen, d.h. gerechten und ökologisch nachhaltigen Produktions- und Lebensweise mit konkreten Schritten zur Umsetzung verbinden. Ein solches Projekt lässt sich nicht im akademischen Elfenbeinturm entwerfen, sondern entsteht in und durch soziale Bewegungen. Als Teil linker und wachstumskritischer Bewegung möchten wir einen Beitrag leisten zu einer solchen Vision und Strategie, die an die Degrowth-Bewegung anknüpft und zugleich für eine Mehrheit der Gesellschaft anschlussfähig sein kann. Dafür kann und sollte Degrowth einiges vom Demokratischen Sozialismus in Großbritannien und den USA lernen.

Demokratisierung der Wirtschaft

Eine attraktive Gesellschaftsvision muss auf die Demokratisierung der Wirtschaft abzielen. Eine dezentrale, demokratische Organisation der Wirtschaft und eine Umverteilung von Eigentum an die Vielen ist einerseits Selbstzweck. Zugleich ist sie notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige Reduktion der Emissionen und des Ressourcenverbrauchs. Die Erfahrung zeigt, dass nur eine dezentrale und demokratisierte Energieproduktion erfolgsversprechende Alternativen zur fossilen Energiegewinnung bietet. In anderen Wirtschaftsbereichen bedeutet Demokratisierung etwa die rechtliche Stärkung und finanzielle Unterstützung von selbstverwalteten Betrieben. Die Daseinsvorsorge und einzelne Sektoren wie etwa Banken, Stahl- und Automobilherstellung sollten vergesellschaftet und demokratisch organisiert werden. Unterschiedliche Formen öffentlichen Eigentums und demokratischer Teilhabe sind in unterschiedlichen Kontexten angemessen. Genossenschaften, staatliche Betriebe mit starken Arbeiter*innenrechten und demokratischer Kontrolle sowie ein geschrumpfter und lokal verankerter mittelständischer privatwirtschaftlicher Sektor können Teil einer ökonomischen Vision sein, für die realistische und kurzfristige Realisierungsstrategien entwickelt und umgesetzt werden müssen.

Private Suffizienz und öffentlicher Luxus

Die Forderung nach individueller Suffizienz kann sich nur an jene richten, die schon einen hohen materiellen Wohlstand genießen. In der aktuellen Situation extremer Ungleichheit besteht jedoch kein Anlass und keine Legitimation, der Mehrheit der Menschen Verzicht zu predigen. Ein Weniger an privatem materiellen Durchsatz darf für sie keine Einbuße an Lebensqualität bedeuten. Private Suffizienz setzt vielmehr öffentlichen Luxus voraus: garantierte Daseinsvorsorge, öffentliche Parks, autofreie und schöne Innenstädte, ticketloser und gut ausgebauter Nah- und Fernverkehr, kostenloses Internet, ein gut finanziertes und demokratisches Schul- und Gesundheitssystem, gut ausgestattete öffentliche Bibliotheken (für Bücher, Kleidung, Werkzeuge) ermöglichen die Reduzierung des privaten Konsums und stärken zudem das öffentliche Leben, die Solidarität und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ein großer Teil des Privatkonsums verliert seine Notwendigkeit und damit seine Legitimation. Menschen, denen effektive Teilhabe oder auch nur eine würdige Lebensgrundlage verwehrt ist, wären durch öffentlichen Luxus auch ohne die Verallgemeinerung eines zerstörerischen Lebensstils bedeutend besser gestellt.

Teilautomatisierung für resonante statt entfremdete Arbeit

Die Forderung einer Arbeitszeitverkürzung ist sowohl im demokratischen Sozialismus als auch in der wachstumskritischen Bewegung prominent. Arbeitszeitverkürzung mit dem Horizont einer Gesellschaft, die ohne Lohnarbeit funktioniert, könnte ein Programm sein, das linke Bewegungen in Deutschland zusammenbringt. Die Reduktion der Lohnarbeit auf 30 Wochenstunden ist kompatibel mit einem gleichbleibend hohen gesellschaftlichen Wohlstandsniveau und kann gerade deswegen auch als direkt umsetzbare Forderung an die Politik funktionieren. Die weitere Reduktion der Wochenarbeitszeit setzt dann Umverteilungsmaßnahmen, unter anderem in Form eines vollen Lohnausgleiches auf Kosten privater Profite, voraus. Eine signifikante Arbeitszeitverkürzung wäre eine schwer rückgängig zu machende Politik, die den Glauben an politischen Wandel wiederbeleben und Zeit für neu entbranntes politisches Engagement schaffen würde.

Anfangen, an den eigenen Erfolg zu glauben

Damit diese „revolutionären Reformen“ (Rosa Luxemburg) ausgerichtet auf einen demokratischen Sozialismus jenseits des Wachstums nicht leere Versprechungen bleiben, sondern tatsächlich Menschen aktivieren, braucht es eine realistische politische Machtoption. Es ist völlig klar, dass eine rot-grün-rote Bundesregierung unter den derzeitigen Umständen kein automatischer Schritt in Richtung „System Change“ wäre. Da eine solche Koalition jedoch die einzige realistische Machtoption darstellt, die nach links verschoben werden könnte, gilt es genau das zu versuchen. Was in Großbritannien mit der linken Übernahme der Labour Partei gelungen ist, würde in Deutschland wohl eine linke Übernahme eines rot-grün-roten Bündnisses sein. So unwahrscheinlich diese Idee hier und heute klingt, so unvorstellbar war sie in Großbritannien vor 2015. Letztendlich war und ist es aber die Formulierung dieser Machtperspektive, die Hunderttausende im Vereinigten Königreich aus der politischen Resignation und Lethargie gerissen hat. Erst wenn wir anfangen, an die Möglichkeit des eigenen Erfolgs zu glauben, kann dieser real werden. Degrowth kann und sollte zu einem solchen Projekt vieles beitragen. Das setzt voraus, dass der linke Teil der Bewegung sich genauso entschieden von rechtsextremen Vereinnahmungsversuchen wie von individuellen Suffizienzapellen, liberalen Verschlimmbesserungsreformen und einer Verengung der Perspektive auf die Wachstumsfrage löst. Es setzt voraus, dass wir unsere selbstreferenzielle (wissenschaftlich-aktivistische) Blase verlassen und Anschluss an die Lebensrealität der Vielen suchen. Wir müssen uns trauen, Degrowth zu einem realen politischen Programm weiter zu entwickeln. Wir müssen wagen, auf vielfältige Art und Weise im Hier und Jetzt zu kämpfen. Wir müssen lernen, an die Möglichkeit des eigenen Erfolgs zu glauben und Menschen jenseits von akademischen und aktivistischen Blasen zu begeistern. Dafür kann Degrowth einiges von den Projekten des Demokratischen Sozialismus lernen.

Geschrieben von:

Max und Lukas

Studierende der Kritische Ökonomie

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