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Digitale Machtverschiebung

18.05.2023
Ein App-Telofon mit draufliegendem Notizzettel auf dem steht "call a doctor!". AppsFoto: Marco Verch , Lizenz: CC BY-SA 2.0Apps im Gesundheitswesen könnten uns allen das Leben erleichtern.

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Vom Arzt verschriebene Apps sind in vielfacher Hinsicht gewinnbringend

Knieschmerzen? Tinnitus? Reizdarm? Schlafstörungen? Depressionen? Diabetes? Irgendetwas davon betrifft vermutlich jede und jeden, die oder der diese Zeitung liest. Noch etwas haben diese hier unvollständig aufgezählten Beschwerden des wohlhabenden Teils der Welt gemein: Sie alle finden sich auf der Liste »Digitaler Gesundheitsanwendungen«, kurz »DiGAs«, umgangssprachlich »Apps«, des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Aktuell umfasst diese Liste 50 DiGAs, neben den schon erwähnten Krankheitsbildern geht es unter anderem auch um Brustkrebs, chronische Lungenobstruktion (COPD), auch Raucherlunge genannt, organische Impotenz oder Alkoholmissbrauch. Was die vom Bundesinstitut aufgelisteten von den gut 100.000 anderen derzeit erhältlichen Gesundheits- und Fitness-Apps unterscheidet, ist, dass es sie nur auf Rezept gibt. Dafür haben sie ein Zertifizierungsverfahren als Medizinprodukt durchlaufen, so wie auch Krücken, Blutdruckmessgeräte oder Pflegebetten und alle verschreibungspflichtigen Medikamente.

Beim Preis – also dem, den die Nutzenden zahlen müssten, bekämen sie die App nicht auf Rezept –, der auch in der Bundes-Liste aufgeführt wird, bewegen sich die meisten DiGAs zwischen 200 und 600 Euro. Da es sich bei den Herstellern durchweg um kommerziell tätige GmbHs handelt, ist anzunehmen, dass sie den Kassen für die Entwicklung ein wenig mehr in Rechnung gestellt haben. Vor allem, weil sie – anders als ihre Konkurrenz im ganz und gar freien App-Markt – weder Werbung schalten noch die Daten der Nutzenden weiterverkaufen dürfen. Dennoch herrsche »Goldgräberstimmung«, seit im Oktober 2020 die erste DiGA auf Rezept erhältlich war. So formulierte es die Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen beim »6. Niedersächsischen Digitalgipfel Gesundheit« im November 2022 mit einem etwas bemühten Lächeln. Denn es droht eine digitale Verschiebung der eingespielten Machtverhältnisse zwischen Behandlern, Behandelten und Bezahlern.

Bislang wussten vor allem Ärzt:innen, was ihren Patient:innen fehlt – das besitzanzeigende Fürwort steht hier aus gutem Grund. Sie waren und sind noch Hüter:innen sensibler Daten, die sie mit Verweis auf ihre Schweigepflicht fast immer für sich behalten dürfen. Gleichzeitig aber können und müssen sie qua Amtseid den Krankenkassen abverlangen, auch teure Behandlungen zu bezahlen. Das ärgert die schon lange, und erst recht, seit die sensiblen Patient:innen-Daten wertvolle Informationen geworden sind. Die wichtigste Zutat, ohne die »Künstliche Intelligenz« Science-Fiction bleibt (dazu mehr im Text von Columba Krieg auf Seite 20). Um KI-Anwendungen und Robotik im Gesundheitswesen zu etablieren, hat die EU kürzlich ein Projekt mit einem 60-Millionen-Euro-Gesamtbudget aufgelegt, an dem 51 Institutionen aus neun Ländern beteiligt sind. Sie alle brauchen gut aufbereitete, verlässliche und vergleichbare Daten.

Doch wie mit diesem kostbaren Stoff bislang in Praxen und Kliniken umgegangen wird, sagt die Erfahrung: Immer wieder und dann noch einmal beantworten wir Patient:innen die gleichen Fragen nach Blutgruppe, Vorerkrankungen, Medikation und Allergien. Gestellt von unterschiedlichen Menschen, die alle stets unser Bestes wollen und ständig zu gestresst sind, um zu merken, dass ihre Fragen zur akuten Verschlechterung des Zustands beitragen. Wie sehr medizinisch Forschende unter derart miserabel gepflegten Daten leiden, berichtete beim Niedersächsischen Digitalgipfel ein ambitioniertes Team: sie Professorin für Big Data, er Privatdozent und Oberarzt für Kinderkardiologie. Gemeinsam bauen sie ein von Bundesgesundheitsministerium und Fraunhofer-Gesellschaft gefördertes digitales Entscheidungsunterstützungssystem (ELISE) auf. Um Ärzt:innen zu helfen, die Kinderleben retten wollen. Die größte Hürde? Genau: Digitalwüste Deutschland, Opfer von falsch verstandenem Datenschutz, ärztlichem Standesdünkel und föderaler Bürokratie. Diesen Tenor hatte auch ein 2016 erschienenes Büchlein mit dem Titel »App vom Arzt. Bessere Gesundheit durch digitale Medizin«. Zwei der drei Autoren sind geschäftlich mit der Entwicklung von Gesundheits-Apps befasst. Der dritte, Jens Spahn, wurde 2018 CDU-Gesundheitsminister und sorgte dafür, dass Deutschland heute mehr Digitale Gesundheitsanwendungen aus Versichertenbeiträgen finanziert als jedes andere Land. Denn nur wenn sie in ausreichender Menge vorhanden sind, können die DiGAs ihre eigentliche Wirkung entfalten: Die Krankenkassen erhalten über diese Apps endlich direkten Zugang zu den Daten von Millionen gesetzlich Versicherten. Und können sich ohne Umwege über Ärzt:innen auch deren Einwilligungen besorgen, wenn demnächst eine Gesundheits-KI trainiert werden soll. Die Chancen, dass die gegeben werden, stehen gut. Denn bei fast allem, wogegen jetzt eine DiGA verschrieben werden kann, sind Betroffene bislang überwiegend unterversorgt. Ehe sich gar niemand für unser Leid interessiert, erzählen wir es dem Chat-Bot. Manche der Entwicklerfirmen hinterlegen sogar eine Telefonnummer, unter der echte Fachkräfte für das jeweilige Problem tatsächlich Anrufe annehmen. Dass genau diese Fachkräfte dann im öffentlichen Gesundheitssystem fehlen, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso wie die Krankenkassen-Beiträge, die eben nicht ausgegeben werden, um Physio-, Psycho-, Ergo- oder andere Therapeut:innen zu finanzieren, die Patient:innen erwiesenermaßen helfen. Wenn sie denn freie Termine hätten oder auch längerfristige Behandlungen abrechnen dürften. Solche Ansprüche stellen DiGAs nicht. Dafür melden sie es den Krankenkassen zuverlässig, wenn ich als Diabetiker:in zu oft Torte esse oder trotz Schlafstörungen zu spät ins Bett gehe. Was bei einer Beitragsgestaltung, die individuelles Wohlverhalten belohnt und Abweichung sanktioniert, ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Immerhin: Anders als bei App-Entwicklern gibt es bei gesetzlichen Krankenkassen Mitbestimmungsgremien der Versicherten. Über ihre Zusammensetzung wird bei den Sozialwahlen entschieden, die noch bis zum 31. Mai dauern. Die nächsten finden erst 2029 statt.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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