Wirtschaft
anders denken.

Schöne neue Bildungswelt?

17.08.2023
Ein Schwarz-WeißbildFoto: Waltraud Grubitzsch, BundesarchivSeit der Einführung des PCs hat sich nicht viel verändert: Der Stand der Digitalisierung an Schulen der Bundesrepublik.

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Wie die Digitalisierung unsere Klassenzimmer bedroht und wer davon profitiert

Ob Unterrichtsmaterialien des Bundesverbands deutscher Banken, Sponsoringaktivitäten des örtlichen Autohauses oder Potenzialanalysen durch die Commerzbank – Lobbyaktivitäten an Schulen sind längst etabliert. Die Zielstrebigkeit jedoch, mit der sich Lobbyisten unter dem Mantel des »Digital Turn« den Weg in die Klassenzimmer bahnen, ist ebenso neu- wie einzigartig. Bund und Länder haben den Digitalunternehmen mit dem 2019 verabschiedeten DigitalPakt Schule ausgesprochen lukrative Absatzmärkte geschaffen. Dabei lassen Erfahrungen mit Praktiken in den USA vermuten, dass die US-amerikanischen Technologiekonzerne Alphabet (Google), Amazon, Meta, Apple und Microsoft die durch den Pakt bereitgestellten Gelder in den kommenden Jahren auch dazu nutzen werden, ihre Hard- und Software im Paket mit Lernplattformen, Unterrichtskonzepten und Lehrkräftefortbildungen anzubieten. Es geht um nicht weniger als die Neugestaltung des Lernens. Aber statt mit einem verbindlichen Regelwerk die Schulmarketingaktivitäten der sogenannten Big Five einzuhegen, verfallen Schul-, Kultus- und Bildungsbürokratie im blinden Glauben an das Credo »Digital ist besser« dem mit Verve vorangebrachten »Digital Turn«. Auch die Kultusministerkonferenz verkennt, dass sich die Digitalisierung als trojanisches Pferd zugunsten der Unternehmen und zulasten der »Bildungsrepublik Deutschland« entpuppen wird.
Der Fall Google zeigt besonders eindrücklich, wie ein einzelnes Unternehmen das schulische Lernen zu beeinflussen vermag. Nicht nur greift beinahe die Hälfte der deutschen Schülerinnen und Schüler auf YouTube als digitales Leitmedium zu. Die Videoplattform kann für schulisches Lernen eine Nutzungsquote von 86 Prozent vorweisen. In den USA ist gar von der »Googlification of the classroom« die Rede, denn die Anzahl der an Schulen ausgelieferten mobilen Endgeräte der Produktreihe Chromebook übertraf dort 2017 die Summe sämtlicher Konkurrenzprodukte. Hierzulande hält Google in Berlin, München und Hamburg Zukunftswerkstätten vor, in denen sich neben unternehmerisch tätigen Personen auch Lehrkräfte fortbilden lassen können. In der »Google Zukunftswerkstatt für Lehrkräfte« werden neben Lehrvideos und Schulungen zusätzlich Unterrichtsmaterialien – wie beispielsweise die »App Camps« für Medienkompetenz, die für den Einsatz ab der dritten Jahrgangsstufe empfohlen werden – unentgeltlich angeboten. Mit diesen Angeboten speist Google nicht nur eigene Lehr- und Lernmaterialien, sondern darüber hinaus eigene Produkte in das Schulsystem ein.
Die Strategie der regionalen Integration verfolgt in besonders weiteichender Form Microsoft, das im Rahmen seiner Initiative »Code your Life« 14 Abgeordnete des Bundestags dazu bewegen konnte, eine Schulpatenschaft zu übernehmen. Das Projekt ist dabei auf 8- bis 16-Jährige ausgerichtet, denen »mit […] viel Spaß, Faszination und Begeisterung« die Programmierfähigkeit des Codens nähergebracht werden soll. Microsoft verschleiert das strategische Eigeninteresse, das auf das Rekrutieren von Personal zielt, indes nicht: »Auf dem Arbeitsmarkt werden händeringend qualifizierte Nachwuchskräfte und junge Unternehmer im Bereich IKT [Informations- und Kommunikationstechnik] gesucht.« Ferner dringt das Unternehmen durch die Bereitstellung von Software in das Feld schulischer Bildung vor, indem es verspricht, die Nutzung des Betriebssystems Windows sowie des Produktpakets Microsoft Office 365 gehe mit einer erheblichen Effizienzsteigerung für Lehrkräfte einher. Dabei werden auf dem Windows-Betriebssystem basierende Werkzeuge ebenso kostenfrei zur Verfügung gestellt wie die Mitgliedschaft in der sogenannten Microsoft Lehrer-Community, der Lehrkräfte unverbindlich beitreten können, um zum Beispiel ebenfalls kostenfrei an Workshops teilzunehmen.
Das im kalifornischen Cupertino beheimatete Unternehmen Apple dagegen setzt zum einen auf preislich reduzierte Hardware. Unter dem Stichwort »Education Pricing« können Lehrkräfte und Studierende Produkte wie iMacs oder iPads vergünstigt einkaufen. Komplementiert werden derartige Angebote zum anderen durch kostenlose Weiterbildungsprogramme wie »Apple
Teacher
«, in denen sich Lehrkräfte mit den erworbenen Produkten vertraut machen sowie Kompetenzen erwerben können, um diese im Schulalltag einzusetzen. Zugleich soll nach Vorstellung des Technologieriesen im Unterricht mit der App »Classroom« gearbeitet werden. Sie ermöglicht es Lernenden, Aufgaben über iPads und iMacs zu bearbeiten, wobei sie gleichzeitig digital von Lehrkräften beobachtet werden können. Selbst digitale Gruppenarbeit ist möglich. Der Unterrichtsassistent »Classroom« ist auf die Nutzung von Endgeräten aus dem eigenen Produktportfolio zugeschnitten, sodass die User frühzeitig an das firmeneigene digitale Ökosystem gebunden werden. Kinder und Jugendliche sollen an iOS-basierte Betriebssysteme gewöhnt werden, sodass sie ihre Kaufentscheidungen dauerhaft an den aus Schulzeiten vertrauten Produkten ausrichten. Dabei erscheint es mit Blick auf die Sicherung der Unternehmensinteressen geradezu ideal, Lehrkräfte aktiv in das Umsetzen dieser Strategie einzubinden. So schlägt Apple unter anderem vor, eine wöchentlich zu aktualisierende und möglichst im Eingangsbereich der Schule sichtbare Statistik zu erstellen, die aufzeigt, wie viele Lehrkräfte als »Apple Teacher« ausgezeichnet wurden. Es sind jene Aktivitäten, die nicht nur das Markenbewusstsein des Lehrkörpers, sondern auch das der Kinder auf Jahre hinaus prägen dürften und Bildungsinstitutionen zur Markenwerbung instrumentalisieren.
Mit der wachsenden Verbreitung von Unterrichtsassistenten in Form mobiler Anwendungen macht sich ein übergreifender Trend bemerkbar, der unter dem Begriff des selbstgesteuerten oder personalisierten Lernens läuft. Produkte wie Apples »Classroom«-App zielen darauf ab, klassischerweise der Lehrkraft übertragene Aufgaben – zum Beispiel das Überprüfen des Lernfortschritts – an Softwarelösungen zu delegieren. Einen weiteren Schwerpunkt der Unternehmensaktivität im Bildungssektor bildet die für iPads nutzbare App »Schoolwork«, mit der es unter anderem möglich ist, »Aufgaben zu verteilen und einzusammeln […] und mit einzelnen Schülern von überall aus in Echtzeit zusammenzuarbeiten«. Doch was bedeutet es nun für die Profession der Lehrkraft, sich auf per App gesteuerte Lehr- und Lerntools zu stützen?
Das lässt sich insbesondere am Beispiel von Metas Engagement in den US-amerikanischen »Summit Public Schools« illustrieren. Diese unter anderem von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unterstützten Schulen verwenden kaum noch traditionelle Unterrichtsmaterialien wie Schulbücher und setzen in umfassender Art und Weise auf digitalisierten und individualisierten Unterricht. Der fragend-entwickelnde Unterricht soll durch digital verfügbare Inhalte und Aufgaben angereichert, die Moderation des Unterrichts durch die Lehrkraft entsprechend zurückgefahren werden. Im Rahmen der von Konzernen angebahnten Digitalisierung der Schulwelt wird das digitalen Medien (noch) innewohnende Innovationspotenzial für die Gestaltung des Unterrichts zum Anlass genommen, etablierte methodische Arrangements an den Rand zu drängen oder gar ganz auszuschalten.
Digitale Medien dürfen aber nicht deshalb zum Einsatz kommen, weil sich mit ihnen Lehrkräfte, Gebäude und Unterrichtszeit einsparen lassen. Wird die digitale Infrastruktur von Schulen oder die Einsatzquote onlinebasierter Lehr- und Lernmaterialien zum alleinigen Qualitätsmerkmal erhoben, gerät außer Acht, dass die Digitalisierung der Schulen bislang eher von ökonomischen Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt ist. Mit Blick auf den parteienübergreifend begrüßten DigitalPakt Schule stellt sich zudem die Frage, wer angesichts der chronischen Unterfinanzierung des deutschen Schulsystems die mit der Digitalisierung verbundenen Kosten tragen soll. Droht Schulen, Lehrkräften und Lernenden eine dauerhafte Abhängigkeit von privatem Sponsoring? Und wird die Einflussnahme durch Konzerne in Kauf genommen, um die digitale Infrastruktur für die Generation der Digital Natives attraktiv zu machen? Fest steht, dass das mit hohen Einmalinvestitionen sowie kontinuierlichen Kosten für Betriebswartungen, (Neu-)Anschaffungen und Systempflegearbeiten verbundene Digitalisierungsprogramm angesichts der auch durch die Steuervermeidungspraktiken der Digitalkonzerne verursachten chronischen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte ohne eine Neujustierung der Steuer- und Abgabenarchitektur auf privatwirtschaftliche Unterstützung angewiesen sein wird.
Ob die mit der Digitalisierung der Bildungswelten verbundenen Risiken allmählich in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rücken, bleibt abzuwarten. Aber es keimt Hoffnung. So gab die CDU-Bundestagsabgeordnete Astrid Mannes in einem lesenswerten Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung unlängst zu bedenken: »Glauben wir wirklich, die Sprachkompetenz der Schüler verbessere sich, wenn diese nicht mehr lernen, per Hand zu schreiben, sondern ab frühestem Alter nur noch auf Tastaturen hauen? Eine ausgeschriebene geübte Handschrift ist mehr als nur eine schöne Visitenkarte eines Menschen. Das Schreiben per
Hand ist für Schüler wichtig für das Einüben von Koordinierung und die Ausbildung der Feinmotorik. Zudem verstärkt das Schreiben per Hand die Merkfähigkeit. […] Und glauben wir wirklich, der Wortschatz der Schüler erweitere sich wieder, wenn sich diese überwiegend im Internet und in den neuen Medien bewegen?
«
Natürlich kann man Platons Höhlengleichnis, Kants kategorischen Imperativ oder Marx ’historischen Materialismus mittels YouTube-Clips nachvollziehen. Aber ist das medial Dargestellte nachhaltiger als das mehrfach Gelesene, mühsam Erarbeitete und dann im Unterricht Besprochene? Anzunehmen, dass sich die Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern verbessert, wenn sie möglichst früh an digitale Endgeräte herangeführt werden, ist ein Irrglaube. Schon jetzt surfen Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren hierzulande durchschnittlich drei Stunden und 25 Minuten pro Tag im Internet, womit sich die Nutzungsdauer gegenüber 2007 verdoppelt hat. Eine unlängst veröffentlichte Studie der Universität Helsinki erbrachte zudem, dass nur diejenigen Lernenden vom Einsatz digitaler Medien profitieren, die über eine ausreichende Konzentrationsfähigkeit verfügen, während andere Schülerinnen und Schüler offenkundig Nachteile erleiden. Zwar arbeiten Schülerinnen und Schüler in Finnland seit einigen Jahren landesweit mit von staatlicher Seite finanzierten Tablets, jedoch wird die aus kognitions- und entwicklungspsychologischer Sicht problematische Abschaffung der Schreibschrift nach wie vor intensiv diskutiert. Auch vor diesem medien- und lernpsychologischen Hintergrund sollten wir nicht in einen von blinder Euphorie gekennzeichneten Digitalisierungsrausch verfallen.
Analoge Lehr- und Lernarrangements dürfen nicht nur nicht verschwinden. Sie müssen neu be- und teilweise sogar aufgewertet werden, um die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu befördern. Gerade erst hat das Stockholmer Karolinska-Institut das schlechte Abschneiden der schwedischen Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten IGLU-Studie mit einem inzwischen von vielen Studien untermauerten Befund erklärt: »Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.«
Die von interessierter Seite geschürte Digitalisierungseuphorie darf zudem nicht den Blick darauf verstellen, dass der Ganztagsschulbetrieb ausgebaut werden muss, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur punktuell zu ermöglichen, sondern flächendeckend zu verbessern, soziale Selektionsmechanismen beim Zugang zu Bildung zu nivellieren und der Persönlichkeitsbildung von Heranwachsenden in engmaschigen Kooperationen mit Sport- und Kulturvereinen den Weg zu ebnen.
Um zu erfolgreichen Bildungsnationen wie Finnland oder Estland aufzuschließen, reicht es nicht, die IT-Infrastruktur an Schulen auf- und auszubauen. Stattdessen muss dafür Sorge getragen werden, dass ausreichend Schulplätze zur Verfügung gestellt, die in den Stundenplänen vorgesehenen Unterrichtsstunden erteilt, die baulichen Mängel an Schulgebäuden behoben werden und der offene Ganztag sichergestellt wird.
Die weltweit besten Schulen verfügen über eigene Bibliotheken, Theater, Gärten und Sportstätten. Sie sollten den Referenzpunkt bilden – nicht das digitale Lernlabor, in dem KI-gestützte Lernsoftware wie ChatGPT sowohl das Schreiben und Lernen als auch die für das sozial-kommunikative Arrangement zuständigen Lehrpersonen verdrängt. Erst wenn die Lehrenden-Lernenden-Relation durch die Einstellung von mehr (engagierten) Lehrkräften verbessert, der Anteil von fachfremd erteiltem Unterricht reduziert wird und Sozialpädagog:innen sowie Psycholog:innen zu schulischem Stammpersonal erklärt werden, braucht sich das Land der Dichter und Denker nicht länger um seine Schulen sorgen. Dazu sind eine Abkehr vom Glauben an die Allmächtigkeit digitaler Bildung und eine kritisch-reflektierte Perspektive für den Umgang mit der zunehmenden privatwirtschaftlichen Einflussnahme in unseren Schulen unerlässlich.

Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Gerade ist seine als Debatte mit Wolfgang Kubicki verfasste Streitschrift zum Thema »Privatisierung – Optimierung oder Entmenschlichung?« im Westend Verlag erschienen (www.westendverlag.de/buch/privatisierung/).

Geschrieben von:

Tim Engartner

Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften

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