Wirtschaft
anders denken.

Die Kirche im Dorf lassen: Wider die linke Dauer-Aufgeregtheit 

11.01.2018
Ulrich Waack / Gemeinfrei

Heimat, Leitkultur, konservative Revolution: Wie sollten Linke auf die rhetorischen Attacken von rechts reagieren? Jedenfalls nicht, indem sie den Zügen der Empörung und Aufregung hinterherrennen. Man ermüdet schnell dabei, und es gibt absehbar derer zu viele. Eine Replik auf Horst Kahrs und Tom Strohschneider.

Müssen Linke vor einer ›konservativen Revolution‹ Angst haben? Der ehemalige Verkehrsminister und neue CSU-Landesgruppenchef im Bundestag Alexander Dobrindt scheint dies gerne beschwören zu wollen. So jedenfalls las sich sein Meinungsartikel in Springers ›Welt‹ vom 4. Januar.

»Fünfzig Jahre nach 1968 muss endlich klar sein«, war da zu lesen: »Unser Land war nie links, sondern immer bürgerlich. Auf die linke Revolution der Eliten sollte unbedingt eine konservative Revolution der Bürger folgen«. Linke und Linksliberale waren schnell zur Stelle, in Dobrindts Worten einen Generalangriff auf die gesellschaftlichen Emanzipation und Fundamentalliberalisierung seit den 1960er Jahren zu sehen, ein Signal zum offenen Rechtsruck, zur unverhüllten und unverschämten Annäherung an die radikal-rechtspopulistische Konkurrenz von der AfD.

Es wiederholte sich dann eine ähnliche Lawine der Kritik, wie sie nur kurze Zeit vorher auf Sigmar Gabriels Meinungsartikel »Sehnsucht nach Heimat. Wie die SPD auf den Rechtspopulismus reagieren muss« aus dem »Spiegel« losgetreten worden war, allerdings diesmal mit noch deutlicheren Worten und Verurteilungen.

Hypermoralische Daueranklage von links

Meiner Meinung nach sitzen Linke einem Irrtum auf, wenn sie auf dieses Reiz-Reaktionsspiel hereinfallen. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern er steht stellvertretend für eine Orientierung auf der politischen Linken, die zuletzt stark an Boden gewonnen hat, obwohl er den politischen Kampf gegen Rechtskonservatismus und Rechtspopulismus nicht gerade erfolgversprechender erscheinen lässt.

Besonders augenscheinlich ist das in der starken Variante der Ausrichtung auf hypermoralische Empörungsverstärkung. Vielfach lässt sich beobachten, dass die Linke sich nicht um Wege bemüht, welche die Kluft zwischen dem Status Quo und den von ihr erwünschten gesellschaftlichen Zielzuständen zu überwinden geeignet sind. Stattdessen werden bestimmte Themen vernachlässigt, die sich als zähe Probleme darstellen, und man widmet sich solchen Anliegen, bei denen man glaubt, durch moralische Empörungsverstärkung etwas erreichen zu können.

Vor allem bei Themen im Bereich der ›horizontalen‹ Ungleichheiten, etwa mit Bezug auf Geschlechterverhältnisse und Migration ist feststellbar, dass Linke einfach die moralische Latte immer höher schrauben, um anschließend vom hohen Ross empört zuschlagen zu können. In bestimmten Fällen mag dieses Vorgehen berechtigt sein, etwa wenn es um einwandfrei rassistisch zu nennende Angriffe und Ausfälle, um sexuelle Übergriffe und Diskriminierungen geht. Als Standardmethode jedoch taugt die hypermoralische Empörungsverstärkung nicht, weil sie zum einen die mitunter sehr unterschiedlichen Verantwortungs- und Schuldverhältnisse der einzelnen Fälle unter sich begräbt.

Die neuerdings oft zu hörende Daueranklage gegen ›(alte) weiße Männer‹ als Quelle allen möglichen Übels bspw. gehört in diese Schublade. Diese vulgär-identitätspolitische Vorwurfsformel markiert eine Verfallsvariante gesellschaftskritischer Theorie und Praxis, weil sie sich an den sichtbaren Merkmalen von Nutznießern sozialer Ungleichheiten, nicht aber am zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnis selbst abarbeitet.

Nicht nur lassen sich daraus keine herrschaftsminimierenden Lösungen ableiten, sondern man produziert die eigene künftige Hilflosigkeit gleich mit, denn womit möchte man agitieren, wenn statt eines Donald Trump eine wenig feindbildtaugliche Angela Merkel oder gar kein persönlich identifizierbarer Adressat mit der kritisierten Unterordnung in Zusammenhang steht? Zum anderen gilt: Wenn man nur einen Hammer hat, sieht nicht nur alles wie ein Nagel aus, sondern der permanent erzeugte Krach, der nicht immer im sinnvollen Verhältnis zum skandalisierten Missstand steht, lässt auf Dauer die Öffentlichkeit für diejenigen Fälle abstumpfen, die tatsächlich grober Angriffe bedürfen.

Im Hamsterrad der Aufregung

Aber auch die schwache Variante mitgemachter Reiz-Reaktionsspiele auf der Linken bindet nur Zeit, Energien und Aufmerksamkeit, ohne emanzipatorischen Zielen tatsächlich näher zu kommen. Eben dies war an den Reaktionen auf Gabriel und Dobrindt zu beobachten. Die schwache Spielart linker Teilnahme an kulturkämpferischen Eskalationsspiralen nimmt nicht bereits die äußeren Merkmale der gegnerischen Sprecher zum Anlass für die Auslösung des politischen Alarmzustandes, wie es die starke Variante tut, sondern arbeitet sich an Äußerungen ab, die aus ihrer Sicht inakzeptable Reizworte beinhalten.

So wurde dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden und heutigem kommissarischen Außenminister Sigmar Gabriel vorgeworfen, in seinem »Spiegel«-Artikel Moderne gegen Postmoderne auszuspielen, arbeitnehmerfreundliche Politik gegen Schutz der Umwelt und gesellschaftlicher Minderheiten und vor allem, über eine sozialdemokratische Rehabilitierung der Begriffe ›Heimat‹ und ›Leitkultur‹ den gesellschaftspolitischen Rechtsruck zu betreiben.

Diese Vorwürfe sind nicht völlig aus der Luft gegriffen; wer sich aber auf dieser Linie auf Gabriel einschießt, übersieht, wie der kommissarische Außenminister vor allem die Rat- und Hilflosigkeit der etablierten Politik unserer Tage vorführt. Im bemerkenswerten ersten Teil seines Artikels stellt Gabriel fest, dass die rechtspopulistischen Siegeszüge in Europa ihren Bezugspunkt nicht in vormodernen Zeiten, sondern in der rückblickend vermissten Sicherheit der Nachkriegsgesellschaften haben. Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien wünschen sich Gesellschaften ohne Zumutungen neoliberaler Entsicherung, rapiden Wandel und Zuwanderung zurück.

Mit dieser Diagnose ist Gabriel immerhin denjenigen voraus, die in AfD, Front National & Co. nur die Wiedergänger des historischen Faschismus erkennen wollen. Augenfällig ist umso mehr, dass Gabriel die Errungenschaften der sozial gesicherten ›Moderne‹ preist, aber kein Wort darüber verliert, mit welcher Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik heute dem Kapitalismus Zustände abzutrotzen wären, die politische Mehrheiten als gemeinwohlkompatibel akzeptieren.

Der vage Hinweis am Schluss auf die Notwendigkeit verstärkter europäischer und internationaler Zusammenarbeit ist dafür nicht einmal ein schwacher Trost. Erschreckend genug steht damit Olaf Scholz als einziger in der SPD da, der – wenn auch nur sehr begrenzt fortschrittlich und vor allem taktisch durch seine Kanzlerschaftsambitionen motiviert – hörbar über wirtschaftspolitische Antworten auf die Fragen spricht, die Gabriel und andere aufwerfen.

Für noch mehr Aufregung im fortschrittlichen Spektrum sorgten Gabriels rhetorische Fragen: »Ist der Wunsch nach sicherem Grund unter den Füßen, der sich hinter dem Begriff ›Heimat‹ hier in Deutschland verbindet, etwas, was wir verstehen, oder sehen wir darin ein rückwärtsgewandtes und sogar reaktionäres Bild, dem wir nichts mehr abgewinnen können? Ist die Sehnsucht nach einer ›Leitkultur‹ angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?«

Dabei erweisen sich sowohl ›Heimat‹, als auch ›Leitkultur‹ aus fortschrittlicher Sicht relativ schnell als politische Sackgasse. Heimat und Kultur beschreiben nämlich im Kern zwei performative, also durch Praxis selbsterfüllende Phänomene. Ähnlich wie Freundschaft ist Heimat nichts, was dadurch entsteht, dass man sie herbeiredet, sondern nur durch Praxis – man ist befreundet, wenn man sich näher kennt und gemeinsame Dinge tut. Wenn man außerhalb regelmäßiger Rituale wie Geburtstags- und Jubiläumsfeiern ständig Freundschaft oder Heimat beschwören muss, ist das fragliche Verhältnis bereits in der Krise.

Kultur wiederum gibt es aktiv nur in durch die Praxis der Leute, worauf zuletzt Thomas Thiemeyer hingewiesen hat. »Es ist die Wirklichkeit, an der der Mensch immer wieder teilhat und die er durch eigenes Handeln verändern kann. Eine Wirklichkeit, die er oft gar nicht mehr wahrnimmt, weil er zu eng mit ihr verwoben ist, um sie noch aus analytischer Distanz betrachten zu können«. Kultur ist zudem der Ort schlechthin für gesellschaftliche Innovation in Form und Inhalt, für Avantgarde und Provokation. Diese Einsicht drängt sich vielleicht weniger auf in einem Land, in dem das meistgesehene fiktionale TV-Format von oben dekretiert bekommt, es dürfe künftig jährlich nur maximal zwei ›experimentelle‹ Tatort-Folgen geben. Außerhalb von stark geregelten und um ihr gepflegtes Image mittelmäßig-spießiger Ordentlichkeit besorgten Anstalten wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk jedoch lassen sich beabsichtigte und tatsächliche Deutungen schlechterdings nicht von oben festschreiben. Was man rückblickend als landesspezifische ›Kultur‹ meint, rhetorisch festnageln zu können, ist empirisch fast immer eine kaum überschaubare Vielfalt von (selten herrschaftsfreien) Lebensweisen, die aber niemals so homogen waren, wie diejenigen glauben möchten, die davon berichten.

Der Begriff der ›Leitkultur‹ ist für politische Auseinandersetzungen also nicht hilfreich, weil er dort einen Kanon von Praktiken und Verständnissen festlegen will, wo tatsächlich unaufhörliche Neuverhandlungen und Variationen wirken. Wahrscheinlicher ist, dass der Begriff der Leitkultur, umso verzweifelter er Einigkeit herstellen will, umso mehr einen Konflikt erst heraufbeschwört, wie Thiemeyer bemerkt: »Als Kampf der Kulturen wahrgenommen, ist Leitkultur jedenfalls nicht das, was gut funktioniert, was sich so weit im Alltag sedimentiert hat, dass es niemandem mehr auffällt (also die ungeschriebenen Regeln), sondern vor allem das, was die liberale aufgeklärte freiheitliche deutsche Gesellschaft glaubt, verteidigen zu müssen. Es ist eine defensive und  pessimistische Botschaft, die von dieser Leitkultur ausgeht. Recht besehen macht eine solche Perspektive nur die (potentiellen) Problemzonen des Miteinanders kenntlich und schlägt eine Haltung vor. Die Frage ist, ob es nicht in der Logik einer solchen Leitkultur liegt, jene Kulturkonflikte, auf die sie anspielt, die sie aber nur selten explizit macht, selbst zu schüren- gerade, weil sie die politischen Lager spaltet und reflexhafte (also vorgefertigte) Antworten herausfordert«.

So heiß essen, wie‘s gekocht wird?

Noch mehr Aufregung als Sigmar Gabriel erzeugte nun CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Bei seinem bereits zitierten, aus der Zeit gefallen wirkenden Versuch in der »Welt«, eine ›bürgerliche Revolution‹ auszurufen, legte Dobrindt unfreiwillig den nur reaktiv funktionierenden Charakter der Leitkultur offen. Nur im Kontrast mit der unterstellten Bedrohung durch den Islam gewinnt das, was Konservative als »Leitkultur« unterstellen, einigermaßen Kontur, nur im Lichte seiner Gefährdung kann es in den Köpfen des Publikums ausreichend Sinn ergeben. Ansonsten ist das Universum kultureller Praktiken und Institutionen in Deutschland viel zu heterogen, um daraus »leitende« Elemente benennen zu wollen.

Auch zeichnet sich dabei allenfalls ein ›westliches‹, kein spezifisch ›deutsches‹ Muster ab. Zudem plustert Dobrindt sich erheblich auf. Außerhalb bayrischer Dörfer und rechter Aktivistenmilieus würde niemand mehr in nennenswerter Zahl auf die Straße gehen, um etwa das Kreuz im Klassenzimmer zu verteidigen, das er als so unverzichtbar markiert. Wer sich die gähnend leeren Kirchen außerhalb der Weihnachts- und Osterzeit anschaut, dem fällt es schwer, wie Dobrindt von einem christlichen Glauben (nicht zur verwechseln mit einer christlich geprägten Kultur) als Fundament der politischen Ordnung in Deutschland zu sprechen. Gäbe es eine ›Leitkultur‹ tatsächlich, wäre sie so selbstverständlich, dass man sie gar nicht erst beschwören bräuchte. Insofern wirkt der Begriff wie eine negative, weil sich selbst untergrabende Prophezeiung.

Horst Kahrs und Tom Strohschneider wollen allerdings mehr als einen leicht durchschaubaren Versuch konservativer Selbstversicherung bei Alexander Dobrindt erkennen. »Was konservative Kreise in der CDU nicht vermochten«, gelinge dem CSU-Landesgruppenechef ihrer Meinung nach, nämlich »eine ›Erzählung‹ zu entwerfen, die nicht nur den Nach-2005er Teil der Merkel-Ära ›aufhebt‹, also Schluss macht mit der kulturellen Sozialdemokratisierung, sondern die außerdem die in AfD-Wahlerfolgen kondensierten reaktionären Denkweisen und politischen Haltungen zum Treibstoff einer Art Volksbewegung erklärt. In der Dobrindt’schen Version geht es nicht mehr ›nur‹ darum, den Platz ›rechts von der Union‹ selbst zu füllen, sondern die rechtsradikalen Ausbeulungen selbst zum neuen programmatischen Fundament zu erklären«.

Mit dieser Deutung aber betreiben die Autoren die oben beschriebene, schwache Spielart des Reiz-Reaktionsspiels. Hier ist es sicherlich vor allem die vom CSU-Politiker beschworene »konservative Revolution«, die als Reizvokabel die linke Aufregung erheischt hat. Allerdings essen Kahrs und Strohschneider den Dobrindt’schen Braten leider genauso heiß, wie er zubereitet wurde, ohne durch genaueres Abtasten des Kontextes oder möglicher Vorbilder dessen Substanz genügend zu prüfen.

Die Autoren (und hier stehen sie stellvertretend für viele) übernehmen zu leichtfertig das Selbstbild (rechts)bürgerlicher Verlautbarungen als Signal tatsächlicher gesellschaftspolitischer Bewegungen in die angestrebte Richtung. Zwei andere – und m.E. doch deutlich plausibleren – Deutungsmöglichkeiten zu Dobrindt lauten jedoch, dass Äußerungen wie seine sich vor allem dem tagesaktuellen Eifer des Gefechts verdanken und Selbstdarstellungszwängen gegenüber der eigenen Basis geschuldet sind, oder dass Autoren solcher Miniatur-Manifeste einfach nur einem bereits losgetretenen Trend hinterherlaufen, ihre Verlautbarungen also gar nicht als Initialzündung angesehen werden können.

Im Falle der Dobrindt’schen elaboratio praecox scheint beides zuzutreffen. Sein Text hat mit der Tradition der ›Konservativen Revolution‹ nicht viel mehr gemein als die heutige SPD-Programmatik mit den Ideen linkssozialistischer Strömungen der Vorkriegszeit. Dobrindts Text ist inhaltlich wenig mehr als ein Neuaufguss des »Bayernplans«, mit dem die CSU in den Bundestagswahlkampf 2017 gezogen war. Forderungen wie »in öffentlichen Kantinen, Kindergärten und Schulen darf Schweinefleisch kein Tabu sein« (Bayernplan) oder »Scharia und Burka, Kinderehen und Zwangsverheiratungen, islamistische Hasspredigten und religiöse Hetze haben in unserem Land keinen Platz« (Dobrindt) mögen zur Abgrenzung taugen.

Ihr revolutionäres Potential jedoch hält sich in ziemlich überschaubaren Grenzen. Vielmehr geht es um christsoziale Selbstvergewisserung in einer Situation, in der sich die CSU mit einer Koalition mit den Bündnisgrünen – immerhin nach eigener Aussage ihren schärfsten Antipoden – bereits im Grundsatz abgefunden hatte und davor nur durch den geschichtsbuchreifen Rückzieher der Christian-Lindner-FDP gerettet wurde. Weil auch eine Große Koalition unter Angela Merkel beileibe nicht die Wunschkonstellation der CSU ist und sich bei der diesjährigen bayrischen Landtagswahl herbe Verluste ankündigen, ist es nachgerade die Aufgabe des Landesgruppensprechers Dobrindt, seiner Parteibasis die Seele zu streicheln. Der losgetretene Trend, dem die CSU meint, rhetorisch ein stückweit hinterherlaufen zu müssen, besteht in der unversöhnlichen Verrohung der politischen Öffentlichkeit, die die AfD, aber auch Teile der Linken (siehe oben) maßgeblich betreiben. Daneben droht die CSU als ›natürliche‹ rechte Flanke der Union etwas zu verblassen, zumal den WählerInnen klar ist, dass die Partei Seehofers, Söders und Dobrindts vielen ihrer Worte aufgrund koalitionspolitischer Zwänge ohnehin keine Taten folgen lassen kann.

Konservative Präzedenzfälle mahnen zur Entspannung

Weiterhin findet sich für das »ethnisch-kulturell gefasste ›Wir‹«, das Kahrs und Strohschneider dem ehemaligen Verkehrsminister unterstellen, zumindest in seinem – insgesamt ziemlich langweiligen – Text in der »Welt« keinerlei Beleg. Auch kann man Dobrindt schlechterdings kein Familienbild des 19. Jahrhunderts unterstellen, weil das, was wir als Bild (schon viel weniger als Realität) patriarchaler Kleinfamilie kennen, eine recht neue Schöpfung der Nachkriegszeit ist.

Aus Dobrindts Artikel trieft weniger völkische oder reaktionäre Angriffslustigkeit als spießige Substanzlosigkeit. Zudem ist der Artikel wenig originell, führt man sich die unzähligen historischen Vorläufer seiner Wortmeldung vor Augen. Frühere, damals nicht weniger skandalisierte Aussagen von Franz Josef Strauß über ›Ratten und Schmeißfliegen‹, von Edmund Stoiber zur Gleichsetzung von SozialistInnen und Nazis, von Homosexuellen-Ehe mit Teufelsanbetung oder üble Polemik gegen Multikulturalismus haben am Ende weder die Selbstverständlichkeit multi-ethnischer Zusammensetzung deutscher Großstädte, noch die deutsche Intellektuellenkultur (über deren Qualität man allerdings sehr unterschiedlicher Meinung sein kann), noch eine sozialistische Partei links von der SPD, noch die »Ehe für alle« verhindert.

Linke sollten sich weniger an den angeblichen »Ausweitungen des Sagbaren« abarbeiten, sondern eher Ausschau halten nach den Widersprüchen, den mehr oder weniger offen zu Tage tretenden Schwächen in der Argumentation des Gegners und an den Zwängen und Mechanismen, die hinter ihren Wortmeldungen zum Vorschein kommen.

Gesamtgesellschaftlich betrachtet sind weniger diejenigen begrifflichen Provokationen bedenklich, an denen sich meistens ohnehin nur die Feuilleton-lesenden Stände in Deutschland aufhalten. Wirkungsmächtiger als diese sind Äußerungen, die diffuse Stimmungen auf einen Begriff bringen und die Zone bürgerlicher Annehmbarkeit überführen, wie es Horst Seehofers Wort von der ›Herrschaft des Unrechts‹ vor nicht ganz zwei Jahren leistete.

Besser als jeder Text oder eine heute hoffnungslos antiquierte Kampfvokabel von der »konservativen Revolution« konnten damit GegnerInnen der Grenzöffnung einen rhetorisch-symbolischen Status der Rechtschaffenheit beziehen, um dem moralischen Hilfsgebot zugunsten der Geflüchteten zu trotzen. Unter dieser Formel ließ sich die Opposition von bürgerlich-liberalen, altkonservativen und neurechten Merkel-KritikerInnen mobilisierungsfähig verknüpfen – von politischen Richtungsgemeinschaften also, die einander lange wenig zu sagen hatten, wie die unaufhörlichen Häutungen der AfD immer wieder beweisen. Linke sollten deswegen nicht vorschnell den Zügen der Empörung und Aufregung hinterherrennen. Man ermüdet schnell dabei, und es gibt absehbar derer zu viele. Wir sollten ruhig die Kirche im Dorf lassen, denn außer an Ostern und Weihnachten geht dort ohnehin niemand mehr hin.

Geschrieben von:

Alban Werner

Politikwissenschaftler

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