Wirtschaft
anders denken.

Der Doppelwumms

25.10.2022
Im Finanzministerium laufen drei Personen durch die EingangshalleBMF Bildarchiv 2005. Foto: Ilja C. HendelMacht der Finanzminister der Bundesregierung einen Strich durch die Rechnung?

Die Bundesregierung möchte die erfolgreiche geldpolitische Strategie der EZB für sich nutzen und weiter Staatsanleihen emittieren. Hindernis ist nur die FDP.

Deutschland steht, wie die Weltwirtschaft insgesamt, vor dem Übergang in einer Rezession oder Wirtschaftskrise. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für das letzte Quartal 2022 ein Minuswachstum, also ein Schrumpfen der Wertschöpfung und nehmen an, dass diese Minus im Laufe des Jahres 2023 0,4 % betragen wird. Erst 2024 kommt es dann wieder zu einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Summe der Wertschöpfung an Gütern und Dienstleistungen innerhalb eines Jahres abzüglich der Vorleistungen vorhergegangener Jahre, die in dieses Bruttoinlandsprodukt wertmäßig eingehen. Diese Wirtschaftskrise wird begleitet von einer Inflation, die im Laufe des Jahres 2023 bis auf 10 % steigen kann. Erst im Jahr 2024 wird diese Inflation spürbar zurückgehen.

Die Inflation ist angebotsgetrieben

Diese Inflation ist die Folge von massiven Preissteigerungen bei fossilen Energien und bei den von diesen Energien abhängigen Gütern, insbesondere von Lebensmitteln und weiteren Produkten, zu deren Herstellung Energie notwendig ist. Es kommen Stockungen bei internationalen Wertschöpfungsketten hinzu, die zu einem Teil – was China betrifft – von der Pandemie und ihrer Bekämpfung geprägt sind. Diese Inflation ist aber nicht – entgegen den Behauptungen mancher wirtschaftsliberal eingestellten Ökonomen, eine Folge der durch die Zentralbanken erzeugten weltweiten Geldschöpfung. Wäre das so, so hätte die Inflation viel früher einsetzen müssen, weil die Zentralbanken bereits nach der großen Finanzmarktkrise 2008/09 die Geldmenge erhöht hatten, um eine noch tiefere Wirtschaftskrise zu verhindern. Dazu kommt, dass ausgerechnet in Gesellschaften, in denen wir eine expansive Geldschöpfung durch die Zentralbanken sehen, wie in Japan und der Schweiz, die Inflation relativ niedrig ist. Diese Inflation ist von den Kosten auf der Angebotsseite der Wertschöpfung getrieben und nicht von der Nachfrageseite. So sehen wir auch keine Inflation, die durch steigende Löhne getrieben wird, wie das in der Wirtschaftskrise 1974/75 der Fall war, weil das Wachstum der Löhne deutlich hinter der Inflation zurückbleibt und wie ein Reallohnminus von rund 3 % im Laufe des Jahres 2022 sehen werden. Nach meiner Meinung ist es daher nicht zielführend, wenn die EZB die Leitzinsen (den Hauptrefinanzierungszinssatz) für die Kredite, die Geschäftsbanken bei der EZB aufnehmen, erhöht. Das wird zwar mit zeitlicher Verzögerung die Inflation dämpfen, aber durch die dadurch verursachte Verteuerung von Investitionen und kreditfinanzierten Käufen das Wirtschaftswachstum dämpfen und zu einer Wirtschaftskrise führen. Besser wäre es gewesen, abzuwarten, bis die Verteuerung der Energie und davon abhängiger Güter und Dienstleistungen zurückgegangen wäre. In den Köpfen vieler Menschen ist allerdings die Sicht, dass hohe Zinsen der Zentralbank die Inflation dämpfen, so stark, dass die negativen Folgen dieser Zinspolitik, also eine Wirtschaftskrise billigend in Kauf genommen werden. Das geht so weit, dass eine wirtschaftliche Rezession sogar begrüßt wird, weil sich damit die so genannten Selbstheilungskräfte der Märkte, also der Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte wieder durchsetzen könnten. Diese Sichtweise, die wir aktuell bei wirtschaftsliberalem, genauem marktradikalem Ökonomen und Journalisten sehen, widerspricht ganz grundsätzlich sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Wertorientierungen, weil hinter ihre eine quasi-religiöse Vergötzung der Marktkräfte steht, die mit dem sozialdemokratischen Prinzip einer wissenschaftlich begründeten Aufklärung nicht vereinbar ist.

Das 200-Mrd. €-Programm

Die Bundesregierung hat daher noch im September 2022 ein Konjunkturprogramm im Gesamtvolumen von 200 Mrd. € beschlossen. Diese zusätzlichen Ausgaben des Staates sollen einen Teil der Verteuerung fossiler Energien, insbesondere bei Erdgas und davon abgeleiteter Energie für die Unternehmen und Privathaushalte durch Subventionen billiger machen, wobei ein Teil der Preiserhöhungen, der eine notwendige Mindestmenge übersteigt hingenommen wird, weil Anreize zu einer sparsameren Energieverwendung genutzt werden sollen. In ökonomischer Sicht führt dieses Programm und die darin enthaltenen finanziellen Transfers dazu, dass die Kaufkraft der Privathaushalte weitgehend erhalten bleibt und auch die Investitionen von Unternehmen rentabel bleiben und daher die Investitionstätigkeit nicht übermäßig geschwächt wird. Dadurch wird den Marktkräfte, die aktuell zu einer Schrumpfung der Wertschöpfung führen, entgegengewirkt und die zahlungsfähige Nachfrage der Akteure auf den Märkten wird stabilisiert. Wie die so genannte Gaspreisbremse bzw. der Gaspreisdeckel im Einzelnen aussieht wird durch eine Expertenkommission erarbeitet und in den nächsten Tagen präsentiert.

Die Finanzierung dieses Programms erfolgt über Staatsanleihen, die noch im Laufe des Jahres 2022 aufgenommen werden und daher in eine Zeit fallen, in der die Außer-Kraft-Setzung der Schuldenbremse noch gilt. Ausgegeben wird der größte Teil dieses 200-Mrd. €-Programms allerdings in den Jahren 2023 und 2024, in denen nach dem Willen der FDP und ihres Finanzministers die Schuldenbremse wieder eingehalten werden soll. Mit diesem Programm werden daher die Fesseln der Schuldenbremse für die Jahre 2023 und 2024 ausgehebelt, weil die Aufnahme der entsprechenden öffentlichen Kredite bereits 2022 erfolgt. Es ist ein formaler Kompromiss zwischen der Notwendigkeit einer gegen die Krise gerichteten Politik steigender Staatsausgaben und der ideologischen Fixierung auf die Schuldenbremse, die besonders in der FDP stark ausgeprägt ist. In der Sache selbst ist es ein Erfolg der rot-grünen Parteien in der Ampelkoalition.

Wie werden Staatsanleihen begeben?

In der Berichterstattung über die Verfahren des Ausgebens oder Begebens von Staatsanleihen wird davon gesprochen, dass die Finanzmärkte (= Geldmärkte für Anleihen kurzer Laufzeit, Kapitalmärkte für Anleihen längerer Laufzeit, der Geldmarkte spielen die Hauptrolle für Kredite auf dem Interbankenmarkt, auf dem sich die Geschäftsbanken gegenseitige Geld leihen), dem Staat Kredite geben. Diese Darstellung ist nicht falsch, aber sehre ungenau und führt daher oft zu falschen Schlüssen. Wir müssen hier zwischen dem Primärmarkt und dem Sekundärmarkt unterscheiden. Auf dem Primärmarkt bietet die Finanzagentur des Bundes im Auftrag des Finanzministeriums einer Bietergruppe von 36 großen Geschäftsbanken die Staatsanleihen an. Diese Geschäftsbanken bieten dann an, zu welchen Zinsen, sie diese Staatsanleihen kaufen. Sie bezahlen diese Staatsanleihen mit Zentralbankgeld, dass sie als Reserven auf ihren Konten bei ihrer nationalen Zentralbank halten.

Dieses Zentralbankgeld haben sie entweder bei ihrer Zentralbank geliehen oder sie haben es als Kaufpreis für Staatsanleihen erhalten, die ihnen die Zentralbank in den vergangenen Monaten und Jahren abgekauft hat. Ich spreche hier von den nationalen Zentralbanken im Europäischen System der Zentralbanken, das von der Europäischen Zentralbank (EZB) gesteuert wird. Geschäftsbanken erwerben Staatsanleihen, um den Mindesteigenkapitalvorschriften zu genügen, die sich als Geschäftsbanken erfüllen müssen. Sie handeln auch auf den sogenannten Sekundärmärkten mit diesen Staatsanleihen und verkaufen diese an das Publikum, Privathaushalte und so genannte institutionelle Investoren, wie Investmentfonds, Versicherungen, Pensionsfonds und Pensionskassen. Auf diesem Sekundärmarkt kauft dann die nationale Zentralbank wieder Staatsanleihen von den Geschäftsbanken und bezahlt diese mit Zentralbankgeld. Diese Transaktion wird den Zentralbanken durch europäische Recht nicht verboten, untersagt ist ihnen nur der direkte Kauf von Staatsanleihen auf dem Primärmarkt (siehe dazu Art. 123 AEUV). In der öffentlichen Diskussion wird das oft nicht verstanden, weil zwischen Primärmarkt und Sekundärmarkt nicht unterschieden wird. Wenn die Zentralbanken Staatsanleihen von den Geschäftsbanken kaufen, so bezahlen sie diese mit Zentralbankgeld, dass sie aus dem Nichts schöpfen. Das geschieht per Knopfdruck, dieses Geld wird nicht gedruckt, nur 6-8 % der gesamten umlaufenden Geldmenge sind Bargeld, in der Tendenz schrumpft diese Größe. Zu verstehen, dass Zentralbanken Geld aus dem Nichts schöpfen und das diese Fähigkeit technisch nicht begrenzt ist, ist der Schlüssel zum Verständnis der Geldpolitik der Zentralbanken (Wissenschaftliche Dienste 2020).

Die Versuche, aus den Erfahrungen der Privathaushalte oder der Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen von Unternehmen auf die Möglichkeiten eines Staatshaushalts zu schließen, führen daher systematisch zu Fehlannahmen, ebenso wie die Nichtunterscheidung von Primär- und Sekundärmarkt beim Anbieten von Staatsanleihen. Daher ist auch die Annahme, dass Steuergelder für die Rückzahlung oder Tilgung von Staatsanleihen verwendet werden, falsch. In der Regel werden Staatsanleihen dadurch getilgt, dass zu diesem Zweck neue Staatsanleihen begeben werden. Dabei ist allerdings die Höhe der Zinsen, die dafür bezahlt werden müssen wichtig, weil die Zinsen aus dem Staatshaushalt und damit zum Teil auch aus Steuergeldern bezahlt werden oder bei den Staatsausgeben gespart werden muss. Deshalb wird in der aktuellen Debatte auch die Sicht vertreten, dass viel wichtiger als die Staatsschuldenquote am BIP, die Zinsquote, also der Anteil der für Staatsanleihen zu zahlenden Zinsen ist, weil sie Anhaltspunkte dafür liefert, wie tragfähig, also finanziell verkraftbar eine bestimmte Höhe der Staatsschulden ist. Da auf absehbare Zeit die Realzinsen, also die Nominalzinsen minus der Inflationsrate negativ sein werden, ist das Begeben weiterer Staatsanleihen zur Tilgung der aufgenommenen Staatsanleihen ohne Probleme möglich. Das neue Wirtschaftsstabilisierungsfonds genannte Programm soll bis 2057 getilgt werden.

Warum kauft eine Zentralbank Staatsanleihen?

Wird auf dem Sekundärmarkt mit Staatsanleihen gehandelt, so bilden sich in diesem Handel Kurse. Wenn es unsicher wird, ob die Staatsanleihen vertragsgemäß getilgt und verzinst werden, fallen die Kurse dieser Staatsanleihen. Wenn die entsprechenden Staaten neue Staatsanleihen ausgeben, um alte Staatsanleihen zu tilgen, müssen sie dafür höhere Zinsen zahlen. Zusammengefasst führt das dazu, dass sinkende Kurse zu höheren Renditen führen, ein Widerspruch, dessen Grüne auf den ersten Blick oft nicht verstanden werden. Kauft eine Zentralbank Staatsanleihen ihres Landes auf dem Sekundärmarkt, so können deren Kurse nicht mehr sinken und damit die zukünftigen Zinsen oder Renditen nicht mehr steigen. Gezielte Käufe von Staatsanleihen halten daher deren Renditen oder zukünftige Zinsen niedrig. In einer Währungsunion verfolgt die übergeordnete Zentralbank, hier die EZB, das Interesse, dass sich die Zinsen auf die jeweiligen nationalen Staatsanleihen nicht allzu sehr auseinanderentwickeln. Hohe Zinsen beeinträchtigen die Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten neue Staatsanleihen zu begeben oder alte Staatsanleihen zu tilgen. In der Eurokrise 2011/12 hatten sich die Zinsen nationaler Staatsanleihen krass auseinanderentwickelt, insbesondere südeuropäische Länder, wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien mussten hohe Zinsabstände (= Spreads) gegenüber den Zinsen deutscher Staatsanleihen hinnehmen. Daraufhin begann die EZB mit dem systematischen Aufkauf von Staatsanleihen, was damals von den wirtschaftsliberalen Ökonomen auf deutscher Seite scharf kritisiert wurde. Die EZB und die in ihrem Auftrag handelnden nationalen Zentralbanken waren mit dieser Strategie, den sogenannten »Outright Monetary Transactions« erfolgreich und die Eurokrise konnte überwunden werden. Die Idee zu diesem Aufkauf von Anleihen durch die Zentralbank geht auf den englischen Ökonomen John M. Keynes (1931) zurück, über 30 Jahre vor ihm hatte der schwedische Ökonom Knut Wicksell (1898) ähnliche Überlegungen angestellt. Aktuell hat die EZB ein »Transmission Protection Instrument« beschlossen, mit dem durch gezielte Käufe nationaler Staatsanleihen die Kurse dieser Staatsanleihen gestützt und dadurch eine annähernd einheitliche Entwicklung der Zinsen auf nationale Staatsanleihen gesichert werden kann. Die EZB und andere große Zentralbanken haben anders als die Deutsche Bundesbank auf diese Überlegungen zurückgegriffen und deshalb systematisch Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt gekauft. Das wiederum gibt den Geschäftsbanken die Möglichkeit, mit Zentralbankgeld Staatsanleihen zu kaufen.

Bereits in der alten Bundesregierung hatte der damalige Finanzminister Olaf Scholz diese neuen Möglichkeiten, dem Staat durch das Begeben von Staatsanleihen neue Einnahmen zu verschaffen und gegen die negativen Effekte der Pandemie vorzugehen, umfangreich Gebrauch gemacht und über 240 Mrd. € aufgenommen (siehe dazu meinen Kommentar: Der neue Keynesianismus, der 2021 von der SPD versandt wurde).

Dieser Kurs wurde in der Bundesregierung nach dem November 2021 erfolgreich fortgesetzt. Er kann auch weiter praktiziert werden, da nicht damit zu rechnen ist, dass die EZB ihre erfolgreiche geldpolitische Strategie ändern wird. Ein Hindernis in der Koalition wird sein, dass die FDP  2023 und 2024 weitere öffentliche Kredite über das Instrument der Staatsanleihen zu blockieren versuchen wird. Diese Partei ist in wichtigen gesamtwirtschaftlichen Fragen, dazu gehören die Geldpolitik wie die Finanzpolitik, nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse und damit nicht auf der Höhe der Zeit.

Literatur:

AEUV – Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in: Europa-Recht, München 2020 (Beck-Verlag).

John M. Keynes, Vom Gelde (1931), Berlin 1983.

Knut Wicksell, Geldzins und Güterpreise (1898), München 2006.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Verfahren und Wirkungen bei der Emission von Bundeswertpapieren, Gutachten Dezember 2020.

Geschrieben von:

Michael Wendl
Michael Wendl

Mitherausgeber von »Sozialismus«

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