Wirtschaft
anders denken.

Drei Widersprüche, drei Krisen

19.10.2019
OXISind die Würfel schon gefallen?

Die Lage der SPD lässt sich optimistisch kaum noch beschreiben. Ist auch das Prinzip Sozialdemokratie am Ende? Die neue »Prokla« nimmt sich das Thema vor. Ein Blick in die aktuelle »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft«.

Im Wahlzirkus der SPD ist Halbzeit, aber Notiz wird davon kaum genommen. Die Beobachterinnen und Analytiker, die Reporterinnen und Medienorakel, die giftigen Umarmer von der Konkurrenz und die wirklich mitleidenden Koalitionspartner hier und dort – sie alle sind offenbar ziemlich müde. Die Säle füllende Suche nach neuen Vorsitzenden brachte manches bisher nicht gekannt Bild, aber wirklich neues Interesse ist doch kaum entstanden. Das ist schlecht für eine Partei, die seit mindestens 2005 in einer Dauerkrise steckt und deshalb seit mindestens ebenso langer Zeit von Erneuerung spricht, bis es niemand mehr recht glauben mag. Die Erschöpfung der Öffentlichkeit am Thema geht bis zum rhetorischen Abwinken. »Die SPD ist in der Auflösung begriffen«, meinte unlängst ein Demoskop. »Ein neuer Vorsitzender wird das nicht ändern.«

In den klügeren Begleittexten zum Untergang der SPD wird diese von der Sozialdemokratie unterschieden, was der Partei widerfährt muss ja nicht notwendigerweise auch für ein politisches Prinzip gelten. Lässt sich das eine vom anderen trennen? Was sind die Gründe für parteipolitischen Niedergang, welche Momente unterminieren darüber hinaus generell die Möglichkeit sozialer Integration unter kapitalistischen Verhältnissen? Ist eine solche überhaupt noch den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen? Und hat das alles vielleicht mit der Produktionsweise und deren Veränderungen zu tun?

Dazu versucht die aktuelle Ausgabe der »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft« Antworten zu geben. Die Einleitung zum »Prokla«-Schwerpunkt »Krise der (europäischen) Sozialdemokratie« skizziert die Stand der Diskussionen darüber und rückt gleich einmal womöglich zu hohe Erwartungen zurecht: So relevant und »alt« das Thema sei, so lange es mithin schon »auf der To-do-Liste« der Redaktion stehe, sieht diese den Schwerpunkt selbst »recht dünn ausgefallen« an, es fehlten »Beiträge zu relevanten Fragen«. Einen Grund dafür macht die »Prokla« darin aus, dass »die kritische Parteienforschung… ihre besten Tage leider bereits hinter sich« habe.

Drei Widersprüche

Inwiefern dieses Urteil auch auf die im Heft versammelten Texte gemünzt sein soll, ist sicher Ansichtssache. Stephan Lessenich beweist in seinem Kommentar zur Krise der SPD seine polemisch-literarischen Fähigkeiten, was zur darin vertretenen These passt, laut der die Zeit der Sozialdemokratie »abgelaufen« sei. Lessenich interessiert bei der Begründung vor allem, dass die SPD »an den Widersprüchen des eigenen Projekts gescheitert ist – und an der Unfähigkeit, sich von diesen zu lösen«. Den »Hauptwiderspruch« lässt Lessenich von Adam Przeworski vortragen, der »das Dilemma der sozialdemokratisch vergesellschafteten Arbeiterklasse auf den tragischen Punkt gebracht« habe: »Die Arbeiterklasse hat einen langen Weg zurückgelegt von der Absicht, das Lohnverhältnis abzuschaffen, bis zum Anliegen, niemand davon auszuschließen.« Hinzu sei seit den 1970er Jahren ein verschärftes »Bildungsmantra« gekommen, das »den Bildungsvereinscharakter der frühen Arbeiterorganisationen in eine gesellschaftliche Qualifizierungsagenda übersetzte, die ihrerseits die spätere neoliberale ›Kompetenzrevolution‹ vorbereiten half«. Damit habe die SPD mehr als alle anderen Akteure die bildungspolitische »Illusion der Chancengleichheit« in den Köpfen verankert. Der dritte »fundamentale Widerspruch« bestehe in der »unauflöslichen Ehe mit der Wachstumsidee: Arbeit gebiert Wachstum, Bildung macht Arbeit produktiver und steigert die Wachstumschancen, Wachstum generiert Umverteilungsspielräume – und neue Arbeitsplätze, auf dass sich das Erwachsenenkarussell des konsumistischen Produktivismus weiter, und möglichst immer schneller, drehen möge«.

Auf neue Realitäten habe diese SPD sich nie einlassen können oder wollen, das betrifft die Klimakrise ebenso wie die Realität einer Einwanderungsgesellschaft. Lessenich ist ohne Hoffnung, dass sich das ändern könnte – »in einer bestimmten gesellschaftshistorischen Phase« sei sie – mit Bob Jessop gesprochen – »die bestmögliche politische Hülle« industriekapitalistischer Entwicklung gewesen, heute sei sie aber »überhaupt nur noch Hülle, nur noch der organisatorische Naturdarm eines vergehenden, teils auch schon vergangenen politischen Milieus«.

Repolitisierung der Klasse?

Wo Lessenich schon abwinkt, will Janis Ehling noch längst nicht aufgeben. In seinem Beitrag wird die aktuelle Diskussion über die SPD und die Sozialdemokratie als »oberflächlich« gescholten dafür, dass sie sich zu wenig für klassentheoretische Fragen interessiere. Ehling hält die gegenwärtige Krise für lösbar, dazu müsse die SPD sich nur wieder und anders jenem Konflikt zuwenden, aus dem sie einst entstand: Kapital versus Arbeit. Zwar habe die SPD »die Demobilisierung des Klassenkonflikt« schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg selbst tatkräftig mitbefeuert, die Abwendung von »den ArbeiterInnen« habe sich dann verhängnisvoll ausgewirkt.

Ehling kritisiert nicht nur diesen klassenpolitischen Rückzug, er kritisiert auch Versuche, den »class cleavage« mit einem »neuen cleavage zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus« zu ergänzen, wie es seit einiger Zeit eine Mode geworden ist von Bernd Stegemann bis Nils Heisterhagen. Aus diesem Spektrum kommende Forderungen, mit einer harten Migrationspolitik an nationalpopulistische Ressentiments und Etabliertenvorrechte zu appellieren, würden allerdings nur »die Rechte« stärken. Ehling plädiert stattdessen für »eine Repolitisierung der klassischen ArbeiterInnenklasse und der neuen classes populaires«, an anderer Stelle werden noch die »Unterprivilegierten« dazuaddiert.

Primärmacht und Sekundärmacht

Auf ganz andere Weise nähert sich Manfred Wannöffel der Krise des sozialdemokratischen Projekts, wenn man so will, füllt er zunächst einmal den Begriff »Klassenpolitik« mit Substanz auf – die Formel ist in den linken Debatten zwar populär, was damit genau gemeint sein soll und wie sich eine »neue« von einer bisherigen »Klassenpolitik« unterscheiden würde, bleibt oft vage. Nicht so bei Wannöffel, der einen Machtressourcenansatz als Theorierahmen nutzt, der sich für die Voraussetzungen und Praxis des politischen Einflusses der Erwerbstätigen interessiert. Dieser sei besonders dann groß, »wenn es ihnen gelingt, ihre primäre Produktions- und Marktmacht von unten heraus im Betrieb und Unternehmen durch sekundäre Machtressourcen auf gesellschaftspolitischer Ebene nachhaltig zu verankern«.

Wannöffel knüpft hier unter anderem an die Arbeiten von Walter Korpi an. Mit dem Umbruch der Produktionsweise in einen Typus immer radikalerer »marktlicher Steuerung« unter Bedingungen veränderter Weltmarktkonkurrenz seien nicht nur Primärmacht, sondern auch Ssolidaritätserfahrungen erodiert, damit »die wertvollste Ressource, die eine soziale Demokratie aufzuweisen hat«. Parallel dazu sei auch die in Tarifvertragsdichte, gewerkschaftlichem Organisationsgrad und Mitbestimmungsquoten zeigbare Sekundärmacht geschwunden. Nicht zuletzt erlebe »die erwerbstätige Bevölkerung« seit über 40 Jahren »einen eklatanten Widerspruch zwischen einer einerseits sozialdemokratischen Programmatik« und »einer andererseits politischen Praxis mit marktliberaler Ausrichtung«.

Drei Krisen der SPD

Woher aber kam diese? Einen Antwortversuch unternimmt Ingo Schmidt, indem er sich »ökonomische Theorien als Schlüssel zum Verständnis von Klassenverhältnissen, ökonomischer Entwicklung und Parteigeschichte« vornimmt. Dabei werden Karl Marx, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek sowie deren Werkgeist sowohl als »konzeptive Ideologen«, die »einander überlagernde, teilweise aber auch widersprechende Problemwahrnehmungen bündeln und in ein politisches Programm übersetzen« als auch als »Chiffren« verstanden, die »Denksysteme und Sprachen« schufen, welche »die Artikulation kollektiver Selbstverständnisse« als auch »die Möglichkeit zur Abgrenzung von politischen Gegnern« erlaubten.

Schmidt kommt von dort aus zu dem Befund, die SPD sei in ihrer Geschichte »durch drei Krisen gegangen«: Jede dieser Krisen habe »ihr einen Neuanfang ermöglicht, aber linke Abspaltungen oder Neugründungen mit sich gebracht. Aus der bereits mit dem Revisionismusstreit in den 1890er Jahren beginnenden Krise des Marxismus ging schließlich die KPD hervor. Aus der mit der Neuen Linken der 1960er Jahre aufbrechenden Krise des keynesianischen Sozialstaates und der Unfähigkeit der SPD, die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre einzubinden, entstanden die Grünen. Die wenige Jahre nach Platzen der New-Economy-Blase erfolgte Wende zur Austeritätspolitik führte zur Abspaltung der weiterhin keynesianisch orientierten Parteilinken und deren Zusammengehen mit der PDS. Geblieben ist eine Partei, die ideell als Projektionsfläche verbreiteter Sozialstaatsnostalgie dient, organisatorisch in die noch aus der Zeit des keynesianischen Sozialstaates stammenden, aber zu Zwecken neoliberaler Gegenreform umfunktionierten Staatsapparate eingebunden ist.«

Für Schmidt ist der Dreh- und Angelpunkt dabei die »marxistische Herausforderung«, auf die erst Keynesianismus und Neoliberalismus Antworten waren. Mit dem Verschwinden dieser Herausforderung stellt sich die Frage nach einer möglichen neue. Schmidt sieht hier immerhin die Option einer »neuen sozialistischen Herausforderung«, die aus der »Zusammenführung verschiedener sozialer Bewegung« ihre Kraft beziehen könnte.

Was das noch mit der SPD zu tun hat? Nicht viel. Die Frage nach deren Zukunft sei »zweitrangig«. Das werden nicht nur die KandidatInnen-Paare im Wettlauf um das Vorsitzendenamt ein wenig anders sehen. Operative Antworten auf die Frage, wie man Sozialdemokratie besser oder unter neuen Bedingungen überhaupt noch machen könnte, finden sich in dieser »Prokla« nicht. Was man in den hier angesprochenen Texten (und in den beiden weiteren des Schwerpunkts: Armin Puller blickt auf die »Grenzen der postblairistischen Konstellation« anhand des Beispiels der österreichischen Sozialdemokratie. Und Angela Wigger sowie Laura Horn liefern schon den »Nachruf auf die Europäische Sozialdemokratie«, bei der sie »Neoliberale Industriepolitik im sozialen Schafspelz« erkennen.) finden kann, sind vielleicht ein paar richtige Fragen, die zu stellen, zu diskutieren womöglich sogar ein paar Löcher des Interesses in den Schleier der Erschöpfung am Thema SPD zu reißen imstande wäre. Zum Beispiel die danach, ob wir es nicht gegenwärtig mit einer neuen, einer vierten Krise zu tun haben. Und welche Rolle, abseits all der schönen Polemik, die drei Wiedersprüche von Lessenich als deren Bestimmungsmomente dabei spielen. 

Mehr zur aktuellen »Prokla« sowie Bezugsmöglichkeiten finden sich hier.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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