Wirtschaft
anders denken.

Ein durch und durch krisenhafter Prozess: über Schulden, Kredit und Zukunft

09.08.2018
Shutterstock/chewhow

Wer etwas über Schulden und Kredit wissen will, sollte David Graeber, Karl Marx und Jens Beckert lesen. Es geht um Freiheit und die Bearbeitung möglicher Zukünfte. Ein Text aus der gedruckten OXI-Juniausgabe, in deren Schwerpunkt es um Schulden und Kredit ging.

Am Anfang war das Vertrauen. Was wir heute Kredit nennen, leitet sich ursprünglich aus dem lateinischen »credere« ab – was so viel bedeutet wie glauben, Vertrauen schenken. Später wurde daraus das »creditum«, das leihweise Anvertraute. Von dort war es dann um das 15. Jahrhundert nicht mehr weit bis zum italienischen »credito« und zum Kredit, der heute in vielen Sprachen genau so heißt: das gegen Zinszahlung zeitweise zur Verfügung gestellte fremde Kapital. Aber dazu später.

Mit der Frage, was zuerst da war – der Kredit oder das Geld –, beginnt eines der beiden wichtigsten Büchern über Schulden. David Graeber, Anarchist und Anthropologe, erzählt in seinem vor einigen Jahren erschienenen Bestseller die Geschichte seit der Erfindung des Kredits vor 5.000 Jahren als eine, in der das Versprechen auf Rückzahlung die Menschen in die Sklaverei getrieben habe. 

Von einem Entwicklungsgang, der beim Markt und der Tauschwirtschaft beginnt, dann Geld als bequemes, weil allgemeines Wertäquivalent hervorbringt und schließlich die Kreditwirtschaft, will Graeber nichts wissen. Er verweist auf alte Scherben aus Mesopotamien, mit denen die Sumerer in Keilschrift die Schulden und Zinsen auflisteten.

Eine moralpolitische Anklageschrift

Aber Graebers »Schulden« ist auch eher eine moralpolitische Anklageschrift: Seit ehedem finde der »Kampf zwischen Arm und Reich überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern statt«, schreibt der US-Ethnologe, er erzählt von Kämpfen um die Rechtmäßigkeit von Zinszahlungen – und vom Widerstand dagegen: Volksaufstände hätten in den letzten fünftausend Jahren »mit verblüffender Regelmäßigkeit immer wieder auf die gleiche Weise begonnen: mit der rituellen Zerstörung der Schuldenbelege«.

Worauf Graeber hinauswill: Schuldverhältnisse sind nicht bloß rechtliche oder ökonomische Angelegenheiten, sondern Kulturfragen. Wichtige moralische oder religiöse Begriffe zeigen diese enge Beziehung an. Wir sprechen von Abrechnung und Erlösung, die der antiken Finanzwirtschaft entlehnt sind. Grae­ber macht auch auf den Widerspruch aufmerksam, der darin besteht, dass die Mehrzahl der Menschen fast überall auf der Welt der Meinung sei, »dass man geschuldetes Geld zurückzahlen muss«, gleichzeitig aber Vorbehalte gegen jene gepflegt werden, die Geld verleihen.

Dahinter steckt auch der Gedanke, dass Schuldverhältnisse ein zentraler Beitrag zur »Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen« waren, eine Entwicklung, in der Respekt und Dankbarkeit von Salden und Strafzahlungen ersetzt wurden. Auf diese Weise, sagt Graeber, wurden moralische Fragen in solche »der unpersönlichen Rechenkunst« verwandelt, eine Entwicklung, die dazu beiträgt, »Dinge zu rechtfertigen, die uns ansonsten skandalös oder unanständig vorkämen«. 

Zum Beispiel Zwangsräumungen, die Grae­ber als die Folgen einer Kette aus aggressiver Kreditvergabe, börslichen Wetten auf deren Ausfall, Verbriefungen und Spekulationen sieht, bei denen dann nicht nur die Hausbesitzer mit den zu niedrigen Einkommen auf der Straße saßen, sondern die gesellschaftlichen Folgen dieses »perfekt ausgeklügelten Betrugs« dann auch noch durch staatliche Rettungsaktionen ausgebadet werden mussten. 

Keine bloße Zutat, kein Überbau

Das zweite wichtige Buch über den Kredit und Schuldverhältnisse stammt von Karl Marx und heißt »Das Kapital«, womit wir der oben angeführten Definition schon etwas näher wären. 

Michael Heinrich, der sich mit Marx besser auskennt als die meisten anderen, schreibt: Das moderne Kreditsystem, welches die Bewegung von zinstragendem Kapital vermittelt, »ist keine bloße Zutat, kein Überbau über dem industriellen Kapital«. Zwar entspringt dieses zinstragende Kapital »einerseits der Zirkulation des industriellen Kapitals, andererseits aber ist die Bewegung des industriellen Kapitals gar nicht möglich ohne Kredit«.

Hier geht es also weniger um jene Form der Schulden, die man auf sich lädt, um sich ein Auto zu kaufen oder in Zeiten der Not Ernteverluste zu kompensieren. Sondern um ein paar entscheidende Räder in der kapitalistischen Maschine. Werden Waren von einem Unternehmen verkauft, fließt vorgeschossenes Kapital, also die Investition in die Herstellung dieser Waren, zurück – wird aber nicht sogleich wieder als Kapital in eine nächste Runde der Warenproduktion investiert. 

Statt bis dahin zu warten, kann das zurückfließende Kapital zunächst als zinstragendes verwendet werden. Dieses ist auch nötig, um den Gesamtprozess am Laufen zu halten: Irgendwer braucht immer Kredit, um die nächste Runde in Gang zu setzen, neue Technik zum Einsatz zu bringen, die Produktion auszuweiten, die Profitrate zu erhöhen. »Die Steuerung der Akkumulation durch den Kredit«, so Heinrich, »ist ein durch und durch krisenhafter Prozess.« 

Und trotzdem ist es grundfalsch, die Verkörperung des Kreditgebers, das Finanzsystem, als spekulative Angelegenheit einer angeblich soliden kapitalistischen Produktion gegenüberzustellen. Erstens ist Letztere genauso »spekulativ«, da kein Unternehmer weiß, ob sein Kapitaleinsatz sich in Verkaufserfolgen niederschlägt. In beiden Fällen wird von notwendigerweise unsicheren Erwartungen ausgegangen.

Zu wenig beachteten Aspekte

Zuletzt hat Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, diesen zeitlichen Horizont als einen der bisher zu wenig beachteten Aspekte der kapitalistischen Dynamik herausgestellt: »Veränderungen der zeitlichen Orientierung der Akteure und die Erweiterung des Zeithorizonts in eine unbekannte wirtschaftliche Zukunft sind wesentliche Bestandteile der Entstehung der kapitalistischen Ordnung«, schreibt er in seinem soeben erschienenen Buch »Imaginierte Zukunft«. 

»Doch worauf beruhen sie, und wie verändern sie sich?« Darum dreht sich seine – wenn man so will – »Zeitsoziologie« des Kapitalismus, die sich um ganz alltägliche Fragen dreht: »Wer weiß, ob es in drei Jahren den Euro als gemeinschaftliche Währung noch geben wird? Wer kann sagen, wie sich der Aktienmarkt in zwölf Monaten entwickelt?« Antworten darauf, so Beckert schon vor ein paar Jahren, »lassen sich nicht eindeutig aus ökonomischen Modellen herleiten«. 

Und doch sind die mit der Zukunft verknüpften oder auf sie gerichteten Erwartungen »von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidungen von Wirtschaftsakteuren«, so Beckert – in ihnen liegt gleichermaßen die Option des Wirtschaftswachstums als auch die einer Krise. Einer der Mechanismen, der bei dieser Bearbeitung möglicher Zukünfte zentral ist: der Kredit. 

Der »verschafft wirtschaftlichen Akteuren den Zugang zu Ressourcen, auf die sie keinen ›normalen Anspruch‹ haben«, so Beckert unter Verweis auf den großen Ökonomen Joseph Schumpeter – »begründet wird der Anspruch nur durch den zukünftigen Erfolg«. Kredit gebe den Unternehmen die Möglichkeit, »in der Gegenwart Geld« einzusetzen, »das sie erst noch verdienen müssen«.

Der eine noch reicher, der andere nie

Die von Marx herkommende kritische Ökonomie pocht noch auf einen anderen Punkt: Wo kapitalistische Produktionsverhältnisse dominant sind, so Thomas Sablowski, »können sich Kapitalisten als Kreditgeber und als Kreditnehmer bereichern«. Wenn hingegen Angehörige der subalternen Klassen zu Kreditnehmern werden, werden Teile ihrer Einkommen »als Zinszahlungen kapitalisiert« und es bilden sich »sekundäre Ausbeutungsverhältnisse«. Man lernt: Kredit kann den einen noch reicher machen, den anderen nie. Es sei denn, er wird auch zum Kapitalisten. 

Graeber würde dem nicht widersprechen, aber er ist auf einer anderen Spur: Kredittheorien sind für ihn vor allem Mythen, die dafür sorgen sollen, dass sich an den zugrunde liegenden Verhältnissen nichts ändert. Dagegen hätte ebenso Marx polemisiert, aber er hätte dennoch auf der theoretischen Analyse bestanden. 

Beiden geht es unter dem Strich um Freiheit, die nicht am »stummen Zwang« der ökonomischen Verhältnisse zerschellt. Graeber hat das in eine historische Pointe gekleidet: Ihm gilt das sumerische Wort »amar-gi«, das so viel wie Schuldenerlass bedeutete, als der erste Begriff der Menschen überhaupt, mit dem sie Freiheit bezeichneten.

Jens Beckert: Imaginierte Zukunft – Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, 569 Seiten, Suhrkamp 2018. 

David Graeber: Schulden – Die ersten 5000 Jahre, 536 Seiten, Klett-Cotta 2012.

Karl Marx: Das Kapital, Band 1–3, Karl Dietz Verlag.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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