Wirtschaft
anders denken.

Ein freiheitlich-ökologischer Sozialismus ohne Vorsilbe

10.06.2019

Braucht die gesellschaftliche Linke eine neue Utopieformel? Klaus Dörre hat den Begriff »Neosozialismus« vorgeschlagen, nun diskutiert ein Sammelband darüber und zeigt, warum auch John Stuart Mills freiheitlich-ökologischer Sozialismus wieder gelesen werden sollte. 

Die Debatte um grundlegende gesellschaftliche Veränderung ist schon länger von einer auffälligen Asymmetrie geprägt: Es mangelt keineswegs an Analysen der ökonomisch-ökologischen Krise, es mangelt ebenso wenig an Appellen, warum ein Pol der Solidarität, die Buntheit der Vielen, ein neues progressives Klassenbündnis von unten oder andere deshalb nun schnell Subjekt radikaler Transformation werden sollten. 

Woran es aber mangelt, sind Begriffe der praktikablen Alternativen zum realkapitalistischen Status quo, die da stets mit dem Hinweis gefordert werden, kleine Korrekturen reichten jetzt wirklich nicht mehr aus. Postwachstumsgesellschaft? Postkapitalismus? Klaus Dörre hat es als die »Achillesferse der politischen Linken« bezeichnet, keine utopischen Entwürfe bieten zu können. »Dieser Verlust des Utopischen macht ihre größte Schwäche aus.« Eine Schwäche mit Folgen: Hier liegt Dörre zufolge die Ursache dafür, »weshalb es der Linken gegenwärtig kaum gelingt, verbreitete Unzufriedenheit und alltägliche Gesellschaftskritik politisch zu bündeln.« 

Was wäre eigentlich neu am Neosozialismus?

Schon etwas länger ist es her, dass Dörre ausgehend von dieser Überlegung in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« unter der Überschrift »Neosozialismus« einige Thesen »zu einer überfälligen Diskussion« veröffentlicht hat. Um diese Thesen herum ist inzwischen ein Buch erschienen, in dem sich AutorInnen auf die Suche nach dem machen, was Volker Braun einmal so beschrieben hat: »Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat«: eben dieser utopische Begriff. Brauchen wir einen solchen? Was ist das eigentlich, das sich hier und da als »Sozialismus« immer noch selbst bezeichnet? Ist es überhaupt sinnvoll, einen alten Begriff zur Formulierung einer neuen Leitidee  zu reaktivieren? Und was wäre eigentlich neu am Neosozialismus? 

Der bei oekom in der neu gestarteten »Bibliothek der Alternativen« erschienene Sammelband ist inspiriert von jüngeren Versuchen, Sozialismus wieder als kritischen Begriff theoretisch auszufüllen. Das ist auch 30 Jahre nach dem Scheitern des autoritären Staatssozialismus immer noch kein leichtes Unterfangen. Zwischen »sozialistischen« Positionen, die mehr von radikaler Rhetorik leben und eine teils populärkulturell getriebene Renaissance des »Sozialismus« unterstützen, und solchen, die nüchtern die evolutionären Optionen ausloten, wie gesellschaftliche Handlungsmacht gegenüber der privaten Aneignungslogik schrittweise gestärkt werden können, liegt dabei viel politischer Raum.

Fünf »Kernprojekte« der Transformation

»Neosozialismus« stellt hier eine Art vorläufigen begrifflichen Drehpunkt dar: Dörre geht von hieraus einigen Fragen nach, etwa der, wie sich die Systemfehler früherer sozialistischer Experimente vermeiden ließen und was gegen bzw. für »eine neosozialistische Option« spricht. Und dann schlägt er fünf »Kernprojekte« für gesellschaftliche Transformation vor, darunter nachhaltige gesellschaftliche Regulationsweisen, eine Politik substanzieller Gleichheit und Gleichwertigkeit sowie eine radikale Demokratisierung der Wirtschaft. »Ohne Unterstützung durch Unter- und Lohnabhängigenklassen ist sozialistische Politik nicht zu verwirklichen«, so Dörre in seiner letzten These: »Deshalb benötigen wir als ersten Schritt eine Debatte über eine demokratische, inklusive Klassenpolitik.« 

Auf die Antworten und Ergänzungen von Brigitte Aulenbacher, Raul Zelik, Ngai-Ling Sum, Vishwas Satgar, Uli Brand, Christine Schickert und Hans-Jürgen Urban sei hier nur kurz verwiesen. Es werden darin Fragen der Klimagerechtigkeit, der Subjekte möglicher Transformation und der Rolle, die Bewegungen und Gewerkschaften spielen können, diskutiert, auch die klassenpolitische Nord-Süd-Perspektive wird beleuchtet. Das Buch ist dem Anfang 2019 verstorbenen sozialistischen Theoretiker Erik Olin Wright gewidmet, der in dem Band mit einem Auszug aus seinem »Envisioning Utopia« vertreten ist. Die AutorInnen seien sich darin einig, »dass es sich lohnt, über eine sozial und ökologisch gerechte, demokratische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wieder nachzudenken«.

»Demokratischer Ökosozialismus«

Aber muss diese Vision »Neosozialismus« heißen? Bob Jessop sieht das skeptisch. Erstens werden Begriffe nicht schon durch Vorsilben, die zeitliche Abläufe kennzeichnen, zu aufschlussreichen politischen Zielen oder analytischen Kategorien. Zweitens setze ein »Neo« genauso wie ein »Post« (etwa in Postkapitalismus) »einen Konsens über die Bedeutung oder den Bezug des Kernbegriffs« voraus, was nun gerade für »Sozialismus« und die vielen linken Sichtweisen darauf nicht gesagt werden kann. 

Drittens eröffne die Vorsilbe die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Beim Begriff »Sozialismus« kommt man dabei ziemlich schnell zu dem Punkt, ob das, was an seinen historischen Formen kritisiert werden muss, nicht derart substanziell mit seinem Wesen verknüpft ist, so dass man statt von einem »Neosozialismus« in progressiver Absicht viel disruptiver denken und eher von einem »Postsozialismus« sprechen müsste. Jessop plädiert stattdessen für den Begriff »demokratischer Ökosozialismus«, wobei ihm erstens der Hinweis auf den zwingend radikaldemokratischen Charakter als Abstandshalter zu den autoritären Staatssozialismen der Geschichte wichtig ist, das »Öko« und das »Sozialismus« zweitens die Dialektik zwischen ökologischer und kapitalistischer Krise auch in den Überwindungsbegriff übertragen.

Buchsteins Kritik, Mills Erbe

Für eine kritische linke Debatte hilfreich ist auch die Replik von Hubertus Buchstein, der sich mit Dörres Thesen aus der Perspektive eines liberalen Sozialismus auseinandersetzt. »Neosozialismus« ist ihm weder eine »Problemlösungsformel«, weil der Begriff »als Strukturformel für eine Gesellschaftsordnung verwirklichter Emanzipation gleichfalls derart vage« bleibe wie andere, etwa der der »Postwachstumsgesellschaft«. Neben dieser »operativen Leere« sieht Buchstein auch wichtige Ecksteine der neusozialistischen Debatte skeptisch: Ist die zugrundeliegende Krisendiagnose überhaupt richtig? Dörres Vorschläge gründeten, so Buchstein, auf »einem einzigen kapitalismustheoretischen Argumentationsgang«, den man »luxemburgistisch« nennen könnte, weil er in Anlehnung an deren Überakkumulationstheorie den Kapitalismus bereits (und schon wieder einmal) an der absoluten Grenze seiner Fähigkeit zur Selbstreproduktion, zur Anpassung angekommen betrachtet. 

Was, wenn diese Voraussetzung nicht stimmt? Was, wenn auch weiterhin neue Felder der Akkumulation erschlossen werden – biopolitische, überwachungstechnologische, klimaschutztechnologische? Das ist nicht bloß eine Frage der Prognostik, wobei gerade die gesellschaftliche Linke »mittlerweile auf eine eherne Tradition von falschen Endzustands- und Zusammenbruchsprognosen verweisen« könne, wie es Buchstein formuliert. Sondern auch eine der Begründung des Sozialismus: Ist er das, was notwendig und vorrangig aus dem ökonomischen Krisencharakter des Alten, also von außen erklärt werden kann? Oder lebt er von einer eigenen, in sich selbst ruhenden Begründung? 

Gegen Katastrophismus und Determinismus

Buchsteins wohlwollende Skepsis erinnert hier an Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit Interpretationen des Parteimarxismus des späten 19. Jahrhunderts, die von Katastrophismus und ökonomischem Determinismus geprägt waren, aber – weil fehlerhaft – immer untauglicher für die politische Strategiebildung wurden. Statt von »Neosozialismus« zu sprechen, der eine Neuartigkeit suggeriert, die dann nicht geliefert werde, denkt Buchstein kurz sogar über den Begriff »Retrosozialismus« nach. Warum? Dörres Kernprojekte »gehen in ihrer jeweiligen Ratio mindestens bis in die 1970er Jahre zurück«, schon damals sei der Kern von Dörres Überlegungen unter Linken in den den westlichen Industrienationen anzutreffen – als Mischung aus Eurokommunismus, Wirtschaftsdemokratie, Feminismus, Ökologie und solidarischem Internationalismus.

Aber noch etwas verbindet Buchstein mit Bernstein: die Betonung des liberalen Aspekts des Sozialismus. Auch deshalb sieht er die Vorsilbe »Neo« skeptisch, sie erwecke »den fälschlichen Eindruck von grundlegenden Innovationen oder eines Traditionsbruches«. Wem es um einen Anschluss an Traditionen des utopischen Sozialismus, eine Betonung des demokratischen Potenzials, um die Zentralität des Freiheitsaspekts und so weiter gehe, der, so fragt Buchstein, der könne doch stattdessen »den liberalen Sozialismus« zum Favoriten seiner »terminologischen Wahl« erklären. Das liege auch in der direkten Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Gefährdungen nahe; wobei Buchstein hier die wichtige Mahnung an die Linken anschließt, nicht über das »von den Rechten hochgehaltene Stöckchen namens ›Systemfrage‹ zu springen« – »Sehnsüchte nach einer einfachen Antwort kann und wird die emanzipatorische Linke niemals befriedigen können«. 

Dialog mit ungewissem Ausgang

Dass das Projekt eines egalitären, ökologischen und freiheitlichen Sozialismus »enorm anspruchsvoll« ist, weiß nicht nur Buchstein. Er schlägt eine »Öffnung in Richtung der freiheitlichen und liberalen Traditionen des Sozialismus« vor. Und er nennt einen Namen, der in der politischen Ideengeschichte paradigmatisch dafür steht: John Stuart Mill. Ein »Autor, der darüber hinaus bereits sehr sensibel für Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und der Ökologieproblematik war.«

Mill gilt weithin als »einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts« – aber auch als ein sozialistischer? Buchstein kennt sich hier aus, vor einiger Zeit hat er zusammen mit Sandra Seubert Mills unvollendetes Spätwerk »Über Sozialismus« neu herausgegeben. Es ist hier nicht der Platz, in der notwendigen Ausführlichkeit auf dieses Traditionslinie einzugehen, hinzuweisen ist aber darauf, dass Mill auch zu den aktuellen linken Debatten einiges an Gedanken beizusteuern hat.

Wo Axel Honneth die, wie es Buchstein und Seubert in einem Essay formulieren, »Erblast der marxistischen Tradition der Sozialismustheorie nüchtern Revue passieren lässt und abschüttelt«, ließen sich mit Mill einige der so entstandenen Leerstellen wieder schließen. Nicht in dem Sinne, dass man dessen Schriften heute einfach »anwenden« könnte. Aber die Denkungsart von Mill erscheint für heutige Sozialismusdebatten immer noch sehr aktuell.

Die Aktualität eines Buches von 1879

Warum? Mill biete »eine alternative normative Begründung für die Wünschbarkeit des Sozialismus« die beim Aspekt der Freiheit des Einzelnen ansetzt. Diese sieht er »im bestehenden Zustand der Industriegesellschaft massiv eingeschränkt. Zum einen, weil sie eine immer wachsende Zahl der Gesellschaftsmitglieder in die Abhängigkeit von Lohnarbeitersklaverei dränge und zum anderen, weil die Güter zu ungleich verteilt seien, um allen Menschen die gleichen Chancen für die Realisierung ihrer legitimen Freiheitsansprüche zu bieten«.

Die große Mehrheit der Menschen ist Mill zufolge »zwar nicht mehr aufgrund der Gesetze geknechtet oder in einem Zustand von Abhängigkeit erhalten, wohl aber aufgrund ihrer Armut: sie sind immer noch an einen Ort, an eine Beschäftigung und an den beherrschenden Willen eines Arbeitgebers gekettet; und der Zufall der Geburt schließt sie sowohl von den Genüssen als von den intellektuellen und moralischen Vorteilen aus, welche andere ohne eigene Anstrengung und unabhängig von jedem Verdienste ererben«.

Hiervon ausgehend formuliert Mill in seinem »Über Sozialismus«, dessen Fragment posthum veröffentlicht und 1880 von Sigmund Freud ins Deutsche übersetzt wurde, eine Strategie der Veränderung, die wertegebunden ist, an den realen Erfahrungen derer ansetzt, um die es geht, und das subjektive Momentum nicht unterschlägt. Sein Sozialismus ist einer »des kollektiven Lernens in dezentralen, genossenschaftlich organisierten Wirtschaftsstrukturen«, er plädiert außerdem für »eine experimentelle und erfahrungsoffene Strategie bei der Suche nach gesellschaftspolitischen Verbesserungen« und präferiert dabei »eine Wirtschaftsform ohne zentrale Planungsagentur, in der verschiedene Eigentumsformen im Wettbewerb miteinander stehen«.

Die Eigentumsfrage ist zentral bei Mill, er verlangt vom Staat Eingriffe in den Markt – etwa was »gesetzlich festgelegte Arbeitszeitverkürzungen, die Festlegung von Mindestlöhnen und die Sicherung eines Existenzminimums für alle Bürger angeht -, er schlägt »vor, das Erbrecht radikal zu reformieren, indem eine Obergrenze für Erbschaften festgelegt und das verbleibende Erbe verwendet wird, um den öffentlichen Bildungssektor auszubauen« und lehnt »individuelle Eigentumsansprüche auf Land und Boden ab«. Bei aller Betonung der Bedeutung der wirtschaftlichen Sphäre und ihrer Potentiale der Freiheitseinschränkung im industriellen Zeitalter sah Mill »sich deshalb aber nicht veranlasst, die Eigenlogik des Politischen zu leugnen«. Auch das ein Vorzug gegenüber sozialistischen Vereinfachungen.

Ökologisch, feministisch, freiheitlich

Seine »Warnung vor einer Relativierung individueller Freiheitsrechte« findet auch eine feministische Pointe, beeinflusst von seiner Frau Harriet Taylor Mill, war Freiheit für ihn »Richtschnur nicht nur für die Behandlung der ›sozialen Frage‹, sondern auch der ›Frauenfrage‹.« Harriet und John Stuart werden so »zu scharfen Kritikern zweier zentraler sozialer Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft werden: neben der Institution des Privateigentums auch der Institution der bürgerlichen Ehe«, so Buchstein und Seubert. Zudem »zielt Mill auf einen Gesellschaftszustand, in dem auf ein zusätzliches wirtschaftliches Wachstum verzichtet werden kann und der Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde ein Ende findet«.

Der Essay von Buchstein und Seubert, der Mills »Über Sozialismus« beigegeben ist, unterschlägt nicht die Schwächen und Fehler des Ansatzes. Auch wäre dieses und jenes neu und im Lichte der seit dem 19. Jahrhundert real gemachten Erfahrungen neu zu prüfen, etwa was die Genossenschaften angeht. Buchstein verweist darauf auch, dass es letzten Endes nicht um Etiketten geht, sondern um die programmatische und strategische Substanz. Deshalb erübrigt sich eine Debatte über Begriffe natürlich nicht schon, weshalb dem Sammelband, in dem Dörre abschließend auf eine Reihe von Kritiken und Anmerkungen noch einmal eingeht, ein breites Publikum zu wünschen ist. Es findet darin nur ein kleiner Ausschnitt aus einer viel größeren Debatte Platz und es geht auch gar nicht darum, bereits fertige Gedanken zu publizieren. Die AutorInnen begeben sich vielmehr, heißt es im Vorwort, »in einen Dialog mit ungewissem Ausgang«. Dabei mögen aber Orientierungsmarken helfen.

Klaus Dörre, Christine Schickert (Hrsg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, Bibliothek der Alternativen Bd. 1, oekom verlag München 2019, 216 Seiten 22 Euro.

John Stuart Mill: Über Sozialismus, Europäische Verlagsanstalt Hamburg 2016, 180 Seiten 14,80 Euro.

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