Wirtschaft
anders denken.

Ein mächtiger Begriff

25.08.2018
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Immerzu ist von »Angst« die Rede: vor sozialem Abstieg, vor Identitätsverlust, vor Globalisierung. Autoritäre Politik macht daraus einen Rohstoff. Linksdemokratische Politik muss auf Mehrheiten derjenigen setzen, die die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft hochhalten. Ein Text aus dem Schwerpunkt der OXI-Printausgabe vom August.

»Angst« ist in der Sozial- und Politikwissenschaft zu einem mächtigen Begriff geworden. Er soll soziales und politisches Handeln erklären, etwa warum Menschen etwas tun, das man nach dem Analyse-Modell des rationalen Handelns nicht erwartet hätte. Angst gilt auch als gesellschaftlicher Rohstoff für Politik, die Herrschaft, Autorität und Führung festigen will. Oft heißt es dann auch in Politik und Alltag, die Wahlentscheidung für die AfD sei von Ängsten der Wählenden getrieben: Angst vor sozialem Abstieg, vor Heimat- und Identitätsverlust, vor »Überfremdung«. Unklar bleibt, ob der »Angstpegel« in der Gesellschaft tatsächlich gestiegen ist, wie Ängste empirisch gemessen werden und wie die Verwendung des Begriffs in der Politik selbst wirkt.

»Angst und Politik« titelte bereits ein 1954 veröffentlichter Vortrag von Franz L. Neumann. Neumann analysierte Angst als zentrales Problem einer demokratischen Politik, da jegliche Art von Angst die Freiheit der persönlichen Entscheidung bis zur Unmöglichkeit beeinträchtige. Angst sei, schrieb Niklas Luhmann dreißig Jahre später, »das moderne Apriori« in einer Welt, die von zunehmender Unsicherheit geprägt sei, und sagte ihr »eine große politische und moralische Zukunft« voraus.

Erneut eine Generation später beschrieb Heinz Bude in »Gesellschaft der Angst« mit Blick auf die mittleren Alterskohorten einen Schwelbrand der Verunsicherung aus Abstiegsängsten, Optimierungswahn und Kommunikationsterror, in dem das Ich unterzugehen drohe. »Angst« sei zu einer zentralen sozialen Kraft geworden. Wesentliche Mechanismen gesellschaftlicher Integration hätten sich verkehrt, statt mit sozialem Aufstieg zu locken, werde mit sozialem Ausschluss gedroht: »Man wird nicht durch eine positive, sondern durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten.« Wer nickt da nicht zustimmend und denkt an die »Agenda 2010«? Oder erinnert sich an den Anstieg psychischer Erkrankungen, Burn-out-Syndrome und so weiter? Doch handelt es sich dabei um die gleiche Sorte von Angst?

Reale Ängste und neurotische Ängste

Neumann unterschied die »Realangst« und die »neurotische Angst«. Die Realangst entstehe, wenn Individuen und Gruppen in einen Deklassierungs-Sog gerieten: Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in den Konkurrenzverhältnissen, in den sozialen Hierarchien. Diese Veränderungen selbst sind greifbar, Realangst begründbar. Bude beschreibt eine Vielzahl solcher Prozesse für die (akademische) Mittelschicht, spricht von »vulnerablen Karrieren« und konstatiert die Paradoxie von Privilegiertheit und Verwundbarkeit, einer spezifischen Mittelschichtsangst.

Von der Realangst unterschied Neumann in Anlehnung an Freud die »neurotische Angst«: die innere Unrast, die lähmende Angst als Gegenstand der Psychologie, die nicht mehr an die Realität gebunden ist. Die Individuen machen sie sich innerhalb ihres psychischen Apparates selbst. Demokratie und demokratische Politik, so Neumann, geraten in höchste Gefahr, wenn es politischen Führern gelingt, reale Ängste in neurotische Ängste umzusetzen, also in eine eigene Wirklichkeit.

Mit solchen Überführungen beschäftigten sich in jüngeren Zeit Frank Furedi 2005 in »Politics of Fear: Beyond Left and Right« oder aktuell Ruth Wodak in »Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse«: Politisch-mediale Angstdiskurse sollen Verhaltensanpassungen bewirken, »Furchterzeugung und beruhigende Rhetorik bilden die Grundmelodie moderner Angstmacherei«.

Dass zu politischen Zwecken Ängste geschürt werden, ist keine besonders neue und aufregende Erkenntnis. »Angstpolitik« gehört zum politischen Handwerkszeug, um Macht zu erlangen und Herrschaft zu festigen. Man findet dazu bereits Ende des 19. Jahrhunderts immer noch Erhellendes bei Gustave Le Bon und in zahlreichen späteren Werken, die sich mit der Verwandlung von individuellen Angstneurosen in ein Massenphänomen befassen – bis hin zur »German Angst«.

Ängste bekommen hohe Erklärungskraft für soziales Verhalten

Hier soll indes die Frage im Mittelpunkt stehen, wie verbreitet die »Realangst« in der Gesellschaft tatsächlich ist. Gemäß der These, das Angst-Machen sei zu einem zentralen gesellschaftlichen Integrationsmechanismus geworden, müssten sich nicht nur theoretische Überlegungen, sondern auch empirische Befunde für eine Ausbreitung von Ängsten finden lassen.

Ängste in verschiedener Gestalt bekommen hohe Erklärungskraft für soziales Verhalten und Handeln von Individuen und sozialen Kollektiven. Sigrid Betzelt und Ingo Bode argumentierten in einem Papier für die Friedrich-Ebert-Stiftung, dass »der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte auf eine latente soziale Krise« hinweise, die »maßgeblich mit der Liberalisierung des deutschen Sozialmodells zusammenhängt. Diese provoziert Angstzustände, welche Anpassungsbereitschaften erzeugen, aber zugleich die soziale Integration strapazieren«.

Die Ängste, um die es hier geht, entstehen, wenn Individuen Bedrohungslagen nicht ausweichen können, wenn sie unerwünschten, gleichwohl unvermeidbaren Ereignissen gegenüberstehen und gleichzeitig die Handlungsumwelt schwer beherrschbar erscheint, wenn Anhaltspunkte für ein zielführendes Vorgehen fehlen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Betzelt und Bode weiter: »Wahrscheinlich sind dann (konformistische) Verhaltensanpassungen, die auf die Minimierung von Gefahren zielen. Wenn das Gefühl einer konkreten Bedrohung und die Wahrnehmung einer unbestimmbaren Zukunft zusammenkommen, kann dies in Passivität und Lethargie münden – aber auch in negative Emotionen gegenüber anderen.« Die von der AfD verbreiteten Angstszenarien verfangen, weil sie negative Emotionen aufgreifen, die wiederum aus einer bereits verunsicherten Gesellschaft kommen, auf die sie zurückwirken. Dass sozial oder kulturell gefärbte Ängste eine Rolle bei der Wahlentscheidung zugunsten einer nationalpopulistischen, rassistischen Partei spielen, lässt sich schwerlich in Abrede stellen, besagt aber wenig über ihr Ausmaß und ihre Entwicklung.

Der Soziologe Max Dehne hat in einer »Soziologie der Angst« die sozialstrukturellen und kulturellen Bedingungen von Angst sowie angstbezogener Mechanismen systematisch zu bestimmen versucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass »spätestens mit der Industrialisierung« »westliche Gesellschaften durch ein wachsendes und hohes Angstniveau gekennzeichnet« seien.

Wie kann die Verbreitung von Ängsten gemessen werden?

Bereits in den 1950er Jahren sei aufgrund von sozialem Wandel und neuen Bedrohungen wie der Atombombe von einem »Age of Anxiety« gesprochen worden, »und in den 1980er Jahren diagnostizierten Soziologen wie Ulrich Beck die ›Risikogesellschaft‹«. Früher wie heute würden als die drei Treiber für einen Angstanstieg genannt: erstens eine Vielzahl jeweils aktueller Bedrohungen (Klima, Arbeitslosigkeit, Terror, und so weiter); zweitens »Kontingenzangst« aufgrund von Unsicherheitsgefühlen, Unvorhersagbarkeit und Undurchschaubarkeit, verursacht etwa durch Individualisierungsprozesse, Globalisierung, Pluralisierung von Lebensformen und Normen oder durch denZerfall weltpolitischer Konstellationen; drittens die darauf aufbauende frei flottierende Angst, »das Leben gewissermaßen durch eine Angstbrille zu betrachten«, das Angst-Erleben. Letzteres kann auch als Brücke zur neurotischen Angst im Sinne Neumanns gelesen werden.

Wie aber kann die Verbreitung von Ängsten gemessen werden? Man kann mit der Tür ins Haus fallen und direkt nach Ängsten fragen. Doch Hand aufs Herz: Würden Sie in einem Telefoninterview offen über ihre persönlichen Ängste berichten? Die R+V-Versicherung lässt ihrer jährlichen Studie »Die Ängste der Deutschen« so fragen. Das allgemeine Angstniveau sei 2016 und 2017 jeweils gesunken. Die »Angst vor Terror« bleibt auf Platz 1, einen starken Anstieg erlebte die »Angst vor Schadstoffen in Nahrungsmitteln«. Die »Angst vor Überforderung von Behörden durch Flüchtlinge« rangiert gleich dahinter auf Platz 6, auf Platz 8 die »Angst vor der Überforderung der Politiker«.

»Angst« dient hier als verbales Passepartout für verschiedene Befindlichkeiten – Sorgen, Bedenken, Befürchtungen oder eben Angst – und Angst-Sorten: die Angst vor Höhe oder großen Menschenmassen, die Platzangst, die Angst, beim Joggen auf einen Rottweiler zu treffen, die Angst vor Arbeitsplatzverlust oder die Angst, allein zu bleiben oder von anderen nicht geschätzt zu werden.

Andere Forscherinnen und Forscher überlegen: Wonach müsste man fragen, um aus bestimmten Antworten auf Ängste zu schließen? Die Mutter solcher indirekten Fragen lautet: »Machen Sie sich Sorgen, dass Sie in absehbarer Zeit Ihren Arbeitsplatz verlieren?« Der Unterschied besteht vor allem darin, dass »sich Sorgen machen« eher wertneutral ist und »Ängste haben« einen zumindest nicht als furchtlos und stark erscheinen lässt. Bei den Ängsten werden daher eher die sozial anerkannten Ängste abgefragt, also Ängste, die man haben darf, ja fast schon haben muss wie gegenwärtig etwa die Angst vor einem Terroranschlag.

Allgemeiner Anstieg des Sorgen-Levels nicht erkennbar

Max Dehne hat sich die schmale empirische Basis für solche Langzeit-Sorgen-Trends angeschaut und festgestellt, dass die Themen, um die man sich sorgt, wie Arbeitslosigkeit, Klima, Frieden, Ausländer, Gesundheit, im Zeitverlauf sehr stark schwanken, aber ein allgemeiner Anstieg des Sorgen-Levels nicht erkennbar sei. »Vielmehr scheint das Ausmaß weitgehend von der aktuellen politischen und ökonomischen gesellschaftlichen Situation und Themenkonjunkturen zu abzuhängen.« Auch die »Kontingenzangst« habe seit den 1980er Jahren nicht zugenommen. Und schließlich: »Im europäischen Vergleich liegen die Deutschen allerdings, wenn man nach der Häufigkeit des Angsterlebens fragt, an vorletzter Stelle, nur in Norwegen ist der Wert noch niedriger.«

Der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld hat sich angeschaut, wie sich im Sozioökonomischen Panel (SOEP), in dem jährlich dieselben Tausende von repräsentativ ausgewählten Personen befragt werden, die »Sorgen um den Arbeitsplatz« entwickelt haben, weil Abstiegsangst zu weiten Teilen auf die (vermutete) »Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes zurückgeht«.

Da der Anteil derjenigen, die sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz machten, 2016 so niedrig war wie seit 1991 nicht mehr, folgerte er: »Abstiegsangst der Deutschen so gering wie noch nie seit der Wiedervereinigung.« Das treffe für Frauen und Männer, verschiedene Altersgruppen und soziale Schichten in nahezu gleicher Weise zu. Also: »Das mentale Sicherheitsgefühl nahm, trotz objektiv weiter existierender Erwerbsrisiken und Ungleichheiten, bei allen Erwerbstätigen zu.«

Bettina Kohlrausch widersprach in der Studie »Soziale Abstiegsängste in Deutschland« für die Hans-Böckler-Stiftung, die auf einer breiten empirischen Befragung (5.000 Wahlberechtigte) zur sozialen Lebenslage basiert. Viele Personen, so Kohlrausch, fürchteten um ihren sozialen Status, obwohl sie ihren Arbeitsplatz für ungefährdet hielten. Abstiegsängste würden mehrere Sorge-Dimensionen umfassen, die Arbeitsplatzsituation, die eigene finanzielle Situation, die finanzielle Situation im Alter, die Sorge, den Lebensstandard nicht dauerhaft halten zu können.

Soziale Abstiegsangst habe nicht zwangsläufig einen materiell fassbaren Hintergrund. »Abstiegsängste speisen sich somit auch aus dem Gefühl, den Unsicherheiten, die gesellschaftliche Veränderungen wie Digitalisierung oder Globalisierung mit sich bringen, ausgeliefert zu sein. Sie sind nicht zuletzt Ausdruck des Gefühls, die Kontrolle über die Gestaltung des eigenen Lebens verloren zu haben.« Soziale Verunsicherung lasse sich in den unteren Einkommensschichten stärker mit einer schwierigen materiellen Situation erklären. In den mittleren und höheren Einkommensgruppen sei die Statusangst verbreiteter: Sorge etwa um die berufliche Position, um das Ansehen der sozialen Stellung; aber auch Sorge vor Entwertung von vermeintlichen Männerdomänen durch den Einzug von Frauen. Mangels entsprechender Zeitreihen kann die Studie keine Auskünfte darüber geben, welche »Sorgen« in welchen Schichten sich wie im Zeitverlauf verändert haben.

Es fehlt offensichtlich an wissenschaftlichen Standards

Es fehlt erstens offensichtlich an wissenschaftlichen Standards, wie (Real-)Angst zu fassen und zu messen wäre. Es gibt zweitens eine methodologische Blackbox, in der die Forschenden aus der Bekundung, Sorge um etwas zu haben, die Aussage fabriziert, dass es sich bei den Sorgen um Ängste, zumal Abstiegsängste handelt.

Aber wer sich Sorgen um etwas macht, ist eben (noch) nicht von (lähmender) Angst befallen oder handelt angstgetrieben. Verlässliche, allgemein akzeptierte Aussagen über die Verbreitung und Zu- oder Abnahme von Ängsten in der Gesellschaft sind drittens auch nicht vorhanden. Folgerichtig heißt es im gerade erschienenen Sammelband »Angst im neuen Wohlfahrtsstaat« auch: »ein diffuses Phänomen«. Letztlich bleibt die Frage, ob angesichts der empirischen Sachlage die soziologischen Gesellschaftsdeutungen unter dem Begriff der Angst nicht selbst dazu beitragen, diese als sozialen Tatbestand zu verstärken.

Selbstverständlich lassen sich Quellen moderner Ängste in den gesellschaftlichen Verhältnissen finden. Das Kapitalverhältnis beruht erstens auf der existenziellen Abhängigkeit vom geglückten Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Es treibt zweitens immer wieder Entfremdungprozesse an. Und geglückte Akkumulation erfordert, dass nichts bleiben darf, wie es ist, steter Wandel also oder Krise als Lebensform. Angst und Kapitalismus stehen in einer symbiotischen Beziehung.

Wohlfahrtsstaatliche Sicherungsmaßnahmen können Existenzsorgen mildern, aber nicht das Gefühl der herrschaftlichen Abhängigkeit – vom Lohn oder Sozialtransfer – beseitigen. Die Quellen, aus denen der politische Rohstoff »Angst« gewonnen werden kann, bleiben offen.

Ängste erzeugen eine eigene Wirklichkeit

Im politischen Feld können Ängste nicht als irrational abgetan werden. Ängste zu ignorieren oder lächerlich zu machen, wäre ein schwerer politischer Fehler. Sie erzeugen eine eigene Wirklichkeit, und Wahrnehmungen sind die einzige Realität, die in demokratischer Politik zählt.

In der politischen Debatte kann man sich auf seine Ängste berufen. Weil das Irrationale sich jeglicher Begründung und rationalen Argumentation entzieht, endet jegliche Diskussion. »Angst« dient als pathologischer Begriff, etwa wie »Platzangst«, die man eben hat und bestenfalls durch langwieriges Training loswird. Gleichzeitig wird eine Position der Schwäche eingenommen, Rücksichtnahme gefordert, Hilfs- und Schutzbedürftigkeit signalisiert – und zugleich unter Berufung auf das Irrationale eine mögliche emotionale oder aggressive Handlung vorweg entschuldigt.

Die Anrufung von Ängsten – vor Terror, vor Kriminalität, vor Unsicherheit – baut die Brücke im Neumann‘schen Sinn zur neurotischen und Massenangst und signalisiert den Ängstlichen, dass es einer schützenden Autorität bedarf, die dann bald auch bereitsteht, wovon wir noch ordentlich entfernt sind. Angstpolitik fördert jedoch grundsätzlich rechte und autoritäre Lösungen. Angst verlangt nach Abhilfe durch eine durchsetzungsfähige Führung, nach Symbolhandlungen, nach Maßnahmen, die sich am Zweck, nicht an rechtsstaatlichen Normen ausrichten, nach Herrschaft und Kontrolle statt Freiheits- und Bürgerrechten.

Worauf linksdemokratische Politik setzen sollte

All die sozialen Phänomene wie Existenzsorgen, Deklassierung, Vertrauens- und Kontrollverluste sind nicht in Abrede zu stellen. Doch kann es für linksdemokratische Politik nicht zielführend sein, die gesellschaftliche Mannigfaltigkeit unter Begriffe wie »soziale Abstiegsängste« zu subsumieren, die drohende Verluste thematisieren, oder sich mit Analysen zufriedenzugeben, wonach soziale oder kulturelle Abstiegsängste Wählerinnen und vor allem Wähler zur AfD getrieben hätten.

Was als soziologischer oder sozialpsychologischer Befund durchgeht, taugt aber nicht für die politische Auseinandersetzung. Erstens werden damit unterschiedliche Motivlagen unnötig homogenisiert und der Blick auf reale Gründe verstellt. Zweitens wird die Wahl entschuldigt, da statt rational interessengeleitet irrational von Angst getrieben entschieden wurde, was zugleich der Selbstberuhigung dient, da man ja nur die Gründe für die Ängste aus der Welt schaffen müsse, was wiederum unterstellt, dass ein Übergang von der »Realangst« zur »Angstneurose« nicht stattfinden wird. Wem unterstellt wird, von Angst getrieben zu sein, dem wird drittens im politischen Diskurs ein Platz auf Augenhöhe verwehrt. Und viertens die alltagssprachlichen Schwingungen: Wer behauptet, andere handelten aus Angst, läuft akute Gefahr, dass verstanden wird, der hält uns für Angsthasen.

Tatsächlich wird manche Quelle »sozialer Abstiegsangst« von linker Politik nicht verschlossen werden können, etwa das Schleifen von Männlichkeitsdomänen oder die abnehmende Bedeutung von Lebensführungsmodellen der Industriegesellschaft. Linksdemokratische Politik wird darauf setzen, durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen damit verbundene Ängste einzuhegen, aber sie wird niemals in fordistische Verhältnisse zurückwollen können. Sie wird nicht auf Mehrheiten der Ängstlichen setzen können, sondern auf Mehrheiten derjenigen, die die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft hochhalten.

Geschrieben von:

Horst Kahrs

Sozialwissenschaftler, Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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